Zwischen Pleite und Profit

Von Andreas Meyer-Feist · 06.04.2011
Seit dem 1. Januar 2011 hat Ungarn für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft inne. Das Land sieht sich im Aufbruch, will – mit Unterstützung aus Deutschland – zum dynamischsten Wirtschaftsstandort in Ost- und Südosteuropa werden. Der Kurs der neuen Regierung Orban ist aber umstritten – und die Ungarn spüren davon noch wenig, wenn sie nicht gerade zu jenen Fachkräften gehören, die vor allem in der boomenden Auto-Industrie gesucht werden.
Ausländische Unternehmen sind sauer auf Sondersteuern, und die Bürger sehen massive Einschnitte auf sich zukommen, wenn jetzt eine Schuldenbremse in die Verfassung eingebaut wird.

Eigentlich könnten die Ungarn zumindest halbwegs zufrieden sein: Zwar liegt das Wirtschaftswachstum des Landes mit knapp zehn Millionen Einwohnern unter dem EU-Durchschnitt. Aber die Arbeitslosenquote ist vergleichsweise gering.

Sie liegt zwischen sieben und neun Prozent - und ist damit wesentlich niedriger als in den EU-Beitrittsländern der Region mit einer Arbeitslosenquote von bis zu 14 Prozent. Ungarns nationalkonservative Regierung unter Premierminister Victor Orban will die Wirtschaft durch Steuersenkungen weiter ankurbeln. Dank ihrer bequemen Mehrheit im Parlament kann sie ihre ehrgeizigen Pläne ohne Widerstand, ohne lästige Kompromisse und im Eilverfahren durchsetzen.

Und doch ist bei den Ungarn Unzufriedenheit spürbar. Viele Menschen fürchten, dass der neue wirtschaftsfreundliche Kurs der Regierung zu Lasten der kleinen Leute geht, die als Rentner, Geringverdiener oder Staatsbedienstete von den Zuwendungen der Öffentlichen Hand abhängig sind. Davon gibt es viele in Ungarn. Viele, die früher die Sozialisten gewählt haben, auf den konservativen Orban umschwenkten, und trotzdem enttäuscht sind. Vor allem die neue Steuerpolitik irritiert viele Ungarn:

"Das ist wirklich eine Feuerwehraktion gewesen, ein Schnellschuss: Steuersatz 16 Prozent! Das ist zu niedrig! Dann fehlen dem Staat Milliardeneinnahmen. Woher sollen die kommen, die Steuern, die gebraucht werden um alles zu bezahlen?"

Die ungarische Regierung will mit niedrigen Einkommenssteuern die Schwarzarbeit eindämmen und den Konsum ankurbeln - in der Hoffnung auf mehr Wirtschaftswachstum, das wiederum langfristig auch wieder zu mehr Steuereinnahmen führen soll. Doch viele Ungarn machen sich Sorgen um das staatlich finanzierte Sozialsystem, die Renten und um die Gesundheitsversorgung, die am Tropf des Staates hängt, Milliarden verschlingt und - so fürchten viele Orban-Skeptiker - einer neuen Sparpolitik geopfert werden könnte, um die Steuergeschenke zu finanzieren. Immer wieder gibt es dagegen Protestaktionen - vor allem von Staatsbediensteten, die sich auf Gehaltskürzungen einstellen müssen - und auf Entlassungen.

Die Taxifahrer in Budapest, die immer ein Ohr am Puls der Zeit haben, glauben aber nicht, dass Orban gefährdet ist:

"Es ist ziemlich ruhig. Weil die Gegner des Premierministers Victor Orban nicht so lautstark auf die Straße gehen wie das seine Sympathisanten vor den Wahlen getan haben. Aber es gibt doch jede Woche ein paar kleinere Demonstrationen. Und bei den Wahlen geht es doch schon seit der Wende immer nur darum, was die Leute nicht wollen. Und leider nicht darum, was sie wollen."

Wenigstens einer scheint zu wissen, was er will - und wie er seinen Willen durchsetzen kann - notfalls ohne die üblichen langwierigen parlamentarischen Anhörungen und möglichst ohne der Opposition im ungarischen Parlament - den Sozialisten und der rechtsradikalen Jobbik-Partei - Raum für Erwiderungen zu lassen. Regierungschef Victor Orban fühlt sich auf dem Gipfel seiner Macht.

Er ist seit Januar amtierender EU-Ratspräsident. Zwar gibt es in der EU Kritik an einem umstrittenen Mediengesetz, von dem seine Gegner behaupten, er wolle die öffentliche Meinung zu seinen Gunsten beeinflussen - sogar Sanktionen gegen die Presse sind vorgesehen - doch Orban bleibt selbstbewusst.

