Zwischen Abrüstung und nuklearer Anarchie

Oliver Thränert im Gespräch mit Susanne Führer · 10.09.2009
Sollten der Iran und Nordkorea in den Besitz von Atomwaffen gelangen, droht nach Einschätzung von Oliver Thränert von der Stiftung Wissenschaft und Politik eine weltweite nukleare Aufrüstung.
Susanne Führer: Vor 20 Jahren, als der Kalte Krieg zu Ende ging, gab es eine kurze, schöne Zeit, in der viele dachten, nun werde die Welt friedlicher, Mauern und Grenzzäune abgebaut, die Feinde werden zu Partnern und Atomwaffen verschrottet. Doch nicht nur Henry Kissinger ist der Meinung, dass die Möglichkeit eines Einsatzes von Nuklearwaffen heute größer ist als zu Zeiten des Kalten Krieges. Und unter anderem aus diesem Grund veranstaltet die Heinrich Böll Stiftung in Berlin heute und morgen eine international besetzte Konferenz über die Gefahr einer atomaren Anarchie. Einer der Referenten auf dieser Konferenz ist Dr. Oliver Thränert von der Stiftung Wissenschaft und Politik und jetzt bei mir im Studio. Guten Tag, Herr Tränert!

Oliver Thränert: Schönen guten Tag!

Führer: Zu Zeiten des Kalten Krieges gab es den Grundsatz: Wer anfängt, stirbt als Zweiter. Warum gilt diese Abschreckungsdoktrin heute nicht mehr?

Thränert: Zunächst: Sie haben Recht, die USA und die damalige Sowjetunion haben im Kalten Krieg eine relativ stabile Abschreckungssituation darstellen können, aber erst, nachdem sie 1962 im Zuge der Kubakrise sozusagen am Rande der nuklearen Eskalation waren. Diese Krise konnte damals mehr oder weniger mit Glück bewältigt werden, wenn man den Erinnerungen des damaligen, amerikanischen Verteidigungsministers McNamara Glauben schenkt. Ob dieses nun gelingen wird, auch mit immer mehr Atommächten diese Situation so zu gestalten, dass es nicht zu einer nuklearen Eskalation kommt, ist eine außerordentlich fragliche Geschichte. In der Tat, es gibt immer mehr Staaten, die nach Nuklearwaffen zu streben scheinen. Es ist fraglich, ob sie ähnliche Krisenüberwindungsmechanismen entwickeln werden wie rote Telefone oder Kommunikationsstränge wie die Sowjets und die Amerikaner es getan haben während des Kalten Krieges. Einige dieser Länder sind möglicherweise auch innenpolitisch sehr instabil wie beispielsweise Pakistan, und nicht zuletzt gibt es einige Länder, die aufgrund ihrer geografischen Situation wahrscheinlich keine sogenannte Zweitschlagkapazität jemals entwickeln werden können, die also darauf angewiesen sind, dass ein Nuklearschlag auf jeden Fall verhindert werden muss, weil jeder Einsatz von Atomwaffen ihr staatliches Ende bedeuten würde.

Führer: Das wäre Israel.

Thränert: Richtig, ich denke da insbesondere an Israel, solche Länder.

Führer: Also das heißt, das Risiko, dass die anfangen, ist wesentlich größer, weil sie sagen, wenn wir erst mal getroffen werden, dann können wir uns nicht mehr wehren, um es jetzt mal so auf Plattdeutsch zu sagen.

Thränert: Das ist die Gefahr, die besteht vor allen Dingen dann, wenn es im Zuge einer iranischen Atombewaffnung zu einer weiteren nuklearen Aufrüstung im Nahen und Mittleren Osten kommt. Weitere Länder wie Ägypten oder auch Saudi-Arabien könnten sich Atomwaffen verschaffen, das …

Führer: Moment, jetzt mal einen Schritt zurück, ich glaube, wir sollten erst noch mal rekapitulieren mit diesen Ländern: Es gibt diese fünf großen Offiziellen, die dürfen Atomwaffen haben, USA, Russland, Großbritannien, Frankreich und China. Dann gibt es Indien und Pakistan, die haben immerhin offiziell zugegeben, wir haben welche, obwohl sie es eigentlich nicht dürfen. Von Israel wird es seit Jahrzehnten stark vermutet, die haben es aber bis heute nicht zugegeben, und dann gibt es noch Nordkorea, die lassen wir jetzt vielleicht mal außen vor. Und der Iran will unbedingt in diesen Club dazustoßen. Jetzt fragt man sich: Warum würde das die Gefahr so erhöhen, wenn jetzt der Iran auch Atomwaffen hätte?

