Zwischen Literarizität und Gefühligkeit

13.09.2012
Im August ist Isabel Allende 70 Jahre alt geworden. Seit ihrem späten Debüt "Das Geisterhaus" aus dem Jahr 1982 gehört sie zu den erfolgreichsten Autorinnen der Welt. Schon lange lebt Allende in den USA, doch auch ihr neuer Roman spielt wieder in Chile, ihrer alten Heimat.
Es kann verdammt einsam und langweilig sein auf so einer kleinen Insel im Süden Chiles. Genauer: auf Chiloé, gelegen auf halben Weg von Santiago in der Mitte des Landes und Punta Arenas im tiefsten Süden. Genau hierhin hat Isabel Allende die Heldin ihres jüngsten Romans geschickt, die 19-Jährige Maya. Sie soll hier untertauchen – und zu sich selbst finden. Denn zum einen sind eine Verbrecherbande und die Polizei hinter ihr her, zum anderen ist sie auf Entzug. Mit viel Mühe ist sie gerade dem Drogen- und Prostitutionsmilieu der Glücksspielstadt Las Vegas entkommen. Ihre Großmutter, eine in San Francisco lebende Exilchilenin, bei der Maya aufgewachsen ist, hat einen Freund auf Chiloé, der Maya Unterschlupf gewährt. Die Großmutter rät ihr, der Insel-Langeweile mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu begegnen, was natürlich auch einen therapeutischen Nebeneffekt hat – und den formalen Rahmen für Allendes neuen Roman gibt: "Mayas Tagebuch".

Maya schreibt also, "obwohl heutzutage selbst die Yanomami am Amazonas Computer benutzen", ihre Lebensgeschichte in ein Heft. Allende gelingt es dabei sehr gut, sich in die Gefühle und Lebenswelt eines Teenagers einzufühlen und gerade auch deren Tonfall nachzuahmen: aufgekratzt, schnodderig, ein bisschen durch den Wind, ein bisschen sehnsüchtig. Maya beschreibt den Alltag und das Leben auf Chiloé, bei Manuel, dem Freund ihrer Großmutter, einem alten, kauzigen, allein lebenden Anthropologen. Und sie erzählt, wie es ihr nach dem Tod ihres geliebten "Pop", ihres Ersatzgroßvaters, auf einer Odyssee von San Francisco über Oregon bis nach Las Vegas ergangen ist; wie sie dort immer tiefer abrutscht – und sich beinahe den Goldenen Schuss setzt.

Es sind zwei auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Welten, in denen Allende ihren Roman angesiedelt hat: hier die Idylle der Inselwelt Chiloés, die so idyllisch aber gar nicht ist, wie man nach und nach erfährt, Und dort die Unterwelt von Las Vegas, in der Maya aber auch Menschlichkeit begegnet. Isabel Allende, die man ja mitunter als Kitschproduzentin erster Güte kennt, hat sich in dieser Hinsicht mit "Mayas Tagebuch" angenehm zurückgenommen. Der Roman ist reich an lesenswerten Geschichten und ungewöhnlichen Schicksalen. Nur selten streift er die emotionale Belastbarkeitsgrenze, wenn Maya zum Beispiel urplötzlich für einen Backpacker aus Seattle entflammt und die handelsübliche Liebe ins Romanspiel kommt. Oder Maya auf Esoterik-Pfaden wandelt und sich regelmäßig mit ein paar jungen Frauen auf Chiloé zu einer Mischung aus Yoga und Hexen-Tanz verabredet. Die Las-Vegas-Story dagegen ist fast eine Kriminalgeschichte, auch sprachlich, da geht es hart und krass zur Sache.

Aber auch auf Chiloé ist eben nicht alles Liebe und Curanto. Dafür sorgt allein die düstere Pinochet-Putsch-Historie, die das Land zwanzig Jahre nach der Abdankung des Diktators noch immer im Griff hat und auch Auswirkungen auf das Schicksal Mayas und ihrer Familie hat. "Mayas Tagebuch" ist womöglich Allendes bester Roman seit langem, schafft sie es doch, eine schöne Balance zwischen Literarizität und Gefühligkeit zu halten und dabei unterschiedlichste Lebenswelten auszuleuchten. Dass Isabel Allende, die schon lange ihre Glück in den USA gefunden hat, immer wieder vom Sturz Salvador Allendes und der 17-jährigen Militärdikatur Pinochets erzählen muss, beinhaltet noch einmal eine ganz eigene Tragik. Von Schicksal ihres Heimatlandes kommt selbst eine Erfolgschriftstellerin wie sie einfach nicht los.

Besprochen von Gerrit Bartels

Isabel Allende: Mayas Tagebuch
Roman, aus dem Spanischen von Svenja Becker
Suhrkamp, Berlin 2012
445 Seiten, 24, 95 Euro


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