Zwischen Mythos und Wirklichkeit

Von Maike Albath · 03.07.2010
Venedig ist längst ein Klischee seiner selbst: Gondeln, Seufzerbrücke, San Marco, festgehalten auf unzähligen Gemälden, Gegenstand unzähliger literarischer Werke. Ein Mythos, der auf die ganze Welt ausstrahlt.
"Wenn ich nicht König von Frankreich wäre, wollte ich Bürger von Venedig sein!" rief Henri III. aus, als er im 16. Jahrhundert zum ersten Mal die Lagunenstadt besuchte. Die Republik von Venedig ist der älteste Staat Europas, sie überdauerte Kriege und Revolutionen, war Bindeglied zwischen Orient und Okzident, bedeutender Handelsplatz, Sitz zahlreicher Verlage, Wirkungsstätte von Bellini, Tizian und Tintoretto und Zufluchtsort verfolgter Minderheiten. Ein internationaler Sehnsuchtsort zu sein, hat seinen Preis. Heute ist Venedig nicht nur durch den ansteigenden Meeresspiegel bedroht. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Besuchermenge verdreifacht: Billigflüge und Kreuzfahrtschiffe spülen alljährlich 22 Millionen Touristen in die 60.000-Einwohner-Stadt. Die Besucher überfluten die Plätze, produzieren Müll, geben kaum Geld aus. Der Immobilienmarkt wird längst von Spekulanten dominiert, alteingesessene Einwohner ergreifen die Flucht, Bäckereien, Eisenwarenläden und Schusterwerkstätten wandeln sich in Maskenläden, Fast-Food-Shops und Lounges, öffentliche Gebäude werden an Investoren verkauft, neue Hotels und Einkaufszentren sind in Planung. Damit wird die Wasserstadt zu einem Fallbeispiel globaler Probleme. Venedig ist ein Urbild für die Stadt überhaupt, Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und Projektionsfläche unserer Fantasien. Aber vielleicht wäre es Zeit für ein Disneyland Venedig. Denn das echte Venedig ist vom Untergang bedroht.




" Was mich interessiert, ist die Beziehung zwischen der Stadt und dem Bild, das von ihr in der Literatur existiert. Bei Rilke ist es eine Art von Narzissmus, ein Narziss, der sich im Wasser betrachtet. Es geht um Selbstspiegelungen. "

Rossella Mamoli Zorzis Familie ist fast so alt wie die Stadt selbst. Es gab sogar einen Dogen, der Zorzi hieß. Als Professorin für Amerikanistik beschäftigt sich die resolute Venezianerin seit vielen Jahren mit dem Unterschied zwischen Abbild und Wirklichkeit.

" Wir Venezianer nehmen die Stadt sicherlich anders wahr als die Fremden, aber so anders nun auch wieder nicht. Venedig ist eine Stadt, die man mit den Augen erfasst, wir sind hier schließlich nicht blind, man sieht sie im wechselnden Licht, im Regen, bei Sonnenuntergang, wenn der Himmel verhangen ist, im Nebel, es sind sehr unterschiedliche Eindrücke. "


Offizielle Homepage von Venedig in Englisch und Italienisch

Venedig bei Wikipedia



" Ich bin in die Kirche hinein gegangen, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Mich hat sofort das Licht dieses Gemäldes hier in den Bann geschlagen. Das Wort "Licht" ist wichtig, denn für Tintoretto ist es der Schlüssel zu allem, aber auch für mich. Das Licht schien von dem kleinen Mädchen auszugehen, das die Stufen zu einem Tempel empor steigt. Dieses Mädchen ist die Jungfrau Maria als Kind. Das wusste ich damals natürlich nicht. Ich habe das Gemälde angeschaut, ohne Näheres über das Motiv zu wissen. Mir fiel dann auf, dass nicht nur Maria auf dem Bild zu sehen ist, sondern viele kleine Mädchen, so als sei es ein Fest, ein Fest von Frauen, bei dem es dem Maler um das weibliche Schicksal zu gehen schien. Und das hat mich unglaublich beschäftigt, denn in der damaligen Zeit tauchten kaum Kinder auf Gemälden auf, außerdem stehen hier Frauen im Zentrum, die Mütter oder Töchter sind. Ich war so fasziniert, dass ich mehr über Tintoretto erfahren wollte. "

Melania Mazzucco, 1966 in Rom geboren, Verfasserin zahlreicher Romane, hat eine Vorliebe für historische Stoffe und vertritt einen traditionellen Realismus. Tintorettos Engel wurde zum Bestseller. Nebenbei schrieb sie noch ein dickleibiges Sachbuch über den Maler, der sie nicht mehr loslässt. Sie ist ein wissbegieriger Mensch, verkroch sich viele Winter lang in den Archiven und eiskalten Bibliotheken der Stadt, studierte Originaldokumente auf Venezianisch, forschte nach Auftraggebern, las Briefe und Schilderungen von Zeitgenossen. Ein Gemälde vom Heiligen Markus schürte erst einen Skandal und machte ihn dann berühmt.

