Mittwoch, 08. Mai 2024

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Engel Gaddafi

Über Berlin wurden zuletzt noch welche gesichtet, allerdings nur im Film. Das war kurz vor dem Mauerfall. Seitdem ist es in unseren Bezirken um die Engel ziemlich still geworden. Vielleicht haben sie als Schutzbeauftragte angesichts der ständig wachsenden Gefahren derzeit zu viel zu tun, vielleicht werden sie auch langsam des ständigen Intervenierens müde und überdrüssig. Wir wissen es nicht. Wir wissen überhaupt sehr wenig über die himmlische Organisation; die einschlägigen Bemühungen des vierten Laterankonzils um Erforschung von Hierarchie und Zuständigkeiten innerhalb der Engelschar sind auch schon 789 Jahre her.

Von Burkhard Müller-Ullrich | 28.04.2004
    Um so größer ist das Erstaunen, wenn ein paar Engel plötzlich in der Tagespolitik auftauchen. Heute kann man sie in der Weltpresse betrachten. Fast jede Zeitung zeigt das Photo zweier Seraphim, die in Romano Prodis Brüsseler Büro zuhause sind. Es handelt sich um ein Ölgemälde von Carlo Maratta aus dem Jahr 1607 – eine Leihgabe aus Prodis Heimat. Doch auf dem Bild vom Bild ist noch jemand zu sehen, und eigentlich ist das der Grund, weshalb wir uns auf das intellektuell extrem heikle und anstrengende theologisch-mythologische Gebiet der Engelbetrachtung vorwagen. Vor den rosig-feisten Patschebackengesichtern der geflügelten Gottesboten erkennen wir nämlich das geradezu griechisch-klassische, aufregend hart-weiche Profil des libyschen Staatspräsidenten Gaddafi.

    Durch seine langjährige Betätigung als Engelmacher steht er in einer spannungsvollen Beziehung nicht nur zu den Werten und Interessen der EU, sondern auch zu jenen Mächten, welche die Engel repräsentieren. Er schaut sie deshalb auch nicht an, sondern eilt mit gesenktem Blick an ihnen vorbei. Die Wolken, in denen sie schweben, hätten ihn sonst wohl an den PanAm Flug 103 erinnert, die Lockerheit ihrer Bewegung möglicherweise an die Berliner Diskothek "La Belle". Doch Racheengel scheint es in Brüssel nicht zu geben, wie überhaupt die Kategorien irdischer Gerechtigkeit dem Engelwesen eher fremd sind. Dies eben macht es ja so schwierig.

    Engel sind auf eine uns Menschen unbegreifliche Weise gut; sonst würden sie sich gar nicht um unseren Schutz bemühen. In ihrer Eigenschaft als Heilsbringer sind sie womöglich vor nicht allzu langer Zeit bei Gaddafi selbst vorstellig geworden; jedenfalls läßt sich der Umschwung seiner Politik kaum anders erklären. Das hat nicht einmal das amerikanische Bombergeschwader vermocht, das 1986 des Präsidenten Lager bombardierte, ihn knapp verfehlte, aber seine vierjährige Tochter tötete. Auch sie: ein Unschuldsengel, Opfer eines Kampfes zwischen Licht und Finsternis, in dem der Mensch meist nur Halbschatten sieht.

    Gaddafi ist ein spiritueller Mann; er weiß, daß Engel nicht nur im Christen- oder Judentum, sondern auch in seiner Religion eine wesentliche Rolle spielen. 19 Engel bewachen nach der Lehre des Islam die Hölle. Natürlich kann es kein Gutes in der Höhe geben ohne das Böse tief unten. Nicht von ungefähr kennt die biblische Überlieferung auch den gefallenen Engel Luzifer, den Fürsten der Dämonen, von dem im zweiten Petrusbrief die Rede ist. Er hatte sich von Gott abgewandt und wurde deswegen verstoßen. Ist das die Botschaft dieses Pressebilds?
    Der Teufel auf Besuch im Himmel?