Zwischen Konzerthaus und Bordell

Von Ronny Arnold · 11.03.2013
Thomas Christoph Heyde komponiert zeitgenössische Musik, ist Kurator und Medienkünstler. Er will Menschen für Neue Musik begeistern, die wenig Kontakt zur Hochkultur pflegen. Dafür lässt er auch Konzerte an sehr ungewöhnlichen Orten spielen.
"Ich glaube, ich verstehe, ohne eitel klingen zu wollen, deutlich besser als andere Dramaturgen, dass die Menschen da draußen anders ticken als noch vor 50 Jahren."

Natürlich klingt so ein Satz ein wenig eitel, noch dazu aus dem Mund eines 39-Jährigen – selbst wenn der ihn sogleich relativiert. Doch schon nach fünf Minuten an einem Tisch mit Thomas Christoph Heyde wird klar: Der ist nicht selbstverliebt, auch nicht übertrieben überzeugt von seinem Dasein als Komponist und Künstler – Heyde hat einfach einen anderen Ansatz, wenn es darum geht, junge Menschen, Clubgänger, sein Publikum, für anspruchsvolle, zeitgenössische Musik zu begeistern:

"Wenn man nicht weiß, wie junge Menschen da draußen funktionieren, was sie denken, was sie fühlen, wenn man sich selber nie mal in einem Club bewegt hat, dann kann man für sie auch keine Konzeptionen entwerfen, die sie dann in die Konzerthäuser bringt."

Thomas Christoph Heyde weiß, wovon er spricht. Man trifft ihn in Clubs, er liebt elektronische Musik, schaut sich unbekannte Bands an. Das schon etwas lichte Haar trägt er kurz, dazu gern dunkle Sakkos zum weißen Hemd. Dutzende Konzerte hat der Leipziger organisiert und selbst gegeben, ein paar natürlich auch in etablierten Häusern. Viel lieber aber geht er raus, in Schwimmbäder und Straßenbahnen, ins Arbeitsamt, er scheut weder Bordell noch Fast-Food-Restaurant. Dort präsentiert er seinem Publikum dann durchaus schwer verdauliche Stücke, wie etwa die "Sterile Food Cantata", wo der Tenor neben Tönen auch noch Hamburger ausspuckt:

"Wir haben dann eben zehn Komponistinnen und Komponisten ausgewählt und die haben eben Werke dafür geschrieben, die sich mit dem Thema Essen beschäftigt haben."

"Durchaus kritisch, manchmal auch abstrakt. Und das ist glaube ich der Richtige Weg, sich einem Thema zu nähern."

Heyde komponiert seine moderne Musik ganz klassisch auf Papier
Freitagmittag in Thomas Christoph Heydes Büro, 2. Stock, Hinterhaus im eher unspektakulären Leipziger Osten. Ein aufgeklappter Laptop auf dem Schreibtisch, große Portrait-Fotografien an der Wand – natürlich mit Musikern – dazu ein aufgeräumter, kleiner Konferenztisch. Hier in diesem spartanisch eingerichteten Arbeitszimmer organisiert Heyde seine Konzertreihen. Komponiert wird zu Hause, trotz Familie mit drei Kindern. Allerdings schreibt er nicht am Laptop, wie man es bei einem modernen Komponisten vermuten würde:

" Ich schreibe richtig tatsächlich auf klassischem Notenpapier. Ich nehme also dieses leere Blatt, setze mich davor und beginne zu komponieren. Für mich ist das wie so ein Reinigungsakt, alle Rechner auszuschalten und dann loszulegen. Das musste ich eben auch erst lernen, das hat viele Jahre gebraucht, um damit auch ganz konsequent umzugehen."

Heydes Arbeitsraum gehört zum FZML, dem Forum für Zeitgenössische Musik Leipzig. Gegründet wurde dieses im Herbst 1990 von Mitgliedern des bedeutendsten DDR-Ensembles für Avantgarde-Musik: der Gruppe Neue Musik Hanns Eisler. Seit zehn Jahren ist Heyde künstlerischer Leiter dieses Forums. Der Komponist, Kurator und Medienkünstler kämpft gerade mit einer Erkältung, trotzdem liegt im Aschenbecher vor ihm eine halb aufgerauchte Zigarette. An Regeln habe er sich noch nie gern gehalten, meint der gebürtige Leipziger, was er sogleich auf seine Herkunft schiebt.

