Zwischen Pranger und Aufklärung

Johannes Weberling im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 17.03.2009
Unter dem Motto "Verantwortliche beim Namen nennen - Täter haben ein Gesicht" hat die FU Berlin heute zu einem Symposium eingeladen. Es ginge bei der Nennung der richtigen Namen ehemaliger Stasi-Mitarbeiter nicht darum, Rache zu üben, sondern die Mechanismen des DDR-Staates zu verstehen, erklärte der Mitorganisator und Anwalt Johannes Weberling.
Klaus Pokatzky: Der Medienrechtler Johannes Weberling hat für heute Nachmittag zu einem Symposium an der Freien Universität Berlin eingeladen hat. Das Motto lautet: Verantwortliche beim Namen nennen. Täter haben ein Gesicht. Warum das noch Jahrzehnte nach den Taten, Johannes Weberling? Klingt das nicht nach Rache?

Johannes Weberling: Nach Rache mit Sicherheit nicht. Es geht ja auch nicht darum, Rache zu üben, sondern es geht letztendlich darum, die Mechanismen des Unrechtssystems der DDR, des SED-Staates zu verstehen lernen, die Akteure zu verstehen lernen, damit sich diese Dinge nicht wiederholen. Das ist eines der ganz wesentlichen Eckpunkte des Erbes der friedlichen Revolution der DDR.

Pokatzky: Und Sie meinen, da muss man den vollen Namen nennen, da würde es nicht ausreichen, den Nachnamen abzukürzen?

Weberling: Ob ich nun beispielsweise beim Lebensgefährten von Frau Berben sage, es ist der derzeitige Lebensgeführte von Frau Berben oder ihn abkürze, jeder weiß, wer gemeint ist. Also von daher gesehen ist es relativ egal, es geht ja um die Identifizierbarkeit. Das ist das eine. Das Zweite ist aber: Um einen Menschen als Rädchen in so einem Unrechtssystem verstehen zu können, müssen sie ihn personalisieren, Sie müssen ihn in seiner sozialen Biografie, in seinem Umfeld entsprechend beschreiben. Das ist das eine. Das Zweite ist, und das halte ich für ganz entscheidend: Wenn Sie anonymisiert berichten, sagen Sie beispielsweise, ein Führungsmitglied von Gazprom Germania, das ist eine Entscheidung des Landgerichts Köln, dann diskreditieren Sie damit alle Führungskräfte von Gazprom Germania. Sie müssen also schon benamen, wer ist es denn gewesen. Und dieses muss ein Stasi-Täter von früher heute hinnehmen.

Pokatzky: Auch wenn er, sagen wir mal, inzwischen sich zurückgezogen hat in irgendein kleines sachsen-anhaltinisches Dorf oder brandenburgisches Dorf, inzwischen 70 ist und nur noch in seinem Schrebergarten lebt?

Weberling: Das kommt natürlich darauf an. Es ist nicht so, dass generell die Namensnennung zulässig ist. Wenn jemand sich wirklich privat zurückgezogen hat, wenn jemand wirklich ein kleines Licht gewesen ist, dann mag es Gründe geben, seinen Namen heute nicht mehr zu nennen. Das ist das eine. Das Zweite ist aber: Wenn sich jemand – und das sind die Fälle, um die es heute geht –, wenn jemand sich in die Öffentlichkeit begibt, in welcher Form auch immer, dann hat er nicht den Anspruch darauf – und das ist vom Bundesgerichtshof mehrfach entschieden worden –, so gesehen zu werden, wie er gerne möchte, sondern dann möchte man alle Seiten von ihm kennenlernen, auch seine grauen oder Schattenseiten.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Berliner Medienrechtler Johannes Weberling über die zivilrechtliche Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit. Herr Weberling, fast 200.000 der 16 Millionen DDR-Bürger sollen ja für die Staatssicherheit gespitzelt haben, das wäre jeder 80. gewesen, und wenn man Kinder und die jungen Jugendlichen abrechnet, fast jeder 50. Wie viele sind denn jetzt von dem betroffen, worüber wir reden, wo es also inzwischen schon Urteile in den unteren Instanzen gibt, dass Namen nicht mehr genannt werden dürfen, also wie viele Täter, in Anführungsstrichen, und Opfer haben wir, über die wir hier reden?