Viel sei erreicht worden - das Land sei trotz Wirtschaftskrise und einer Fast-Pleite vor drei Jahren - inzwischen wieder gut aufgestellt in der EU: Mit einer politischen Mischung aus Law and Order und einer wirtschaftlichen Liberalisierung: "Wir haben das bislang strengste Gesetz gegen Kriminalität durchgesetzt. Wir haben die Giftschlammkatastrophe in Südungarn bewältigt und wir haben den Ungarn wieder neue Freiheiten gegeben - sie dürfen inzwischen sogar ihren Schnaps wieder selbst brennen ..."

Die schärfsten Einschnitte und Finanzreformen stehen den Ungarn aber noch bevor. Victor Orban kündigte an, mit Infrastrukturprojekten die Bauwirtschaft und die Automobilindustrie anzukurbeln und eine Million neue Jobs zu schaffen innerhalb der nächsten zehn Jahre. Das Bruttoinlandsprodukt soll jährlich zwischen vier und sechs Prozent wachsen. In die Verfassung wird eine Schuldenbremse eingebaut, um die Staatsschulden einzugrenzen, die in den vergangenen Jahren explodiert sind.

Um das zu erreichen, soll bei den Sozialausgaben gespart werden: Die Sozialhilfe wird an strengere Bedingungen geknüpft. Auch die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall steht zur Disposition.

Victor Orban: "Wir haben die größte Steuersenkung der vergangenen 20 Jahre durchgesetzt. Und wir waren es, die als erste in Europa für eine gerechten Lastenverteilung in der Wirtschaftskrise sogar eine Bankensteuer und eine Sonderabgabe für Großkonzerne eingeführt haben."

Sonderabgaben sind aber ein Dorn im Auge der Wirtschaft, vor allem der ausländischen Investoren in Ungarn. Der Verband der großen ausländischen Investoren in Ungarn hält sich noch mit Kritik an den Krisensteuern zurück und hofft auf langfristig positive Auswirkungen, wenn der Staatshaushalt wieder ausgeglichen werden könne. Drei Jahre lang sollen die Krisensteuern für große Konzerne und Banken mehr Geld in die Staatskasse pumpen.

Ein riskantes Unterfangen. Denn auf der anderen Seite hat die Regierung Orban die Einkommens- und Körperschaftssteuern dramatisch abgesenkt, um den Konsum anzukurbeln, was zu Mindereinnahmen führen kann, wenn nicht gleichzeitig die Wirtschaft wächst. Orbans Rechnung scheint zunächst aufzugehen.

Tatsächlich verbessert sich die Wirtschaftslage in Ungarn. Aber das erhoffte Wirtschaftswachstum ist kaum durch eigene Leistungen nachhaltig beeinflussbar sondern vor allem von Deutschland abhängig: 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Ungarn wird generell durch den Export erwirtschaftet und Deutschland ist der wichtigste Wirtschaftspartner.

Sondersteuern für Konzerne und Banken habe er nicht "freiwillig" eingeführt - sondern einführen müssen, begründet Premier Orban die umstrittene Maßnahme: Er macht die EU-Kommission mitverantwortlich für Ungarns Weg der Sonderabgaben für Unternehmen. Nach seiner Amtsübernahme sei er nach Brüssel gereist, um - als Alternative zu den "Krisensteuern" - die Erlaubnis für eine deutlich höhere Staatsverschuldung auszuhandeln. Die EU-Kommission habe sein Ansinnen abgelehnt.

Als Konsequenz habe man überlegt, wie man gleichzeitig die Einkommensteueren für die breite Masse senken und trotzdem den Staathaushalt sanieren kann. Die Lösung: Man geht zu denen, die etwas haben. Daraus wurden dann die Sonderabgaben für Banken und große Unternehmen. Damit bewegt sich die ungarische Regierung aber auf Konfrontationskurs zum wichtigsten Wirtschaftspartner Deutschland und dem internationalen Finanzsektor, der vor der "höchsten Bankensteuer der Welt" warnte. Die Europäische Zentralbank äußerte Bedenken. Und auch die Industrie ist besorgt, sagt Dirk Wölfer von der deutsch-ungarischen Handelskammer: "Einge Unternehmen planen, die Investitionen zurückzufahren."

Dirk Wölfer macht aber nicht nur die Sondersteuer Sorgen sondern vor allem deren schwer berechenbares Ausmaß: Die Krisensteuer wurde erst zum Jahresende 2010, dafür aber rückwirkend beschlossen. Für das Ganze Jahr 2010 muss sie also "nachgezahlt". Viele Unternehmen sehen darin einen Verstoß gegen die Planungssicherheit, aber auch gegen die Rechtssicherheit, die ausländische Investoren in Ungarn erwarten dürften. Umstritten ist auch das parlamentarische Entscheidungsverfahren. Dirk Wölfer: "Raum für parlamentarische Anhörungen hat es nicht gegeben."

Ungarns Regierung lässt sich dadurch nicht beirren. Sie will die Haushaltslöcher durch Sonderabgaben für Konzerne stopfen - auch wenn dadurch das Ansehen des Wirtschaftsstandortes Ungarn leiden könnte.

