Zwischen Realismus und Groteske

Von Martin Burkert · 24.10.2009
Das Stück bietet augenzwinkernd Szenen aus dem deutschen Alltag. Der Name der Autorin Anna Behringer ist ein Pseudonym. Wer sich dahinter verbirgt, wurde vom Schauspielhaus Dortmund nicht verraten.
Mit Anna Behringer hat das Schauspiel Dortmund einer unbekannten Autorin zur Uraufführung ihres ersten Stückes verholfen. Der Name Anna Behringer ist ein Pseudonym. Wer sich dahinter verbirgt, wurde vom Theater nicht verraten. Die Autorin hat sich die Anonymität vertraglich absichern lassen. Im Foyer wurde unter Fachkollegen spekuliert. Vielleicht verbirgt sich dahinter die Regisseurin Thirza Bruncken, vielleicht auch eine bekannte Prosaautorin oder Journalistin, die die Wirkung des Stückes nicht von ihrem Namen abhängig machen will.

"Aufzeichnungen aus einer Doppelhaushälfte" erzählt, wie der Titel schon vermuten lässt, keine geschlossene Geschichte. Es bietet eine lose zusammenhängende Episodenfolge aus insgesamt 37 Teilen, die ganz unterschiedliche Seiten der Gesellschaft beleuchten.

Zum einen gibt es Szenen über kleinkariertes, hysterisches Gezänk des Alltags. So beklagt sich etwa ein Mann bei seiner Nachbarin, dass sie Bäume zu nah an seinen Zaun gepflanzt hat. Er droht mit Klage und bittet dafür um Verständnis. Wenn er nämlich sieben Jahre die Bäume dulde, könne er juristisch nichts mehr unternehmen.

Zum anderen finden sich tragische Schicksale, verbunden mit ernsten sozialen Konflikten. Ein Mann eröffnet seiner Frau, dass er sich umbringen wird. Er ist arbeitslos und habe auch sonst kein Glück gehabt. Ein Junge, vermutlich der Sohn dieses Selbstmörders, wird vom Jugendamt ins Heim gesteckt, weil er dauernd Wildsäue malt, nicht weiß, was er gerne isst und von seiner Mutter angeblich schmutzig und ohne Mütze in den Kindergarten geschickt wird. Die Sozialarbeiterin tut das aus Angst, dass sie von ihrem Vorgesetzten und den Medien für verkommene Kinder, Kriminalität oder gar Amokläufe verantwortlich gemacht werden könnte.

Des Weiteren werden satirische Breitseiten auf den Kunstbetrieb abgeschossen. Wir erleben einen überkandidelten Regisseur, der sich im Gespräch mit einem Journalisten zum Intelligenzbolzen, Sexsymbol und einzig legitimen Nachfolger von Wagner stilisiert. Mit eitlem Getue erläutert er, dass er die Inszenierung des ganzen Rings mit riesiger Ausstattung abgelehnt habe, um sich auf seine Filmarbeit zu konzentrieren. Wagner, so behauptet er, wäre heute Filmemacher. Die Oper sei elitär, demokratisch nur der Film.
Das Stück wechselt zwischen Realismus und Groteske, sozialer Betroffenheit und Kritik an einer gesellschaftlichen Panik vor der Finanzkrise, dem sozialen Abstieg, der Einschränkung von Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Die Autorin beschreibt unser Volk als hysterisch und wenig gelassen. Manchmal trägt sie etwas dick auf, aber bedenkenswert sind ihre Beobachtungen allemal.

Die "Aufzeichnungen aus einer Doppelhaushälfte" werden von der Regisseurin Thirza Bruncken weit weg vom Naturalismus angesiedelt. Von Doppelhaus keine Spur. Gespielt wird auf einem grünen Hügel. Im Rückaushang sehen wir große südliche Bäume zwischen denen ein rötlicher Weg verläuft. In der Ferne sind eine Kutsche zu erkennen und eine niedliche Stadt am Hang über dem Meer. Diese italienisch-romantische Landschaft führt weg von der tristen Realität zu den inneren Träumen nach einer heilen Welt. Im Einheitsbühnenbild tragen die drei Herren des Ensembles feinen Zwirn und die beiden Damen Petticoat-ausladende Abendkleider. Sie sitzen auf aufblasbaren durchsichtigen Sesseln, mit denen sie viel wippen und die sie problemlos ständig neu gruppieren können.

Durch dieses ironisch feierliche Arrangement werden die oft banalen Dialoge in eine surreale, traumhafte Ebene gehoben, vergrößert und verfremdet. Als Botschaft steckt dahinter: Die realistischen, oft spießigen und kleinkrämerischen Konflikte und Dialoge tragen absurde Züge und Aspekte. Das sozialkritische Potenzial des Stückes rückt in den Hintergrund, bleibt aber doch präsent. Das liegt vor allem an den Schauspielern. Sie zeigen viel Spiellaune und bringen die Texte mit larmoyantem Humor, augenzwinkerndem Blick ins Publikum und viel Mut über die Rampe. So erleben diese "Aufzeichnungen aus einer Doppelhaushälfte" in Dortmund eine ausgezeichnete Premiere.