Zwiesprache mit einem überzeitlichen Du

17.01.2011
Loerke findet über das Hören ins Weltganze. Seine Gedichte greifen in die Horizontale und in die Vertikale, wobei er in den Bäumen und im Meer jene Riesen findet, die das Ich dazu einladen, sich in ihnen zu spiegeln.
"Die liebe Stadt liegt unten winterlich,
Ein Mumienleib mit lebendem Geäder.
Darinnen stößt sich fort und wendet sich
und sucht ein Herz umsonst der Strom der Räder"


heißt es in Oskar Loerkes Gedicht "Abstieg zur Unterweltstadt". Dieses von Vergeblichkeit erzählende Gedicht findet sich in Loerkes letztem Gedichtband "Der Wald der Welt" (1936). Dass es neben der Stadt und dem Meer insbesondere der Wald ist, dem sich Loerke in seinen Gedichten immer wieder zuwendet, darauf macht Lutz Seiler in seinem einleitenden Essay aufmerksam. Als Vorwort ist er der zweibändigen Ausgabe von Loerkes "Sämtlichen Gedichten" vorangestellt, die jetzt im Wallstein Verlag erschienen sind. Der Wald, so heißt es in dem Gedicht "Webstuhl", hat an der Formung des lyrischen Ich teil:

"Mich trägt und stößt und hemmt eine Scheu,
Ich laufe wie eine kleine Spule
Im schwarzen Tannenwebstuhle:
Er webt mich neu."


Im Zeitraum von etwa 25 Jahren hat Loerke sieben Gedichtbände veröffentlicht, die er sein "Siebenbuch" nennt. Danach erscheinen noch, aber nur als Manuskript und in geringer Auflage, "Der Steinpfad" (1938) und "Kärntner Sommer" (1939).

Als Loerke 1911 seinen ersten Gedichtband unter dem Titel "Wanderschaft" vorlegt, wohnt der 1884 in Jungen (heute Wiag) an der Weichsel geborene Dichter bereits in Berlin. Dort hat er 1903 begonnen, Germanistik, Geschichte, Philosophie und Musik zu studieren. Er verlässt die Universität 1907 ohne Examen. Nach seinem Debüt als Erzähler, bereits 1907 erschien bei S. Fischer seine Erzählung "Vineta", versucht er sein Glück als freier Schriftsteller. Auf ausgedehnten Wanderungen durchstreift er den Harz und das Riesengebirge und besucht 1910 Paris. Seit 1917 arbeitet er als Lektor im S. Fischer Verlag, wo er zunächst das Werk von Gerhart Hauptmann und später auch das von Thomas Mann und Alfred Döblin betreut.

"Ich kam aus der Ebene und ersehnte das Gebirge", heißt es in Loerkes Essay "Meine sieben Gedichtbücher". Darin beschreibt er den Rhythmus seiner Gedichtbände als ein architektonisches Gleichnis. Rhythmus ist ihm "drängendes, suchendes, abenteuerwilliges Element. Er misst beharrlich die Gegensätze und Abstände im All".

Loerke findet – darin ist ihm Lutz Seiler nahe – über das Hören ins Weltganze. Seine Gedichte greifen in die Horizontale und in die Vertikale, wobei er in den Bäumen und im Meer jene Riesen findet, die das Ich dazu einladen, sich in ihnen zu spiegeln. Zaghaft und tastend ist Loerkes Sprache. In den Gedichten sucht er Zwiesprache mit einem überzeitliche Du. In Loerkes schönsten Versen finden in einer Augenblickskonstellation Erzählender und Hörender zueinander.

Der 1941 in Berlin-Frohnau verstorbene Loerke kann in dieser sehr schönen Ausgabe in seinen Gedichten neu entdeckt werden. "Hören was ankommt und genießen", empfiehlt Lutz Seiler als Möglichkeit, sich Loerkes Gedichten zu nähern. Wer diesen Ratschlag befolgt und sich "unverkrampft" auf Loerkes Sprache einlässt, der wird erstaunliche Entdeckungen machen.

Besprochen von Michael Opitz

Oskar Loerke: Sämtliche Gedichte
Herausgegeben von Uwe Pörksen und Wolfgang Menzel mit einem Essay von Lutz Seiler
Wallstein Verlag, Göttingen 2011
Zwei Bände, 1076 Seiten, 45 Euro