"Das war schon alles etwas komplizierter im Osten als Pfarrerskind auch. Ich hab dann erst einmal eine Ausbildung gemacht, bin ins Krankenhaus arbeiten gegangen, was glaube ich auch eine wichtige Erfahrung war für mein Leben. Das war alles mit vielen Verwerfungen geprägt und auch einer starken Selbst- und Sinnsuche."

Die Schulzeit in der DDR habe er gehasst, so Heyde, deshalb auch kein Abitur gemacht. Während seiner pharmazeutischen Ausbildung fällt die Mauer. Zwei Jahre arbeitet er als Pfleger im Krankenhaus, komponiert nebenher erste Stücke. Ein Sondertest öffnet ihm 1994 die Türen zur Leipziger Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy". Heyde studiert Komposition und Elektroakustische Musik, doch er will mehr:

"Sowohl ein Komponist sein zu wollen, mit vollem Ernst und Ehrgeiz und Nächte durchzuschreiben. Und gleichzeitig eben auch als Kurator und künstlerischer Leiter meine Interessen aufzunehmen und aufzusaugen, was draußen in der Welt los ist. Ich wollte immer Neugier in die Philosophie haben, in die Bildende Kunst, in die Medienkunst, in die Literatur."

Eine Frau beißt in einen Big Mäc in einem Mc-Donald's-Restaurant in Düsseldorf
Bei der "Sterile Food Cantata" spuckt der Sänger neben Tönen auch noch Burgerreste.© AP
Musik an Orten, wo andere ihre Freizeit verbringen
In seinen Kompositionen verbindet er Videos mit Sprach- und Raum-Klang, Elektronik mit klassischen Instrumenten. Heyde lädt Künstler und Musiker ein, mit ihm neue Wege in der Musik zu suchen – und im besten Fall auch zu finden. Seine Schaltzentrale ist das FZML. Hier arbeitet er auch politisch, mit Schülern und jungen Musikern. Projekte zu Toleranz und Demokratie sowie gegen Rassismus und Rechtsextremismus sind seit 2007 fester Bestandteil des Forums. Seine Musikreihen tragen den Titel "FreiZeitArbeit", womit er zeitgenössische Musik an Orte bringt, an denen die einen arbeiten, andere ihre Freizeit verbringen – und alle gemeinsam Musik erleben. Wie eben im Fast-Food-Restaurant – ohne Vorgaben, wie das zu funktionieren hat:

"Deswegen war es mir immer wichtig Räume zu schaffen, wo die Menschen Zeit haben in etwas richtig einzutauchen. Aber auch nicht das Gefühl haben: O mein Gott, wenn ich jetzt in mein Fäustchen hinein hüstele, dann werde ich schon des Saales verwiesen. Das finde ich ganz schrecklich. Ich glaube, Cage hat es in diesem Sinne auch mal so formuliert: Kompositionen, wo nicht mal zufällig auch ein anderes Geräusch passieren kann, sind für mich keine modernen Kompositionen."

Stichwort Cage. Heydes neuestes, derzeit wichtigstes FZML-Projekt läuft seit letztem Sommer und noch bis August 2013. Es heißt Cage 100 und ist ein fulminantes Musik- und Kunstprojekt mit Dutzenden Veranstaltungen in über 30 Ländern – eine Hommage an John Cage, zum 100. Geburtstag. Dieser Tage läuft gerade das "Water Music Project" mit spektakulären Klavierkonzerten in neun verschiedenen Städten: zu hören unter anderem in Lyon, Kiew und Addis Abeba – und natürlich auch in Leipzig.
Der Komponist John Cage im Jahr 1989.
Als nächstes steht für Heyde eine Hommage an den Komponisten John Cage auf dem Terminplan.© AP
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