Zwischen Mut und Demut

Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 28.03.2009
Amalie Sieveking kam aus wohlhabendem, großbürgerlichen Hamburger Elternhaus und machte sich dennoch die Sache der Ärmsten und Schwächsten zu eigen. Sie sammelte Spenden für Arme, gründete Stiftungen und den "Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege" - Vorläufer der Freien Wohlfahrtspflege.
Als in diesen drückend-schwülen Frühherbsttagen des Jahres 1831 der Bettler und ehemalige Seemann Peter Petersen in den Straßen seiner Vaterstadt Hamburg blau angelaufen und von Fieberkrämpfen geschüttelt zusammenbricht, ahnen viele den Grund: Die Cholera ist wieder ausgebrochen.

Petersen ist der erste Erkrankte. Nur ein paar Tage später tritt die Seuche ihren wochenlangen, verheerenden Todeszug durch die Elbmetropole an. Vor allem aber wütet sie unter den Ärmsten der Armen. In der reichen Kaufmanns- und Hansestadt Hamburg sind Elend, unhygienische Wohnbedingungen und unzureichende Ernährung weit verbreitet. Ärztliche oder pflegerische Hilfe gibt es für die Betroffenen kaum.

Doch dann, Ende September erscheint im "Bergedorfer Boten", einem christlichen Familienblatt, eine ungewöhnlich aufrüttelnde Anzeige:

"Ein Aufruf sollen diese Worte sein, vornehmlich an meine christlichen Mitschwestern gerichtet, ob die eine oder andere unter ihnen sich innerlich berufen fühlt, sich freudig mit mir zur Pflege der Kranken im christlichen Geiste zu vereinigen ... "

Niemand reagiert.

Amalie Sieveking, die Initiatorin der Annonce, ficht das nicht an. Ohne viel Federlesens meldet sich die Tochter aus vornehmer Senatorenfamilie zum Dienst an den Kranken in einem eigens eingerichteten Cholera-Hospital. Sie scheut keine Arbeit, kümmert sich ohne Angst vor Ansteckung um die, die sonst niemanden haben. Bald darauf erhält sie die Oberaufsicht über das gesamte - auch männliche - Pflegepersonal. Ein Jahr später, 1832, gründet sie den "Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege". Dessen Mitglieder gehen zu den bedürftigen Familien, raten, helfen, unterstützen. Handfest, pragmatisch, getreu dem Leitsatz des Vereins:

"Almosen geben - so wenig wie möglich, aber genügend Lohn dem Fleißigen ... "

Dieser wohltätige Verein, gilt als die erste Organisation der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland und als Vorläufer der Evangelischen Diakonie. Und Amalie Sieveking, die 27 Jahre lang seine immer wieder gewählte Vorsteherin bleibt, wird zur Wegbereiterin einer modernen Sozialarbeit in Deutschland.

An der Wiege gesungen worden ist es ihr nicht, dieses Engagement für die Schwächsten in einer Zeit brutalster Ausbeutung und wachsender Verelendung des Industrieproletariats. Als sie am 25. Juli 1794 in eine alteingesessene Hamburger Senatorenfamilie hineingeboren wird, ist ihr eigentlich das sorgenfreie und privilegierte Leben einer Tochter aus wohlhabendem Haus vorgezeichnet.

Doch es kommt anders: Amalies Eltern sterben früh, sie wächst bei Verwandten auf. Darüberhinaus ist sie in den Worten eines Chronisten:

" ... Bar jeder Anmut, heftig, ungeduldig, ehrgeizig, willensstark, zwar mit Interesse an Literatur und Wissenschaft, aber ohne Talent für Musik und Tanz ... "

Weshalb es wohl auch schwierig sein dürfte, einen Ehemann für sie zu finden. Na, und? Mag sich die junge Frau - ungewöhnlich für ihre Zeit - trotzig gesagt haben. Und gründet - genauso ungewöhnlich - eine Freischule für arme, aber begabte Mädchen.

Amalie Sieveking ist keine Revolutionärin. Und greift auch nicht nach den Sternen. Trotz ihrer neuen Ideen bleibt sie innerhalb der eng gesteckten Konventionen ihrer Zeit, bewegt sich zwischen Mut und Demut, behält Augenmaß und den untrüglichen Blick für das Machbare. Unterstützung bekommt ihr soziales Engagement, als im deutschen Revolutionsjahr 1848 ihr Bruder im Geiste, der Hamburger evangelische Theologe Johann Hinrich Wichern auf dem Kirchentag zu Wittenberg seine Kirche in aller Schärfe daran erinnert, dass die Sorge um die Armen zu ihren vornehmsten Aufgaben gehöre:

"Ungeheures und Maßloses hat die Kirche unterlassen und damit gesündigt. Die Angelegenheiten des Proletariats, der Elenden und Rechtlosen müssen auf die Kanzel. Die Not dieser Menschen kann nicht mit karitativen Mitteln gelöst werden. Hier liegt ein Rechtsanspruch vor, für dessen Einlösung wir vor Gott voll verantwortlich sind..."

Vor 150 Jahren, am 1. April 1859 ist Amalie Sieveking in ihrer Heimatstadt Hamburg an Tuberkulose gestorben. Die Großbürgertochter hatte bestimmt, in einem Armensarg begraben zu werden.

Trost und Rückhalt hat sie ihr Leben lang in ihrer pietistisch geprägten Frömmigkeit gefunden. Ihre theologischen Erbauungsschriften sind heute vergessen. Überdauert aber haben ihre Werke tätiger Nächstenliebe, von denen viele bis heute ihren Namen tragen.

Ihr Mitstreiter Johann Hinrich Wichern würdigte sie als:

"Eine wahrhaft apostolische Frau ... "