Sonntag, 05. Mai 2024

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''Sanatorium zur Todesanzeige''

Am Ende, wenn die verlorene Welt des Bruno Schulz noch einmal gerettet und für eine Stunde Woron-Theater als Pandämonium eines vergangenen jüdischen Ideenreiches auferstanden ist, hebt sich, zur lauten Paradenmusik des Janusz Stoklosa, ein grauer Düsenjäger langsam zum Bühnenhimmel, einer, der geradewegs den bleischweren Flugzeugen aus der berühmten Installation des Anselm Kiefer nachgebildet ist. Andrej Woron zeigt eine deutliche Referenz, ein klares Zeichen der künstlerischen Selbstverständigung. Mehr als in allen seinen bisherigen Arbeiten hat der polnische Regisseur diesmal nicht nur seine unverwechselbare Welt auf die Bühne gebracht, sondern seine Seelenverwandtschaften über jene, die er immer schon zu den Autoren der literarischen Vorlagen hatte hinaus, zu anderen interpretierenden Künstlern vorgeführt, den Meistern von Bildern und Metaphern, skurriler Wiederauferstehungen und Bezwingern des namenlosen Todes. So finden sich deutliche Zitate zu Tadeusz Kantors und dessen "Die tote Klasse " von 1975, in dem sich die Arbeit von dessen Kraukauer Teatr Cricot 2 quasi idealtypisch zeigte, als ein ritualhaftes Restleben von verkümmerten Kreaturen, die man kaum noch von Mannequins, von Puppen unterscheiden konnte. "Die tote Klasse" entsteht in Worons "Sanatorium zur Todesanzeige" neu, und zwar nicht nur, weil sich Kantor ebenfalls auf dieselbe literarische Vorlage bezogen hatte. Durch eine Tür in der maroden, teilweise gekachelten Wand, die die Hinterbühne von dem eigentlichen Spielraum abtrennt, werden die schweren Schulbänke auf die Bühne geschleppt und geradewegs in denselben Reihen vor dem Publikum aufgebaut, wie einst in Kantors legendärer Arbeit. Wo aber dessen abgelebte Wesen, die sich die Schulbänke mit Puppen teilen, mit dem leblosen Double, dem puren Bild, schon als Angehörige des Totenreiches erscheinen, erweckt Woron sie aus der falschen Vergessenheit zu einem immerhin im Reich der grellen Bilder virulenten Leben. Und das ist seit vielen Jahren Worons Bilderarbeit: Dem Tod durch den Massenmord der Nazis am osteuropäischen Judentum immerhin ein paar kulturelle Zeichen entreißen, ein paar Bilder, mit deren Hilfe sich das Erinnern auf den Weg zurück in eine verlorene Welt machen kann. Zwischen den "Zimtläden" und dem "Sanatorium zur Todesanzeige" lagen für Woron zwölf, für Bruno Schulz drei Jahre; 1937 erschien letzteres, das sich ebenso wie die Zimtläden als ein Zyklus von Geschichten darstellt, die autobiographischen Charakter besitzen und in dem sich Erinnerungen, Traum und Phantasie mischen. Das Motiv der Metamorphose durchzieht die Literatur des polnischen Avantgardisten und dies ist einer der Gründe für die stilistische Nähe zu Kafka, die man in Bezug auf Schulz hergestellt hat und z.B. zu dessen "Prozess", den Andrej Woron 1993 unter dem Titel "K" auf seine kleine Bühne brachte. Dies war auch die erste Arbeit, in dem Worons Bildertheater erstmalig mit dem gesprochenen Wort umging und dabei ähnlich schmerzvolle Erfahrungen machte, wie einst das Kino nach Einführung des Tonfilms. Mittlerweile hat Woron das problematische, weil der grellen Momentaufnahme, dem Photografischen Wesensfremde des Wortes bezwungen. Die wenigen Kernsätze poltern aus den Mündern wie abgeschabte Durchsagen, wirken programmatisch, genau so künstlich hergestellt wie die nach wie vor berauschenden Bilder. Wiederum im Spiel mit primitiv wirkenden Gestellen, Resten von Puppen, Verschlägen, Kurbeln, Podesten entsteht die Welt des Bruno, der sich in den von Phantastik durchsetzten und verlorenen Zauber seiner Kindheit zurückversetzt. Janusz Stoklosas Musik begleitet dies repetitiv zunächst mit den etwa vier ersten Takten eines Tangos. Choreographierte Gruppenbilder sind mit Passagen verschnitten, in denen einzelne Gestalten vorgestellt werden und eine Unzahl verrückter Maschinen. Worons skulpturaler und szenischer Ideenreichtum scheint unerschöpflich: Mal freut man sich über eine Puppe, deren Hinschale aufgeklappt wird, damit man aus dessen Kopf Kugeln zusammengeknüllten Papiers nehmen kann, das man begeisterten Lernbegierigen zuwirft, mal lodern überraschend Flammen aus einer Brieftasche, mal rückt eine Feuerwehr aus, wie eine lärmende und nutzlose Höllenmaschine. Deren Hauptmann ist wieder einmal Brunos Vater Jakub, der als Hauptfigur diverser phantasierter Szenen auftaucht, eine Figur, die die Realität längst hinter sich gelassen hat und als übermächtige Vaterfigur zum Hauptdarsteller literarischer Szenenanordnungen geworden ist. Er ist im Schulz-Woronschen Sinne auf einem Nebengleis des Seins, Teil einer "illegalen" Parallelzeit, die sich von der offiziellen, belegten Historie abgekoppelt hat. Er ist auch ein Demiurg, ein Schamane, ein Dädalus, einer der fliegen kann, mit der Gefahr gelegentlicher Abstürze. Wenn also, am Ende, Vater und Sohn, auf Kiefer-Worons bleiernem Düsenjäger sitzend, vom Bühnenboden abheben, dann hat auch Worons Klapperkisten-Theater bewiesen, dass kein Gewicht der wirklichen Welt es daran hindern kann, ins Unsichtbare und Unbekannte aufzubrechen und im Publikum bleibt die Sorge zurück, dass diese bilanzierende, die Schulzwelt nach einmal resümierende Arbeit vielleicht wirklich Worons letzte Realisation mit dem Kreaturentheater gewesen sein könnte.

Eberhard Spreng berichtet | 27.02.2003
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