"Die sozialistische Vorgängerregierung hat nur an Einschnitte für die Masse gedacht, sagt Zsolt Semjen von den ungarischen Christdemokraten, die Orban unterstützen: "Was machen wir denn schlimmes? Wir bitten nicht die Bürger, sondern Banken und Konzerne zu Kasse. Und wir werden die Bürger nicht enttäuschen."

Steuersenkungen auf der einen Seite, um den Konsum anzukurbeln, Sondersteuern für ausländische Konzerne, um Löcher zu stopfen: Eine riskante Finanzpolitik.

Ungarn war in der Finanzkrise an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Ungarns Wirtschaft ist zwar wieder auf Wachstumskurs, aber die Altlasten belasten die Staatsfinanzen und die Wirtschaft gleichermaßen. Ein "ausgeglichenes Verhältnis" soll dafür sorgen, dass am Ende trotzdem ein dickes Plus für beide Seiten herausspringt, hofft Orban.

Orbans Rechnung scheint zumindest für die wirklich großen Unternehmen aufzugehen, die sich durch mögliche Sonderabgaben nicht schrecken lassen - wenn sie überhaupt betroffen sind, denn es gibt viele Standortvorteile in Ungarn, die weitaus wichtiger sind.

Audi ist einer der wichtigsten Auslandsinvestoren in Ungarn. Rund 5800 Mitarbeiter arbeiten in Györ in einem Audi-Motorenwerk. Audi expandiert: Ab 2013 sollen in Györ 12.5000 Fahrzeuge vom Band laufen. 900 Millionen Euro investiert das deutsche Automobilwerk. 1800 zusätzliche Jobs sollen in Györ geschaffen werden. Györ wird zum "vollwertigen Stammwerk" des Ingolstädter Konzerns, freut sich Audi-Chef Rupert Stadler.

Vor den vorübergehenden Krisensteuern muss Audi keine Angst haben. Ungarn greift tief in den Subventionstopf, um eine Betriebsansiedlungen so attraktiv wie möglich zu machen - auch wenn Orban des Öfteren über "ausländische Konzerne" schimpft. Die Realität sieht anders aus. Gute staatliche Rahmenbedingungen für Investoren sollen später einmal zu mehr Steuereinnahmen führen - und zu mehr Kaufkraft. "Eine Win-Win-Situation für beide Seiten", hoffen die Audi-Manager: "Das niedrigere Lohnniveau ist nicht entscheidend, sondern das gute Angebot an Facharbeitern und Ingenieuren."

Audi findet in Görd alle möglichen Zulieferer. Bosch und Continental sind seit Jahren in Ungarn vertreten: "Außerdem gibt es gute Verbindungen zu den Wachstumsmärkte in Osteuropa."

Die Rechnung scheint aufzugehen: Fachkräfte sind gefragt. An einigen Orten gibt es schon zu wenige, sie müssen von weither anreisen. Audi arbeitet mit den örtlichen Hochschulen zusammen, um Absolventen so früh wie möglich an das Unternehmen zu binden. Mercedes investiert 800 Millionen in Ungarn, Opel ist mit einer halben Milliarde Euro für ein Motorenwerk in Südungarn dabei. Opel-Geschäftsführer Reinhard Hoben:

"Wir haben hier gut ausgebildete Arbeitskräfte und wir liegen in einer Förderzone der EU, die uns zusätzliche Unterstützung ermöglicht."

Die ungarische Regierung will das Land mit deutscher Hilfe zum "lukrativsten Wirtschaftsstandort der Region" entwickeln. Das könnte gelingen, wenn die Automobilindustrie weiter boomt und von einer neuen Krise verschont bleibt.

Doch nicht jeder in Ungarn profitiert schon heute davon. Bei Durchschnittseinkommen von rund 700 Euro im Monat reicht das Geld nicht für große Sprünge. Aber der Wunsch, sich endlich etwas leisten zu können, ist groß. Viele Ungarn hofften auf kontinuierlich steigende Einkommen und verschuldeten sich, um den gewünschten Lebensstandard schon heute zu erreichen. Viele stehen jetzt vor der privaten Insolvenz, weil sie sich mit Fremdwährungskrediten verschuldet haben. Zwar stiegen die Einkommen tatsächlich, aber gleichzeitig verlor die heimische Währung Forint gegenüber dem Euro und dem Schweizer Franken an Wert. Das verteuerte die Kredite.

Der Staat hat zwar verhindern können, dass die Banken ihre Forderungen zu 100 Prozent durchsetzen und die Zinssätze in astronomische Höhen trieben. Trotzdem haben die Schuldnerberater in Budapest Hochkonjunktur:

"Viele konnten nicht mal mehr ihre Stromrechnungen bezahlen, bei Zinsbelastungen von 200 bis 400 Euro im Monat. Für 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung bleibt der erhoffte Wohlstandsaufschwung noch lange ein Traum - wenn er nicht schon jetzt zum Albtraum wurde."