Zweites Album von Maarja Nuut

Hypnotische Geigen aus Estland

Die estnische Sängerin und Geigerin Maarja Nuut
Die estnische Sängerin und Geigerin Maarja Nuut © Kaupo Kikkas
Von Kerstin Poppendieck · 16.06.2016
Zuerst entsteht der Klang im Kopf, dann sucht Maarja Nuut auf der Violine nach diesem Sound. Ihre Musik ist eine außergewöhnliche Mischung aus Geige, Gesang und Effekten aus dem Loop-Gerät. Jetzt erscheint ihr zweites Album "Une Meeles": mystisch, meditativ, zwischen Traum und Wirklichkeit.
"Ich suche ständig nach unterschiedlichen Klängen und Texturen. Zuerst stelle ich mir einen Klang in meinem Kopf vor und dann suche ich nach einer Möglichkeit, diesen Klang auf der Geige zu erzeugen. Ich verwende auch verschiedene Geigen und stimme diese unterschiedlich, um den Klang zu variieren."
Vier Jahre war Maarja Nuut gerade mal alt, als sie das erste Mal ein Orchester sah, und mit dem Finger auf die Geiger zeigte. Zum nächsten Geburtstag bekam sie eine Geige geschenkt und seitdem ist sie ihr Instrument. Die Musikerin ist fasziniert von der traditionellen Musik Estlands, den Tänzen und Geschichten der alten Dörfer im Norden des Landes. Daraus kreiert sie ihre ganz eigene Musik und entspricht damit ganz offensichtlich einem Trend in ihrer Heimat.
"Traditionelle Musik ist in Estland gerade sehr hip und angesagt. Es gibt immer mehr junge Menschen, die sich damit beschäftigen. Wenn man zum Beispiel zu einem Folkmusik-Konzert geht, dann trifft man dort größtenteils junge Leute. Es gibt in Estland zwei Universitäten, an denen man Folkmusik studieren kann. Außerdem machen viele Leute hier Musik und spielen Instrumente. Und wenn Menschen von sich aus traditionelle Musik spielen, dann wird diese Musik ganz automatisch bewahrt."

Einflüsse der traditionellen Musik Estlands

Es ist das mystische, geheimnisvolle, das Maarja Nuut an der traditionellen Musik Estlands mag. Die Grenzen zwischen Realität und Traum verschwinden und man kann mit der Musik von einer Wirklichkeit in die nächste reisen. Maarja Nuut arbeitet dabei elektronische Klänge und Feld-Aufnahmen ein. Alles sehr minimalistisch. Markant an ihrer Neuinterpretierung der traditionellen Musik sind Loops, Wiederholungen und musikalische Schleifen.
"Ich hatte schon immer eine Faszination für Wiederholungen. Nicht nur in der Musik, sondern bei jeder Art von Klängen oder Geräuschen. Zum Beispiel das Ticken einer alten Uhr in einem sonst stillen Haus. Wenn ich diese Uhr höre, fange ich im Kopf sofort an, aus diesem Ticken eine Melodie zu entwickeln. Oder wenn man eine Treppe hoch läuft und auf seine eigenen Schritte hört. Dabei gibt es einen Rhythmus, der sich immer wieder wiederholt. "

Bezüge auf Märchen, Sagen und Kinderspiele

Entstanden ist ein hypnotisches Album. Durch die vielen Loops hat die Musik etwas Meditatives. Sie ist ruhig ohne dabei eintönig zu sein. Die Texte gehen auf traditionelle Geschichten Estlands zurück, die Maarja Nuut schon als Kind gehört hat. Märchen, Sagen, Kinderspiele.
"Es gibt das Lied "Hoopusemeng", was soviel heißt wie Pferdespiel. Es ist ein altes Gesangsspiel, ein Kreisspiel. Die Mitspieler stehen im Kreis, fassen sich an den Händen und bewegen sich zum Rhythmus des Gesangs. In diesem Kreis steht ein Pferd, das sich verirrt hat. Dann hole ich einen Wolf dazu und bitte ihn, dem Pferd das Genick zu brechen. Wenn das Pferd tot ist, ist das Spiel vorbei.
Jetzt kann man sich natürlich fragen, worum wir solche gewalttätigen Spiele spielen, bei denen es um's Töten geht. Aber dieses Spiel ist schon sehr, sehr alt, aus einer Zeit, als Spielen noch viel mit Ritualen zu tun hatte. Der Gedanke dahinter ist ganz einfach. Alles, was du nicht willst, dass dir im wahren Leben passiert, erlebst du im Spiel. Dadurch entsteht ein Schutzmantel. Dieses Pferdespiel ist also eine Art Anti-Fluch. Je mehr Pferde im Spiel getötet werden, um so besser geht es den Pferden im echten Leben."

"Eine Stimme ist ein Instrument"

Geige, Stimme, Loop-Maschine - mehr braucht Maarja Nuut nicht, um ihre außergewöhnliche Musik zu erzeugen. Oftmals reicht ein Geigenmotiv, aus dem sich dann ein ganzes Lied entwickelt. So wie sie selbst wirkt auch ihre Musik schüchtern und zurückgenommen, und genau das macht den Reiz aus, denn dadurch hört man noch genauer hin. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sie auf Estnisch singt, und so diese Musik noch mystischer klingt. Wahrscheinlich ist es am Ende die Summe aus Allem: Maarja Nuuts beeindruckendes Geigenspiel, ihre spannenden Arrangements und der außergewöhnliche Einsatz ihrer Stimme, die manchmal einfach nur Silben singt.
"Eine Stimme ist ein Instrument. Für mich das intimste Instrument, das es gibt. Wenn ich singe, dann nutze ich meine Stimme als Rhythmusinstrument. Aber am Ende geht es immer darum Musik zu erschaffen. Dafür gibt es verschiedene Werkzeuge. Für mich sind das meine Geigen und meine Stimme."
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