Zwischen Stolz und Schande

15.03.2011
Ob beim Niedergang des Duells in England oder bei der Abschaffung der Sklaverei: Das Konzept der Ehre ist der heimliche Motor aller moralischen Revolutionen, lautet die These des Philosophen Kwame Anthony Appiah.
Kinderarbeit, Sklaverei, Steinigungen: Was bringt eine Gesellschaft dazu, solche menschenunwürdigen Praktiken abzuschaffen? Diese Frage steht im Zentrum des neuen Buches des amerikanisch-britisch-ghanaischen Philosophen Kwame Anthony Appiah "Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt". Ehre definiert Appiah als Wille, der Welt aufrecht ins Auge zu sehen und dabei auch gesehen zu werden. Wer auf seine Ehre achtet, möchte des Respekts der anderen würdig sein.

Dies verbindet der Denker mit der Einsicht, dass das Konzept der Ehre und die verschiedenen Auffassungen davon, was ehrenhaft sei, der heimliche Motor aller moralischen Revolutionen sind. Mit schlichter Eleganz, welche den Leser sachte und zwingend von Einsicht zu Einsicht führt, macht sich Appiah auf, den Zusammenhang zwischen Ehre und moralischen Revolutionen zu beleuchten. Unter einer moralischen Revolution versteht der Autor die Abschaffung gewisser, im Nachhinein als barbarisch empfundener sozialer Praktiken.

Die erste der vier Revolutionen, die er untersucht, betrifft den Niedergang des Duells im England des frühen 19. Jahrhunderts. Schon hier zeigt sich, dass moralische Revolutionen meist von einer veränderten Auffassung von Ehre getragen werden. Während es einst alleiniges Recht der Gentlemen war, Satisfaktion zu fordern, wurde durch die "Demokratisierung" des Duells das Ganze zu einer eher lächerlichen Angelegenheit, eines Gentlemans nun unwürdig.

Die zweite Revolution betrifft das "Füßebinden" in China: Frauen aus der Oberschicht verkrüppelten ihre Zehen und Riste, um winzige Trippelfüßchen zu bekommen. Als China im späten 19. Jahrhundert seinen Platz als "Nation unter Nationen" einnehmen musste, war es ein von christlichen Missionaren und aufgeklärten Chinesen betriebener Meinungsumschwung, der diese grausame Tradition plötzlich als nationalen Schandfleck erscheinen ließ. Die "Goldlotusse" verschwanden innerhalb einer Generation.

Die Abschaffung der atlantischen Sklaverei hingegen wurde nicht nur von einem Gefühl nationaler Schande und internationaler Brüderlichkeit getragen, sondern ebenso von dem selbstbewussten Stolz der entstehenden Arbeiterklassen - denn was ist Arbeit wert, wenn nur Sklaven sie verrichten dürfen?

Die vierte moralische Revolution hat noch nicht stattgefunden. Sie betrifft die Ehrenmorde innerhalb der paschtunischen Bevölkerung Pakistans. Hier entfaltet sich die große Meisterschaft von Appiahs ebenso sorgfältig recherchierten wie glänzend geschriebenen historischen Szenarien. Zum einen macht er deutlich, dass Ehrenmorde dem Ansehen der Nation im Ausland schaden, so wie das Füßebinden den Chinesen schadete.

Zum anderen stellt er klar, dass Ehrenmorde keine islamische Tradition darstellen, die keinesfalls durch die durchaus humanistischen religiösen Originaltexte zu rechtfertigen wäre. Drittens weist er darauf hin, dass es nötig werden wird, die Ehre einer Frau anderes zu definieren - von der stets schuldigen Verführerin hin zu einem wertvollen Mitglied der Familie und der Nation als Ganzer.
Appiah hat ein großes und wichtiges Buch geschrieben, das überzeugend beweist, dass Menschlichkeit etwas ist, das immer wieder errungen und verteidigt werden muss.

Besprochen von Ariadne von Schirach

Kwame Anthony Appiah: Eine Frage der Ehre oder Wie es zu moralischen Revolutionen kommt
Aus dem Englischen von Michael Bischoff
Beck Verlag, München 2011
270 Seiten, 24,95 Euro
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