Zweite Chance für die Menschheit

04.04.2011
Wintersons Roman entfaltet die Vision einer Welt, die vom unmittelbaren Kollaps bedroht ist, denn die Ressourcen sind aufgebraucht. Da wird ein neuer Planet entdeckt, der eine für Menschen lebbare Atmosphäre besitzt.
Billy Crusoe (!) macht sich unbeliebt. Anders als ihre Zeitgenossen lässt sie sich nicht dauerhaft genfixieren, um ewig jung zu sein. Billy findet das abstoßend – wie sie vieles abstoßend findet an der schönen neuen Welt in einer nicht näher spezifizierten Zukunft (oder ist es die Vergangenheit?), in der alles von einem Konzern namens "MEHR" kontrolliert wird. Roboter verrichten die Arbeit. Die Menschen sind auf Oberflächen, ewige Jugend, Schönheit und Konsum fixiert.

"Brave New World, "1984" und andere Dystopien des 20. Jahrhunderts lassen grüßen. Wintersons Roman entfaltet die aktualisierte Vision einer Welt, die vom unmittelbaren Kollaps bedroht ist, denn die Ressourcen sind aufgebraucht. Da wird ein neuer Planet entdeckt, der eine für Menschen lebbare Atmosphäre besitzt. Die Menschheit bekommt eine zweite Chance. Und Billy gehört zu denjenigen, die dorthin fliegen dürfen – ein Ausweg, um der Verhaftung zu entgehen.

Mit von der Partie ist Spike, ein intelligenter weiblicher Roboter von atemberaubender Schönheit. Eine unerhörte, nicht zugelassene Liebe zwischen Homo und Robo sapiens blüht auf, die nur im Anderswo funktionieren kann – würde das Anderswo nur lang genug existieren. Der traumschöne Blaue Planet wird binnen Tagen von den Einwanderern zerstört. Mit einer unbedachten Tat lösen sie eine Kettenreaktion aus, die eine Eiszeit zur Folge hat.

Cut. Wir sind im Jahr 1774, und Billy, ein junger Seemann, strandet auf den Osterinseln, wo er zu überleben sucht – wie einst Robinson Crusoe. Billy verfällt Spikkers, einem seltsamen Mann, der durch einen Mord ums Leben kommt.

Cut. Wir sind – ja wann? Nach Weltkrieg 3 jedenfalls. Die Welt wird kontrolliert von dem Konzern "MEHR". Wieder gibt es eine Billy und eine Spike, aber sie haben andere Persönlichkeiten. Eines Tages geraten sie in die verbotene Zone derjenigen, die sich der keimfreien und gleichgeschalteten Welt entzogen haben. Gleich nebenan ist ein versteinerter Wald, in dem die Überlebenden der nuklearen Katastrophe leben: verstümmelt, mutiert. Und dann schließt sich der Kreis. Eine Botschaft wird aus dem All aufgefangen: ein Programmiercode für einen "Robo sapiens". Es ist eine Botschaft, die Billy und Spike Millionen Jahre zuvor von dem Blauen Planeten losgeschickt haben, bevor alles zu Ende ging.

Alles ist mit allem verbunden - das erinnert an vormoderne Vorstellungen vom Kosmos und zugleich an Zeitreisegeschichten des 20. Jahrhunderts. Was für ein merkwürdig metaphysisch-deterministischer Schluss dieses verwirrenden Romans. Alles wiederholt sich. Menschen mögen sich nach einem friedvollen Leben in Glück und Schönheit sehnen – sie werden es immer wieder zerstören. Das ist die desillusionierte Botschaft. Und zugleich werden der unzerstörbare Überlebenswillen und das Leben gepriesen.

Am Ende bleibt die Liebe, die stärker ist als der Tod. Darin ist dieses Buch ganz Winterson. Die Liebe ist ihr zentrales Thema, und ihr Stil ist immer unverwechselbar: Er ist poetisch, apodiktisch, er setzt Gewissheiten jenseits aller Vernunft: "Ich kann nein sagen, ich kann es mir anders überlegen, ich kann Reue empfinden, aber das Ja kann ich nicht ausrotten."

Und zu guter Letzt – "Matrix" lässt grüßen -, alles ist (eine) Geschichte, nur dass man nicht weiß, wer sie erzählt.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Jeanette Winterson: Die steinernen Götter. Roman
Aus dem Englischen von Monika Schmalz
Berlin Verlag, Berlin 2011
270 Seiten, 22 Euro