Zwei Sozialreformer feiern ihr 200-Jähriges

Posthume Konkurrenz zwischen Marx und Raiffeisen

Kleine Marx-Figuren in einer Installation von Ottmar Hörl in Trier
Kleine Marx-Figuren in einer Installation von Ottmar Hörl in Trier © imago stock&people
Von Anke Petermann · 16.01.2018
In Rheinland-Pfalz passiert 2018 etwas Merkwürdiges: posthum konkurrieren zwei Männer um Aufmerksamkeit, die beide vor 200 Jahren geboren wurden und keine 200 Kilometer voneinander entfernt aufwuchsen. Beide veränderten die Welt mit ihren Ideen. Karl Marx und Friedrich Wilhelm Raiffeisen.
In der Hunger-Zeit zwischen 1846 und 1848 heckte der Westerwälder Bürgermeister Friedrich Wilhelm Raiffeisen Modelle bäuerlicher Selbsthilfe aus. Aus "Brod-" und Darlehensvereinen wurden Genossenschaften. Diese hier praktizierte Idee gemeinschaftlicher Selbstverantwortung verbreitete sich dann schnell über das ländliche Milieu hinaus. Den Staat wollte der konservative Sozialethiker mit Hilfe von Reformen als eine Art gottgegebener Ordnung bewahren, sagt Regionalforscher Albert Schäfer im Raiffeisen-Haus Flammersfeld, wo Friedrich Wilhelm Raiffeisen einst als Bürgermeister wirkte:
"Er bezeichnete Kommunisten, Sozialisten und auch bemerkenswerterweise die Sozialdemokraten einheitlich als 'Umsturz-Partei'. Er befürchtete also, wenn dem Arbeiter, dem mittellosen Arbeitsmann, die Existenz zum Leben nicht gegeben wird, dass er dann anfällig wird für die Verführungen, er spricht von 'Verführungen' dieser drei Gruppen."

Klassenkampf? - Für Raiffeisen der Untergang

Klassenkampf, Abschaffung des Privateigentums, Untergang des Kapitalismus, Befreiung des Proletariats – was Raiffeisen als den Untergang ansah, schrieb Karl Marx im europäischen Hungerwinter 1847 gemeinsam mit Friedrich Engels als Vision auf. Das "Kommunistische Manifest" verfassten sie für den Bund der Kommunisten, eine Gruppe politischer Emigranten in London. 23 Seiten, 1848 mit einer Startauflage von 2000 Exemplaren publiziert. Heute gilt es als das am weitesten verbreitete sozialpolitische Dokument der Welt. Ebnete Marx den Boden für einen totalitären Kommunismus? Anlässlich des Jubiläums werden alle Facetten des Trierer Philosophen und seiner Wirkungsgeschichte erörtert, einschließlich des Missbrauchs seiner Ideen. Unter anderem in der Dauerausstellung im Trierer Geburtshaus. Beide bekommen derzeit ein "Face-Lift" Federführend dabei: die Friedrich-Ebert-Stiftung und der Historiker Peter Brandt als Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats: "Es gibt Fehlentwicklungen. Natürlich darf man fragen, ob es in den Gedanken von Karl Marx sozusagen Elemente gibt, die dahin führen konnten", so der älteste Sohn des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt im Telefon-Interview mit SWR 2.
"Man kann ja sicher sagen: Es gibt Marx und Marxismus, das gibt es als Herrschaftsideologie in einer bestimmten dogmatischen Ausformung, wo man viele Fragezeichen setzen kann, ob das überhaupt noch mit dem authentischen Marx zu tun hat. Und es gibt immer wieder Marx als Emanzipationsideologie. Dieses Spannungsverhältnis soll durchaus thematisiert werden."

Raiffeisen ist früher dran als Marx

Das passiert in der erneuerten Dauerausstellung, die am 4.Mai, also am Vortag des 200. Geburtstags, im Karl-Marx-Haus wiedereröffnet. In der Konkurrenz der Jubiläen ist der Ende März geborene Friedrich Wilhelm Raiffeisen früher dran, aber für große Ausstellungen haben die kleinen Westerwald-Museen keine Kapazitäten, geschweige denn Millionenbeträge, wie sie gemeinsam von Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Land Rheinland-Pfalz und der Stadt Trier für die Marx-Schauen aufgebracht werden. Ein Trost immerhin: Ende 2016 wurde die Genossenschaftsidee, die Raiffeisen im Westerwald und Hermann Schulze-Delitzsch in Sachsen zeitgleich ersannen, in die Liste des immateriellen UNESCO-Welterbes aufgenommen. 800 Millionen Genossenschafter weltweit, 22 Millionen davon in Deutschland beweisen die Alltagstauglichkeit dieser Idee. Bernhard Meffert leitet im Westerwald ein genossenschaftliches Gymnasium, sitzt im Kuratorium der Raiffeisen-Gesellschaft und sagt über die Bewegung:
"Uns gibt's noch – und die Ideen von Karl Marx sind geisteswissenschaftlich nach wie vor relevant, aber haben doch im heutigen Deutschland weniger Wirkung."
Allerdings ziehen diese Ideen jedes Jahr 40.000 Besucher ins Trierer Karl-Marx-Haus, 60 Prozent davon aus dem Ausland, die meisten aus China. Von dort kommt als Geburtstagsgeschenk eine 5,50 Meter hohe Marx-Statue aus Bronze. Sie wird am Jubiläumstag unweit der Porta Nigra aufgestellt, ein umstrittenes Präsent.
Auch die kleinen Raiffeisen-Museen verzeichnen internationales Publikum, vor allem viele Genossenschafter aus Japan. "Salutations to Mahatma Raiffeisen", notierte ein indischer Genossenschaftsbanker im Gästebuch des Raiffeisen-Geburtshauses in Hamm an der Sieg. Mit Seitenhieb auf Karl Marx preist die Raiffeisen-Gesellschaft ihren Guru so: "Er schrieb nicht das Kapital, er nahm es in die Pflicht."
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