Melania Mazzucco beim Piper-Verlag

Melania Mazzucco
Tintorettos Engel
Roman.
Aus d. Italien. v. Birte Völker
2010 Knaus
"Von Michelangelo die Zeichnung, von Tizian die Farbe", so lautete das Credo des Färbersohns Jacopo Robusti, genannt Tintoretto, der sich in seinem Leben alles erkämpfen musste, weil er - anders als sein Rivale Tizian - niemals ein Liebling der Venezianer war. Und trotzdem hat er seine Heimatstadt künstlerisch geprägt wie kaum ein anderer. Ungestüm und voll überbordender Schaffenskraft tritt er dem Leser aus dem Roman entgegen. Tintoretto berauschte sich daran, mit den Traditionen zu brechen und sich selbst immer neu zu erschaffen, für ihn war Malen wie Träumen. Sein unbändiges Streben nach Freiheit in der Kunst teilte er mit seiner Tochter Marietta, der ersten Künstlerin der Renaissance. Sie war das uneheliche Kind mit seiner großen Liebe Cornelia, einer deutschen Hure.

Mit ungeheurem Einfühlungsvermögen und reich an bestens recherchierten Details erzählt Melania G. Mazzucco die dramatische Geschichte dieses Malergenies des 16. Jahrhunderts. Es ist nicht zuletzt die Art, wie die Autorin diese außergewöhnliche Geschichte von Vater und Tochter erzählt und in den Mittelpunkt von Tintorettos Lebensbeichte stellt, die diesen Roman zu einem ganz besonderen Leseereignis werden lässt.

"Die Schriftstellerin Melania Mazzucco hat das Schicksal Mariettas erforscht und aufgeschrieben. (...) ‚Tintorettos Engel' basiert ausschließlich auf historischen Fakten und Details, die Mazzucco über Jahre fundiert recherchiert hat." ZDF aspekte (05.03.2010)


Giulia Angelini, aus Mestre gebürtig, Venedigexpertin, mittlerweile Lektorin an der Freien Universität Berlin

Per il verso giusto
Übungsbuch für fortgeschrittene Italienischlernende.
Von Giulia Angelini u. Elisabetta Fontana .
in italienischer und deutscher Sprache.
2009 Buske



Tiziano Scarpa. Schriftsteller,
" Venedig ist ein Fisch. Schau es Dir auf einer Landkarte an. Es ähnelt einer riesigen Seezunge, die platt auf dem Grund liegt. Wieso ist dieses Wundertier die Adria hinauf geschwommen und hat sich ausgerechnet hier verkrochen? "

"Venedig ist ein Fisch" heißt Scarpas Buch über seine Heimatstadt, in dem er über Goldoni, die Steine von Venedig, seine Gebäude und Bewohner nachdenkt. Es ist einer der schönsten Venedig-Essays überhaupt, gleichzeitig eine nützliche Gebrauchsanweisung für die Stadt.

Tiziano Scarpa
Venedig ist ein Fisch
Wagenbachs andere Taschenbücher.
2009 Wagenbach
Dass Venedig die Form eines Fisches hat, sieht jeder, der auf eine Landkarte schaut. Tiziano Scarpa lädt uns ein, diesen Wunderfisch mit allen Sinnen zu entdecken: Mit Füßen, Beinen, Herz, Gesicht, Ohren, Mund, Nase und Augen. Wir erfahren, warum man sich in Venedig unbedingt verirren sollte, weshalb die Stadt als Kulisse für Liebeserklärungen ungeeignet und ihre Schönheit hochgradig gesundheitsgefährdend ist.



