Zwischen Schöngeist und Fanatiker

25.12.2007
"Das Mysterium" heißt ein neuer Roman von Titus Müller, der eine Frage literarisch ins 14. Jahrhundert zurückverlegt hat, die im Sport, in der Politik und in der Religion brandaktuell ist: Ab wann kippt der Wunsch des Menschen nach Vervollkommnung in einen menschenverachtenden Perfektionismus um?
"Die Hausdächer schnitten ein Stück Himmel aus. Nemo sah vom Hof hinauf. Der Wind bewegte den Rauch der Esse wie eine Fahne. Weit oben streckte sich ein Schwarm Wildgänse zu einem schwarzen Himmelsseil aus. Ballte sich, klumpte, dann wurde es wieder ein Faden, eine Kette einzelner Vögel. Über das Dach des Goldschmiedehauses hinweg verschwanden sie. Nemo bückte sich und schichtete Holzscheite in den Korb. Der Winter kündigte sich an."

Titus Müller: "Ich kämpfe eigentlich schon mein ganzes junges Leben lang damit, welche Ansprüche ich an mich selber habe, welche Ansprüche andere an mich haben und wann ich wirklich zufrieden sein kann mit dem, was ich tue oder bin. Und im Roman 'Das Mysterium' wollte ich das mal auf die Spitze treiben und schildern – oder auch selbst mal durchleben! - wie jemand versucht, perfekt zu sein und alles richtig zu machen. Und dann ganz grandios scheitert."

Moralisten und Ideologen scheitern oft. Zuerst an der Unvollkommenheit anderer Menschen. Dann an ihrer eigenen. Der Kommunismus zum Beispiel träumte den neuen Menschen in einer perfekten Sozialordnung - und versank in Staatsterror und Massenmord. Religiöse Sektenführer träumten die heile Welt der sündlos Reinen – und endeten in Doppelmoral und Repression. Das ist weder neu noch aufregend. Interessanter ist da schon, wie Staat und Kirche die Schwächen des unperfekten Menschen schützen, seine Fehlerhaftigkeit mittragen oder gar verzeihen. Ohne deshalb prinzipienlos zu werden.

Der junge Schriftsteller Titus Müller hat diese Frage ins mittelalterliche München verlegt, in die Jahre 1336 bis 1356. "Das Mysterium" heißt sein neuer Roman und - das gleich vorneweg - es ist sein dramaturgisch bisher bester, finde ich.

"'Ich staune, William', sagte der Inquisitor, 'dass Ihr einerseits die Kirche und uns, die Inquisition verdammt, andererseits aber bereit seid, uns den Ketzer Amiel von Ax auszuliefern.' Der Engländer nickte. 'Ihr fangt an, zu den guten Fragen vorzudringen, Vinzenz. Kann etwas, das böse ist, dem Guten dienen? Als Gott den Israeliten befahl, die Einwohner der Stadt Ai auszulöschen, hat er da etwas Böses befohlen, weil er doch selber gebot `Du sollst nicht töten?!` Gott kann nur befehlen kann, was er auch wollen kann. Gott kann aber das Böse nicht wollen, wenn er durch und durch gut ist."

Der ketzerische Franziskaner-Theologe und Philosoph William Ockham aus England wird zur Zeit des Romans seit 20 Jahren von Bayernkönig Ludwig IV beherbergt und als Berater geschätzt. Ludwig ist nämlich auch vom Papst exkommuniziert worden. Gleichzeitig verfolgen die königlichen Schergen aber den nach München geflohenen letzten Ketzer von Carcassone, den trickreichen Amiel von Ax aus Südfrankreich. Und so kämpfen an der Isar gleich drei kirchlich unbotmäßige Kräfte mit- und gegeneinander: Die politische Macht, die rationale Wissenschaft und die abergläubische Volksreligiosität.

Hauptfigur der bestechend detailgenau recherchierten Erzählung ist Nemo. Der "Namenlose". Ein vor der Klostertür abgelegtes ehemaliges Findelkind, das auf der Suche nach seiner Identität nur als verschlagener Hochstapler überleben kann. Nemos spannendes Rollenspiel am Kaiserhof, im rhetorischen Duell mit William Ockham und als Kammerdiener des mörderischen Sektenführers Amiel treibt die Handlung des Buches voran. Von der bloßen Münchner Milieustudie über den Entwicklungsroman bis zum Thriller.

Titus Müller: "Ich glaube, in dieser Geschichte ist die Vergebung für den Täter wichtiger als für das Opfer. Die Opfer nehmen das Grausame, was ihnen angetan wird, beinah besser hin als der Täter mit seinem Tun zurechtkommt. Und dadurch, dass ihm vergeben wird, schafft er es zu lernen, was Liebe bedeutet und was Menschsein eigentlich bedeutet."

Titus Müllers Romane werden von großen deutschen Tageszeitungen inzwischen mit Noah Gordons "Medicus" oder Rebecca Gables Büchern verglichen. In "Das Mysterium" – der Begriff kommt auf 469 Seiten nur ein einziges Mal vor – ist Oberschurke Amiel allzu lange immer nur schurkisch und die zart-naive Adeline immer nur ehrlich hilfsbedürftig, aber: Die stets schillernd zwielichtige Hauptfigur Nemo und der oft im Originalton seiner philosophischen Schriften redende William Ockham machen solche Schwächen wett. Nicht ganz wettmachen können die brillanten Dialoge dieses Buches den Umstand, dass alle Handlungsstränge auf einen hochexplosiven Höhepunkt zusteuern, der dann erstaunlich milde ausfällt.

Das erzählerische Finale Furioso wurde offenbar einer Erkenntnis geopfert: Weil Erzfeinde durch ihren Hass einander immer ähnlicher werden, liegt das Geheimnis der Identitätsfindung in der Versöhnung.

Rezensiert von Andreas Malessa

Titus Müller: "Das Mysterium"
Historischer Roman
Rütten & Loenig / Aufbau-Verlag 2007
469 Seiten, 19,95 Euro