Zwischen Demokratieverachtung und Mut zur Utopie

Von Jürgen König · 11.09.2013
30 Prozent der Deutschen gehen nicht zur Wahl. Der Anteil der Nichtwähler ist in den vergangenen Jahren immer größer geworden. Eine Entwicklung, mit der sich auch führende Intellektuelle befassen: "Wählen gehen!" war eine Debatte in der Berliner Akademie der Künste überschrieben.
"Wählen gehen!" – der Titel gab den Imperativ, doch keiner im Saal gab den bekennenden Nichtwähler. Die, um die es ging, waren nicht da – oder machten sich nicht bemerkbar. So brachte der Abend Vermutungen über die Wahlmüdigkeit, Gedanken, wie sie zu beheben sei: ein öffentliches Nachdenken, kein Streitgespräch. Seit Jahrzehnten geht die Wahlbeteiligung in Deutschland zurück, fast ein Drittel der Wahlberechtigten blieb der letzten Bundestagswahl fern, rund 18 Millionen Menschen, die große Mehrheit kommt aus den einkommensschwachen Schichten, vom "Wahlprekariat" sprechen manche Soziologen. Dass auch so manch prominenter Intellektueller sich für das Nicht-Wählen stark machte, erregte allenthalben den Zorn der 50. Akademie-Gesprächsrunde. Befragt nach dem "dümmsten Argument von Nicht-Wählern", das er in den letzten Wochen gehört habe, zitierte der Schriftsteller und Journalist Mathias Greffrath den Sozialpsychologen Harald Welzer und den Herausgeber der "Zeit", Josef Joffe.

"Zweiter Preis an Harald Welzer mit dem Argument, das ist eine Einheitsfront von CDU bis zu den Grünen und drüber hinaus und der erste Preis an Josef Joffe, der gesagt hat: ‚nicht wählen ist ein Zeichen dafür, dass ein Grundvertrauen in die Stabilität der Demokratie da ist‘ – es ist das Grundvertrauen einer inzwischen parasitär werdenden Mittelschicht, dass die unten nichts tun werden."

Die bequemste Ausrede
Akademie-Präsident Klaus Staeck: "Was mich stört, ist dieses mantrahafte immer Wiederholen, dass alle doch austauschbar und gleich sind. Wer da wirklich auf die verwegene Idee kommt, dass die Linke zum Beispiel eine Partei ist, die zur Wahl steht, und die CSU - eigentlich das gleiche vertreten würden: Das ist doch einfach Schwachsinn … Und das wissen die Leute auch. Aber es ist die bequemste Ausrede auch zu sagen: ‚Ich muss mich eh in diesem komischen Betrieb Demokratie nicht mehr einmischen, sondern das ist alles eine Einheitssoße‘, und das find ich sträflich."

Für den Film- und Theaterregisseur Andres Veiel hat dieses verbreitete Empfinden einer "Einheitssoße" und die daraus resultierende Wahlmüdigkeit durchaus einen "realen Kern", den man ernst nehmen müsse.

"Die Politik von Rot-Grün und der Großen Koalition – da sind entscheidende Weichen gelegt worden; was die Finanzpolitik angeht, Deregulierung: Das ist ja alles von Rot-Grün und auch besonders von einem Herrn Steinbrück in die Wege geleitet worden. Wenn heute eben ein Feuerlöscher sagen will: ‚Ich war damals vielleicht auch irgendwo auch Brandstifter, vielleicht nicht mutwillig, aber zumindest fahrlässig …‘, dann verliert er natürlich eine Glaubwürdigkeit. Und das muss auch ganz realistisch sehen, dass dadurch natürlich genau dieser Missstand, den Welzer beschreibt: Das gibt dabei ein reales Unbehagen."

Die Moderatorin Bascha Mika, Journalistin und Publizistin: "Diese intellektuellen Nicht-Wähler, die sehen die Angriffsfläche, die die Politik bietet und sagen, zum Beispiel Heinz Bude sagt das, der Soziologe: ‚Wir wollen das System in Unruhe versetzen. Wir wollen durch unser Nicht-Wählen sozusagen ein Fanals setzen und die Politik endlich mal dazu bringen, etwas zu tun.‘"

Klaus Staeck: "Ich glaube, dass ist intellektuelle Anmaßung und völlige Überschätzung. Und ich will mal was ganz Böses sagen: Ein Albtraum wäre für mich ein Kabinett aus Künstlern und Intellektuellen."

Klaus Staeck warb für das Ansehen der Politik, man solle nicht alles pauschal schlecht reden. Bei der Frage: Was tun? - um Politik wieder näher an die Menschen bringen, um die Wahlmüden wach zu machen, bekam die Debatte resignative Züge. Selbst bei Lehrern habe er "Demokratieverachtung" erlebt, erzählte Andres Veiel. Der Sozialphilosoph Oskar Negt klagt, die politische Urteilskraft der Bürger werde seit langem schon nicht mehr geschult und verkomme; die Gefahr, eine entpolitisierte Masse könne populistischen Politverführern erliegen, nehme ständig zu.

50 Leute können ganz Berlin auf den Kopf stellen
"Wenn die Demokratie sich so aushöhlt als ein System, das auch Probleme, Lebensprobleme lösen kann, dann wird es wirklich gefährlich. Und was fehlt, ist eine gesellschaftliche Alternative. Die gibt es nicht bei den Gewerkschaften, die gibt es nicht bei den Parteien, die gibt es eigentlich nur im Kleinstbereich."

Im Kleinstbereich: im Alltag. Klaus Staeck findet das gut. Über kleine Gruppen sei Veränderung machbar.

"Wenn 50 Leute in Berlin sich einig sind, dafür oder dafür! ... wirklich einig sind, ich stelle Ihnen die ganze Stadt auf den Kopf! Weil das so ein breiiger Zustand ist, gerade deshalb! Und ich komme immer mehr zu der Überzeugung, die wirklichen Revolutionäre der Zukunft werden ganz andere Leute sein!"

Den breiigen Zustand beenden, die Stadt auf den Kopf stellen, die "Revolutionäre der Zukunft" – mit großen Worten wurde die Zukunft beschworen, als müsse man sich gegenseitig Mut machen. Vom "Mut zur Utopie" sprach Oskar Negt, lange schon hat man diesen Begriff nicht mehr auf öffentlichen Podien gehört.

"Wenn die Menschen nicht, was über die Dinge hinausgeht, wissen, dann wissen sie auch nicht, was die Dinge sind, hat Adorno einmal gesagt. Und ich glaube, diesen Mut zur Utopie, wenn der verloren geht in einer Gesellschaft, dann wird es realpolitisch so, dass die Katastrophe sich eigentlich abzeichnet."