Hanns Josef Ortheil
Roman
Im Licht der Lagune Die Nacht des Don Juan
Zwei Romane in einem Band.
2008 btb
"Im Licht der Lagune" bei Wikipedia

John Ruskin
Die Steine von Venedig
Mit den 1849 erschienen The Seven Lamps of Architecture und dem dreibändigen 1851 in London erschienenen Buch The Stones of Venice (dt. Die Steine von Venedig) leistete Ruskin wichtige Beiträge zur Architekturtheorie. Weiterlesen:

Henry James
Die Aspern-Schriften
Triptychon Verlag
München 2003
Aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort von Bettina Blumenberg. 1875 machte Henry James England endgültig zu seiner neuen Heimat und vertiefte sein vorrangiges literarisches Thema - Porträts von im Ausland lebenden Amerikanern und den Gegensatz der Lebensweisen und Kulturen - u. a. auch in der vorliegenden Erzählung. Damit versicherte sich der wohl tiefsinnigste Psychologe unter den bedeutenden Romanautoren des späten 19. Jahrhunderts seiner Modernität und wurde immer wieder ins heutige Bewusstsein gehoben.



Thomas Mann
Der Tod in Venedig und andere Erzählungen
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literaturlexikon
2009 Fischer (TB.), Frankfurt
Thomas Manns Erzählungen sind vor allem eines: großartige und abgründige Liebesgeschichten. Der alternde Gustav Aschenbach zum Beispiel, den es nach Venedig treibt, verliebt sich in der schwülen Lagune hoffnungslos in den jungen Tadzio und bringt es auch dann nicht über sich, die Stadt zu verlassen, als die Cholera ausbricht Luchino Visconti hat die Melancholie und Sinnlichkeit des Tod in Venedig kongenial verfilmt, Benjamin Britten hat sie vertont, und John Neumeier hat sie sogar getanzt.

Tod in Venedig

Tod in Venedig (Film)


Joseph Brodsky
Ufer der Verlorenen
Aus d. Amerikan. v. Jörg Trobitius .
2009 Fischer (TB.), Frankfurt
Mit diesem Buch hat der russische Dichter und Nobelpreisträger Joseph Brodsky eine Liebeserklärung an Venedig geschrieben. Eine hymnische Hommage an die Lagunenstadt, an ihre Kunst, ihre Architektur, ihre inspirierende Schönheit. Und gleichzeitig die Selbstauskunft eines der großen Dichter unserer Zeit.

Vor langer Zeit, als man für den Dollar noch 870 Lire erhielt, kam Joseph Brodsky zum ersten Mal nach Venedig. Er war zweiunddreißig Jahre alt und kannte die Stadt bisher nur aus einem zerfledderten Buch von Henri de Regnier und von ein paar kostbar gehüteten Postkarten, die ihm eine Jugendfreundin einst zum Geburtstag geschenkt hatte.

Aber seit jener Zeit stand für den Dichter aus Petersburg fest: "Sollte ich einmal Russland verlassen dürfen, dann würde ich sofort nach Venedig reisen." Seitdem ihn seine Landsleute ausgebürgert haben, reist er nun jedes Jahr von New York nach Venedig, im Winter, wenn die Luft klar ist und die Farben von jener Durchsichtigkeit, wie wir sie von den Bilder Canalettos kennen. Seiner Liebe zu Venedig, der "Stadt des Auges", die auf keinem festen Fundament steht, gibt er in diesem Buch Ausdruck.

Donna Leon ist eine US-amerikanische Schriftstellerin. Sie ist Autorin von Kriminalromanen, die in ihrem Wohnort Venedig spielen.

Donna Leon bei Diogenes und bei Wikipedia


Mark Twain
Die Arglosen im Ausland
Übers. v. Ana M. Brock .
2010 Insel, Frankfurt

Der Schriftsteller Mark Twain war ein reisesüchtiger Abenteurer und Übertreiber, der auch die Schweiz kannte. Vor 100 Jahren ist er gestorben.
Weiterlesen

Werke von Mark Twain als Online-Texte im
Project Gutenberg

Ernest Hemingway kippt genau wie Highsmith in Harry's Bar seine Drinks, und gerade ihm hätte man ein sentimentales Verhältnis zu Venedig kaum zugetraut.

Ernest Hemingway
Über den Fluß und in die Wälder
Roman.
1977 Rowohlt TB.



Es gibt niemanden, der sich besser mit den Veränderungen der Gewässer und der Lagune auskennt, als der Historiker Piero Bevilacqua.

