Zwischen Fest und Folter

Von Christian Ulmcke · 10.09.2007
Die Treffen der Gruppe 47 bedeuteten für junge Schriftsteller eine Chance auf Erfolg, aber auch das Risiko der öffentlichen Demütigung. Kritiker konnten sich profilieren, für Lektoren und Verlage waren die Tagungen eine Art Talentschau, und für die Medien und die Öffentlichkeit stellten sie die Verkörperung deutscher Literatur dar.
"Ich habe immer gerne Feste gegeben, und jetzt gebe ich einmal im Jahr ein Fest, das nennt man die Gruppe 47, dieses Fest. Und ich lade alle Leute ein, die mir passen, die mit mir befreundet sind, und wir lesen uns gegenseitig vor und amüsieren uns und reden sehr viel und tanzen abends. Und es ist ein Fest, das drei Tage dauert, und dann gehen wir alle wieder auseinander, und der Freundeskreis existiert immer, und den nennt man Gruppe 47."

So beschreibt Hans Werner Richter die von ihm gegründete Gruppe und ihre legendären Tagungen. Am Anfang steht ein kleiner Kreis von Schriftstellern, der sich am 10. September 1947 am Bannwaldsee in der Nähe von München trifft. Wenige Monate zuvor mussten Richter und der Dichter Alfred Andersch die Redaktion der Zeitschrift "Der Ruf" auf Druck der amerikanischen Militärregierung verlassen, da ihre sozialistisch-humanistische Ausrichtung und ihre Kritik an den Alliierten unbequem geworden waren. Nun will Richter zusammen mit einigen seiner früheren Kollegen die Gründung eines literarisch-satirischen Magazins vorbereiten.

"Die Besprechung wird von mir geleitet. Ich bin der Einlader zu diesem Treffen und für die ehemaligen Mitarbeiter des 'Ruf' auch immer noch dessen Herausgeber. So hocken wir im Kreis herum auf dem Fußboden in Ilse Schneider-Lengyels Wohnstube, manche mehr liegend als sitzend, hören zu, angestrengt, konzentriert, und nur selten geben wir unserer Zustimmung oder unserem Missfallen durch Kopfnicken, Lachen oder irgendwelchen Gesten Ausdruck. Es gibt keine Zwischenrufe, keine Zwischenbemerkungen. Neben mir auf dem Stuhl nimmt der jeweils Vorlesende Platz."

Die Zeitschrift wird nie erscheinen, aber die Vorgehensweise der gemeinsamen Lektüre und Kritik wird das Vorbild für die Tagungen der Gruppe 47, die von nun an jährlich stattfinden, und deren erklärtes Ziel die Förderung einer neuen deutschen Literatur ist. Zur Gruppe gehört, wer eingeladen wird, und das bleibt allein Hans Werner Richter überlassen. Der Erfolg der Gruppe 47 zeigt sich schon darin, dass sie in den 50er Jahren ein regelrechtes Who-Is-Who deutschsprachiger Schriftsteller wird. Ingeborg Bachmann, Martin Walser, Enzensberger, Böll, Ilse Aichinger, Fried, Johnson - kaum ein Name aus der deutschen Literaturgeschichte dieser Zeit fehlt. Günter Grass liest 1958 das erste Kapitel der "Blechtrommel" vor und gehört fortan zu den immer wieder Geladenen. Mit dem Kreis der Autoren wächst auch das Interesse der Medien für die Tagungen. Bald wird der Vorleseplatz neben Richter "Der elektrische Stuhl" genannt, denn die Dichter und Kritiker sind nicht zimperlich. "Eingeladen, meiner Hinrichtung beizuwohnen", nennt es der Dichter Guntram Vesper später. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki erinnert sich:

"Charakteristisch für Richter: Es lasen manchmal schreckliche Langweiler, miserable Autoren und alle langweilten sich. Was tun? Wir gaben dem Richter Zeichen. Vor allem die Kritiker und die, die so vorne saßen, gaben so Zeichen: 'Um Gottes Willen, mach Schluss!' Der Autor, der vorlas, hat nichts gemerkt. Der las, der sah nur sein Manuskript.

Es durfte nicht diskutiert werden über Literatur, über Politik - alles war verboten. Es wurde ein Stück Prosa oder ein paar Gedichte gelesen, und dazu musste man sich äußern, und wenn jemand anfing von 'Strömungen', hat er gleich abgebrochen."

Die Gruppe 47 hat ihr Ziel, eine neue deutsche Nachkriegsliteratur aufzubauen, erreicht. Aber in den 60er Jahren wird langsam deutlich, dass die Mitglieder der Gruppe jetzt nicht mehr die jungen Revolutionäre sind, sondern zum Establishment gehören. Die aufkommende Studentenbewegung sieht sie als einen elitär-konservativen Zirkel literarischer Monopolisten, und Richters Dogma der politischen Neutralität führt zu Spannungen innerhalb des engeren Kreises. Auch die literarische Relevanz der Gruppe 47 wird schließlich in Frage gestellt; so findet die beißende Kritik eines jungen Autors namens Peter Handke bei der Tagung in Princeton 1967 unerwartete Resonanz in den deutschen Medien.

Handke: "Aber es ist zu beobachten, dass also vor allem die Errungenschaften dieser neuen Literatur in einer Negation bestehen, dass also die Fehler oder die Klischees der alten Literatur zwar abgeworfen wurden, dass aber das Heil keineswegs in einer neuen Position gefunden wurde, sondern in einer ganz primitiven und öden Beschränkung auf diese sogenannte neue Sachlichkeit."

Die Ermüdungserscheinungen machen sich immer stärker bemerkbar, und nachdem 1968 die Tagung in Prag wegen des Einmarsches der Roten Armee nicht stattfinden kann, lädt Hans Werner Richter zu keinem weiteren Treffen ein. Die Zeit der Gruppe 47, die die deutsche Nachkriegsliteratur und viele der auch heute noch prägenden Autoren der deutschen Literaturlandschaft bestimmt hat, ist vorbei.