Weberling: Also über die Zahl der Täter und der Opfer gibt es letztendlich keine genauen statistischen Werte. Es gibt aber eine Tendenz, dass man ungefähr seit zwei, drei Jahren festmachen kann, dass Täter, und zwar Täter, die ihre Täterschaft gar nicht bestreiten, in die Öffentlichkeit gehen und vor Gericht gehen und sagen: Wir wollen nicht mehr als Täter identifizierend bezeichnet werden. Wir wollen mit der Vergangenheit in Ruhe gelassen werden. Wir wollen, dass Schluss ist mit der Vergangenheit. Das ist eine menschlich verständliche Vorgehensweise, nur damit letztendlich diskreditieren Sie die Opfer, die für die Freiheit in der DDR gekämpft haben, sie durchgesetzt haben, zum zweiten Mal.

Pokatzky: Aber das ist doch genau das, was das Lebach-Urteil im Grunde sagt. Beim Lebach-Urteil hatten wir Schwerstverbrecher, die Menschen umgebracht haben, vier Soldaten der Bundeswehr ermordet haben, die können sich also darauf berufen, wenn sie die Haftzeit abgesessen haben, meinetwegen sagen wir mal im Höchstfalle 15 Jahre, dass ihr Name dann nicht mehr genannt wird, damit sie sich in die Gesellschaft wieder eingliedern. Und jetzt reden wir über ehemalige – auch wenn sie sich jetzt dazu bekannt haben – Stasi-Täter. Haben die denn nicht nach 20 Jahren dann auch ein Recht, sich in die Gesellschaft zu integrieren?

Weberling: Sie sollen sich ja sogar in die Gesellschaft integrieren, hoffentlich dann auch aktive Bürger dieser Gesellschaft werden, die an der Gesellschaft mitarbeiten. Aber der Mensch hat eine unteilbare Geschichte. Und die unteilbare Geschichte heißt eben auch, dass wenn sich jemand – und das ist ja das entscheidende Kriterium – wenn sich jemand von sich aus freiwillig in die Öffentlichkeit begibt, dann hat er kein Recht darauf, so gesehen zu werden, wie er gerne möchte, dann muss man ihn sehen dürfen, so wie er komplett ist. Sonst ist der Mensch nicht vollständig. Ein Mensch ist nicht nur eine Lichtgestalt. Eine Mensch ist eben einer mit vielen Schattierungen und auch ein Täter ist mit vielen Schattierungen. Schauen Sie, der Unterschied zwischen dem Lebach-Urteil und den Stasi-Tätern ist ja, wenn jemand nach der gesellschaftlichen Definition seine Strafe verbüßt hat, dann hat er Anspruch darauf, wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Wir reden hier bei Stasi-Tätern nicht über Strafe, wir reden über eine moralische, über eine ethische Diskussion, über Wertung, und das ist etwas völlig anderes. Hier geht es nicht um Resozialisierung, sondern hier geht es um die Rolle, um die Taten eines Menschen, die nicht infrage stehen.

Pokatzky: Aber die nie verurteilt wurden.

Weberling: Sie müssen unterscheiden, denke ich, zwischen einer strafrechtlichen Seite, wo die Gesellschaft nach dem Strafgesetzbuch unseres Staates einen Strafanspruch hat, der dann verwirklicht wird, und jemandem, der Dinge gemacht hat, die moralisch verwerflich gewesen sind, ethisch diskreditiert sind usw., usw. Wenn jemand zu diesen Taten steht, wenn jemand sie erklärt, wenn jemand sagt: Leute, ich habe Mist gebaut, das ist eine dumme Sache gewesen -, und versucht es zu erklären, dann ist es doch in Ordnung. Das ist doch letztendlich, was die Basis für die Zukunft, für eine vernünftige objektive und aufrichtige Zusammenarbeit mit diesem Menschen wieder bietet. Wenn jemand aber sagt: Ich will darüber schweigen, ich möchte, dass die Vergangenheit in keiner Weise thematisiert wird zu meiner Person -, dann ist es ein Unding. Letztendlich hat jeder Mensch ein Recht darauf, dass man ihn mit seiner eigenen Würde behandelt. Aber er hat kein Recht darauf, dass man ihn so sieht, wie er sich selber gerne sehen möchte.

Pokatzky: Aber die unteren Gerichte, die bisher entschieden haben – und es gibt da ja einige Urteile, ein höchstrichterliches Urteil gibt es noch nicht –, haben ja dann gesagt, unter diesem Aspekt – Lebach, Schutz der persönlichen Integrität, Bemühung, sich einzugliedern –, gilt genau das, was für Verbrecher gegolten hat, für diese Menschen, die eben nicht verurteilt wurden. Also es hat in Zusammenhang mit dem Stasi-Unrecht 234 Anklagen gegeben – einfach um mal so ein paar Zahlen auch zu nennen –, nur 79 Beschuldigte sind zu ganz milden Strafen verurteilt worden, nur ein Einziger ist ins Gefängnis geschickt worden.