" Gewitter, Hochwasser und Stürme richteten immer wieder Schäden in der Stadt an, und Venedig musste sich vor dem Meer schützen. Aber das Meer war auch ein notwendiges Übel, denn es sorgte für einen Austausch des Wassers. Das gilt bis heute, andernfalls würde die Lagune faulen. Um 1500 waren vor allem die Flüsse eine Gefahr. Die Venezianer hatten verschiedene Strategien. Einerseits wurden die Kanäle täglich gereinigt. Es gab bestimmte Boote, mit denen Arbeiter in die verstopften Kanäle fuhren und per Spaten den Schlamm entsorgten. Der Schlamm wurde nicht weggeschmissen, sondern für Gärten und Weinanbau auf dem Festland benutzt, es gab also ein System der Wiederverwertung. Außerdem entwarfen sie kolossale Bauprojekte. Venedig hat die Flussläufe der Brenta, des Piave, des Pos und der Sile umgeleitet, um zu vermeiden, dass über die Flüsse neuer Schlamm, Äste und Bäume in die Lagune gespült würden. Es handelte sich um unglaubliche Maßnahmen, vor allem, wenn man bedenkt, welche Hilfsmittel es im 16. Jahrhundert gab. "




Massimo Cacciari, international renommierter Philosoph, Vertreter des Parteienbündnisses der Linken und bis zum April 2010 Bürgermeister Venedigs. Zwölf Jahre lang hat er dieses Amt ausgeübt. Piero Bevilacqua beobachtete unterdessen den Wasserstand.

" Im 20. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, kam es immer häufiger zu Hochwassern. 1966 gab es eine Überschwemmung, die das Wasser in Venedig auf einen Meter neunzig ansteigen ließ. Das hat die Venezianer alarmiert. Gemeinsam mit dem Staat wurde eine Reihe von Initiativen entwickelt. Die Genossenschaft für Neu-Venedig wurde gegründet, die für die Lagune Sorge tragen soll. In den letzten Jahren hat man viel getan. Zum Beispiel wurden die Sandbänke vor der Lagune erneuert, denn der Sand wirkt wie ein Kissen, dass die Stadt vor den Wogen des Meeres schützt. Sie fangen den Aufprall ab, während Steine oder Felsen mit der Zeit kaputt gehen würden. Nach Palestrina und auch an andere Orte hat man viel Sand gebracht. Oder in der Stadt hat man die Fußböden erhöht. Man verwendet Marmor aus Istrien, denn der hält dem Salzwasser besonders gut stand, während normale Ziegel vom Wasser zerfressen werden. Und dann gibt es noch das kontrovers diskutierte MOSE-Projekt. "

Durch den ansteigenden Tourismus gibt es zwangsläufig auch mehr Hotels und Restaurants. Etliche dieser neuen Hotels haben die Sanierung historischer Gebäude möglich gemacht. Die Stucky-Mühle auf der Giudecca, eine großartige Anlage der Jahrhundertwende. Es zählt zu den größten italienischen Hotels überhaupt. Etliche Palazzi wurden gerettet. Denn wer könnte heute noch in einem venezianischen Patrizierhaus aus dem 16. oder 17. Jahrhundert wohnen, nicht einmal Rockefeller.

Giulia Angelini: " Man überlässt den Touristen und den Hotels viel zu viel. Zum Beispiel das wunderschöne Stucky-Gebäude auf der Giudecca. Daraus ist jetzt ein Mega-Luxus-Hotel geworden. Und dann diese Kreuzfahrtschiffe, die im Kanal der Giudecca vor Anker gehen. Sie verdunkeln den Himmel. Der neue Bürgermeister - alle befürchteten, dass bei den Wahlen im April 2010 der Vertreter der populistischen Lega Nord Brunetta das Rennen machen würde, aber er wurde zum Glück nicht gewählt -, also dieser Orsoni, der Nachfolger von Cacciari und Mitglied der Linken, hat gesagt, er wolle den Schiffsverkehr stark einschränken. Das wäre wirklich eine gute Sache, denn das ökologische Gleichgewicht in der Lagune ist vollkommen durcheinander. Als ich gerade in Venedig war, hat mir meine Freundin erzählt, dass die typischen venezianischen Algen verschwunden sind. Stattdessen gibt es jetzt eine japanische Alge, die das Leben in den Kanälen vollkommen zerstört hat. Es sind inzwischen tote Gewässer. Außerdem gibt es immer schlimmere Hochwasser, auch in der Folge dieses Staudammprojektes MOSE. Es steht jetzt schon seit Jahren still, aber sie haben riesige Bohrungen in der Lagune vorgenommen. Die Stadt ist wirklich in Gefahr. "