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Beitrittsverhandlungen
Ist die Türkei bereit für die EU-Familie?

Die EU öffnet heute ein neues Kapitel in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Darin soll es um Wirtschaft und Finanzen gehen. Als Schlüsselland in der Flüchtlingskrise führt aus Sicht vieler hochrangiger EU-Politiker kein Weg mehr an der Türkei vorbei. Doch einige Mitgliedsstaaten wollen den Beitritt nicht. Kritik kommt auch aus Deutschland.

Von Karin Bensch | 14.12.2015
    Syrische Flüchtlinge in der Türkei (2.12.2015).
    Die Türkei ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. (dpa / picture-alliance / Emin Menguarslan)
    Im dicken Beitrittsbuch wird ein neues Kapitel aufgeschlagen: Es ist das fünfzehnte von insgesamt 35 Kapiteln. Und es geht um Wirtschaft und Finanzen. Unverfängliche, aber bedeutende Themen, die bewusst gewählt wurden, um einen sanften Wiedereinstieg in die Beitrittsverhandlungen zu schaffen, meint die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer. Doch was wird im neuen Kapitel "Wirtschafts- und Währungspolitik" eigentlich genau verhandelt?
    "Es geht ganz wesentlich um die Unabhängigkeit der Zentralbank. Und um realistische Wirtschaftsprognosen. Die Prognosen, die die Türkei im Verlauf des vergangenen Jahres herausgegeben hat, sind zum Beispiel wenig glaubwürdig. Und von Wirtschaftsprognosen hängen natürlich auch immer ausländische Investitionen in einem Land ab."
    Dynamisches Wirtschaftswachstum in der Türkei
    Das Wirtschaftswachstum in der Türkei ist sehr dynamisch. In den vergangenen zehn Jahren lag es im Durchschnitt bei 4,7 Prozent. Mittlerweile liegt es unter drei Prozent. Europäische Unternehmen sind an Reformen in der türkischen Wirtschaftsgesetzgebung interessiert, weil sie Rechtssicherheit bei Investitionen brauchen, sagen EU-Diplomaten. Je schneller sich die türkische Wirtschaft modernisiere, desto besser für die EU.
    "Ich halte die Öffnung eines neuen Kapitels für verlogen," kritisiert die SPD-Europaabgeordnete Brigit Sippel.
    "Der Türkei geht es darum, außenpolitisch und nach innen zu demonstrieren, wir sind ja die Guten. Trotz aller Kritik, die man derzeit an der Politik in der Türkei haben kann."
    Schlüsselland in der Flüchtlingskrise
    Die türkische Regierung unter Präsidenten Erdogan schränkt die Presse- und Meinungsfreiheit ein. Sie greift immer wieder in die Unabhängigkeit von Polizei und Justiz ein. Und: Seit Langem wird dort die kurdische Minderheit unterdrückt. Dennoch sagte der türkische Ministerpräsident Davutoglu in Brüssel selbstbewusst.
    "Wir sind eine europäische Nation. Wir möchten Mitglied der europäischen Familie sein."
    Doch einige Mitgliedsstaaten, wie Frankreich und Zypern, möchten die Türkei nicht in der EU-Familie haben, sagen EU-Diplomaten. Auch in Deutschland gibt es Vorbehalte. Auch, wenn Bundeskanzlerin Merkel sich zurückhält und die Bezeichnung "privilegierte Partnerschaft" schon lange nicht mehr in den Mund genommen hat. Die Türkei hat einen Trumpf in der Hand: Sie ist das Schlüsselland in der Flüchtlingskrise. Denn über die Türkei strömen Menschen aus Syrien und dem Irak, weiter über die Balkanroute nach Westeuropa. Kapiteleröffnung gegen Kooperation in Flüchtlingskrise?
    Schwierige Kapitel stehen bevor
    "Es liegt nur an der Flüchtlingssituation. Die Türkei hat uns damit unter Druck gesetzt," meint die CDU-Europaabgeordnete Renate Sommer. Zehn Jahre lang dauern nun schon die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei. In den vergangenen Jahren kamen sie kaum voran, weil die Türkei viele europäische Vorgaben nicht in ihrem Land umsetzen wollte. Die SPD-Europaabgeordnete Birgit Sippel kritisiert, dass nun auf einmal über zu viele Dinge verhandeln wird.
    "Also die Türkei soll Geld bekommen. Es ist die Rede von Visa-Erleichterungen. Und ein neues Kapitel wird eröffnet. Und leider nicht das Justizkapitel, sondern ein wirtschaftliches."
    Die EU-Kommission treibt die Verhandlungen über einen EU-Beitritt der Türkei voran. Kommissionschef Juncker hat der türkischen Regierung zugesichert, dass Anfang nächsten Jahres fünf weitere Kapitel eröffnet werden. Dabei soll es um Energie, Bildung und Kultur, aber auch um Außen- und Verteidigungspolitik, Justiz und grundlegende Rechte. Schwierige Kapitel, an denen sich zeigen wird, ob die Türkei tatsächlich bereit ist für die europäische Familie oder nicht.