Thränert: Nun, Iran bedeutet, dass sozusagen die gesamte internationale nukleare Nichtverbreitungsnorm wahrscheinlich dann nicht mehr zu halten wäre. Es würde die Gefahr bestehen, dass weitere Länder sich Atomwaffen beschaffen, gerade im Nahen und Mittleren Osten, denn Iran wäre sozusagen Nordkorea der zweite, wahrscheinlich entscheidende Fall eines Landes, das dem Atomwaffensperrvertrag als Nicht-Kernwaffenland beigetreten wäre, dann aber doch die Entscheidung getroffen hätte, sich gegen den Willen der internationalen Staatengemeinschaft Atomwaffen zu verschaffen und wenn die internationale Staatengemeinschaft nicht in der Lage wäre, dieses zu verhindern, dann wäre sozusagen die Norm, auf Atomwaffen zu verzichten, kaum noch zu halten und dann würden wir wahrscheinlich in schon wenigen Jahren möglicherweise 10, 15, 20 Kernwaffenstaaten sehen auf dieser Welt.

Führer: Das heißt, wenn der Iran Atomwaffen hat, dann würden, nennen wir mal ein paar Beispiele, Ägypten, Türkei, Saudi-Arabien, würden dann sagen: Dann wollen wir auch?

Thränert: Das ist eine Möglichkeit, was den Nahen und Mittleren Osten anbelangt. Es ist aber auch so, dass schon jetzt, aufgrund des nordkoreanischen Atomwaffenprogramms es ist Ostasien Probleme gibt. Dort haben Südkorea und Taiwan in der Vergangenheit bereits Atomwaffenprogramme unterhalten. Sie wurden von den Amerikanern in den 70er- und 80er-Jahren sozusagen überredet, auf diese Projekte zu verzichten, aber wenn Nordkorea sich als Atomwaffenland etabliert, dann besteht die Gefahr, dass diese Länder – aber vor allen Dingen auch Japan – in den kommenden Jahren für die eigene nukleare Abschreckung zu eigenen Atomwaffen greifen. Ob diese Situation wie die Situation im Kalten Krieg mit diesen vielen Spielern auf die Dauer stabilgehalten werden kann, würde ich für ein soziales Experiment halten, dessen Ausgang logischerweise offen wäre.

Führer: Herr Thränert, Sie haben gerade mehrfach von der Norm gesprochen, die ist ja festgelegt im Atomwaffensperrvertrag, ich glaube, offiziell heißt er "Nuklearer Nicht-Verbreitungsvertrag", den diese fünf offiziellen Atommächte unterzeichnet haben und ich glaube 184 andere Staaten, andere nun wiederum nicht, eben Indien und Pakistan zum Beispiel, Israel auch nicht, Nordkorea auch nicht. Der wird turnusmäßig alle fünf Jahre überprüft und jetzt, kommendes Frühjahr ist der nächste Termin, und den halten die Experten alle für einen besonders wichtigen. Warum?

Thränert: Ja, es kommt einfach darauf an, dass die Vertragsstaatengemeinschaft, die, wie Sie hier richtig sagen, aus nahezu allen Ländern dieser Erde besteht, noch einmal zeigt und sich vergewissert, dass die drei Grundpfeiler dieses Vertrages im allgemeinen Interesse der Vertragsstaaten sind. Und die drei Grundpfeiler bestehen darin, dass außer den von Ihnen fünf genannten, offiziellen Kernwaffenmächten alle anderen dauerhaft auf Kernwaffen verzichten, dass diejenigen Staaten, die über Kernwaffen verfügen, bei der nuklearen Abrüstung Fortschritte machen und drittens, dass alle Staaten den Zugang zur zivilen Nutzung der Kernenergie haben, woran übrigens immer mehr Länder Interesse zeigen, dass diese zivile Nutzung der Kernenergie aber nicht zu militärischen Zwecken missbraucht wird. Das sind die drei Grundpfeiler des Atomwaffensperrvertrages und es kommt einfach darauf an, dass die Vertragsstaatengemeinschaft noch mal zeigt, jawohl, wir wollen sozusagen daran weiterarbeiten, dieses Vertragswerk entspricht weiterhin unseren nationalen Interessen. Sollte dieses nicht geschehen, sollte die Konferenz wie zum Beispiel 2005 wieder scheitern, dann würde die nukleare Nichtverbreitungsnorm brüchig und hier bestünde die Gefahr, dass vor allen Dingen dann, wenn auch Iran mit seinem Atomprogramm weitermacht, diese Nichtverbreitungsnorm nicht mehr zu halten ist.