Weberling: Ich denke, dass die Instanzurteile, die zurzeit in der Diskussion stehen, die auch aus meiner Sicht juristisch nicht haltbar sind, dass diese Instanzurteile letztendlich die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts und den Willen des Deutschen Gesetzgebers und des Verfassungsgebers schlicht übersehen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung, die eigentlich man nur nachlesen braucht, mehrfach betont, dass die bloße Namensnennung eines Menschen im Zusammenhang mit seiner IM-Tätigkeit noch keinerlei Prangerwirkung darstellt, noch keinerlei Diskreditierung darstellt, sondern lediglich eine Tatsachenbehauptung, die in einer demokratischen Gesellschaft, in einem Meinungsdiskurs möglich sein muss. Und das Interessante ist ja dabei, dass dieses Verfassungsgerichtsurteil von den Instanzgerichten, die jetzt zugunsten der Stasi-Täter anscheinend immer wieder zitiert wird. Aber interessanterweise lesen die Richter, die diese Urteile geschrieben haben, nicht komplett weiter.

Pokatzky: Das heißt, es muss jetzt endgültig ein gründliches Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht geben, wo wirklich das bis zum Ende sozusagen durchdekliniert wird und dann ein Urteil am Ende steht, ob es nun zulässig ist, dass die Namen auch mehr als 20 Jahre dann – bis das Bundesverfassungsgericht dann sicherlich urteilen wird – mehr als 20 Jahre dann genannt werden dürfen.

Weberling: Also ich persönlich bin der Auffassung, dass man nicht gleich zum Bundesverfassungsgericht gehen muss, es reicht eigentlich normalerweise in Deutschland, wenn man bis zum Bundesgerichtshof geht und ein Grundsatzurteil dort erstreitet. Der Bundesgerichtshof hat diese Dinge, wenn auch nicht in Stasi-Zusammenhängen, aber auch schon mehrfach geurteilt. Er hat eben genau das, was ich gesagt habe, schon seit 2006 entschieden, dass jemand, der sich in die Öffentlichkeit begibt, eben auch damit rechnen muss, dass eben seine grauen Seiten beschrieben werden, dass er mit Namen eben mit diesen grauen Seiten in Verbindung gebracht wird.

Pokatzky: Aber Herr Weberling, Sie sind Rechtsanwalt in Berlin, Sie sind ein Medienfachanwalt, Sie sind auch noch promovierter Historiker, was ja sicherlich noch eine zusätzliche Sensibilität Ihrerseits für das Thema da einbringt, Sie sind Honorarprofessor an der Universität Viadrina in Frankfurt/Oder, erklären Sie mir, dem juristischen Laien, dann doch bitte mal, wie es denn dann jetzt noch Verfahren geben kann von den unteren Gerichten, nachdem, was Sie jetzt eben als juristische Grundlage zitiert haben, wo in der Tat Initiativen untersagt wird, Klarnamen zu nennen, wo – Sie vertreten jetzt das Magazin "Kontraste" vom Rundfunk Berlin-Brandenburg, was möglicherweise auch bis zum Bundesverfassungsgericht geht, wo untersagt wird, Klarnamen zu nennen, wie kann das denn da noch passieren?

Weberling: Da muss man vielleicht selbstkritisch als Anwalt einfach sein, dass ein Anwalt seine Arbeit nicht gründlich genug macht. Wir setzen immer voraus, dass Richter alles wissen. Das ist eine Schimäre, natürlich sind Richter Menschen genauso wie Sie und ich. Und ein Anwalt hat die Pflicht, den rechtlichen Sachverhalt und die Fakten und die Hintergründe aufzubereiten und entsprechend dem Gericht vorzutragen. Und die rechtlichen Hintergründe, denke ich, sind bisher viel zu wenig diskutiert worden – ein Grund für das Symposium, was wir heute Nachmittag machen. Und ich denke, dass diese rechtlichen Grundlagen, die vom Bundesverfassungsgesetzgeber mehrfach betont worden sind. Auch bei der 7. Stasi-Unterlagen-Gesetzesnovelle 2006 hat der Bundestag in großer Einmütigkeit, mit Ausnahme natürlich der Linkspartei, festgestellt, die Stasi-Aufarbeitung ist von öffentlichem Interesse, wir wollen, dass diese weitergeht, wir wollen, dass eben diese Urteile nicht Schule machen, sondern wir wollen, dass die Aufarbeitung weitergeht.