Führer: Es gab ja nun Hoffnung, ich habe eingangs Barack Obama in Prag zitiert, als er von einer atomwaffenfreien Welt gesprochen hat. Inzwischen gab es ja auch Gespräche mit dem russischen Präsidenten Medwedew und beide haben gesagt, sie wollen in die atomare Abrüstung einsteigen. Und dieser nukleare Nichtverbreitungsvertrag sieht das ja auch etwas verklausuliert vor eigentlich, dass die offiziellen Atommächte dazu verpflichten. Sehen Sie denn, Herr Thränert, dass die Chancen dafür gestiegen sind?

Thränert: Ich gehe davon aus, dass Obama und Medwedew, dass die USA und Russland noch in diesem Jahr einen neuen Abrüstungsvertrag über strategische Kernwaffen unterzeichnen werden. Er wird wahrscheinlich erst im nächsten Jahr durch die Duma und den amerikanischen Kongress ratifiziert werden. Dieses Vertragswerk würde eine gewisse Beschränkung strategischer Kernwaffen der beiden Länder bedeuten, wahrscheinlich aber nicht den Abrüstungserwartungen der meisten Nicht-Kernwaffenstaaten entsprechen, das heißt, Amerika und Russland wären gefordert, nach diesem Vertrag weitere Abkommen anzustreben, die die nukleare Abrüstung voranbringen, und daneben wäre es auch notwendig, die anderen Kernwaffenmächte, also Frankreich, Großbritannien und China, schrittweise in diesen Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozess einzubeziehen. Das wären die nächsten Aufgaben. Außerdem: Sehr wichtig für die Nicht-Kernwaffenstaaten ist auch, dass das Abkommen über das Verbot nuklearer Tests, das viele Staaten von ihnen schon unterschrieben und ratifiziert haben, auch tatsächlich in Kraft tritt. Dafür wäre es unter anderem notwendig, dass der amerikanische Kongress im nächsten Jahr dieses Abkommen ratifiziert. Obama arbeitet daran, aber er hat noch nicht die Mehrheit, weil er die Zustimmung nicht nur der Demokraten braucht, sondern auch von mindestens sieben republikanischen Senatoren.

Führer: Nun haben wir die ganze Zeit von Staaten und Regierungen gesprochen. Diese atomare Anarchie fürchten ja viele auch, weil sie Angst haben, dass sich Terroristen in den Besitz einer Atombombe bringen können. Kurz zum Schluss, Herr Thränert: Wie groß ist diese Gefahr tatsächlich?

Thränert: Ich glaube, die Gefahr, dass Terroristen sich in den Besitz einer schmutzigen Bombe bringen oder eine solche bauen, die …

Führer: Schmutzige Bombe, sollten wir erklären, ist keine Atombombe.

Thränert: Wollte ich gerade tun. Das ist sozusagen ein konventioneller Sprengsatz, der mit radioaktiven Materialien ummantelt ist. Das ist dann keine Kernexplosion, aber es könnte durchaus schon zu einer radioaktiven Verseuchung, einer Kontamination kommen. Eine richtige Kernwaffe, wie sie im Besitz von Staaten derzeit ist, traue ich Terroristen für die nächste Zeit nicht zu.

Führer: Oliver Thränert von der Stiftung Wissenschaft und Politik über die Gefahren einer atomaren Anarchie. Heute und morgen veranstaltet die Heinrich Böll Stiftung in Berlin dazu eine international besetzte Konferenz und ich danke herzlich für Ihren Besuch, Herr Thränert.

Thränert: Sehr gern!