Zwei Seiten einer Frau

Von Elske Brault · 02.04.2008
Das neue Stück der gefeierten Nachwuchsdramatikerin Anja Hilling spielt nach einer Klimakatastrophe in der Zukunft. Es zeigt eine schwangere Heldin in einer Dreiecksbeziehung im Jahr 2175. Was als Text hübsch zu lesen ist, wird in der Inszenierung von Rafael Sanchez am "Thalia Theater" zur platten Endzeitfarce.
Das Stück spielt in einer fernen Zukunft, im Jahr 2175, doch für die Frauen hat sie zugleich etwas von ferner Vergangenheit. Geburt nämlich ist eine lebensgefährliche Sache zumindest für jene, die seit der Klimakatastrophe auf natürlichem Weg, durch Geschlechtsverkehr, schwanger geworden sind.

Das ist in 70 Jahren nur acht Mal vorgekommen, und bis auf eine ist jede der Frauen bei der Geburt gestorben. Nun trägt die Heldin des Stücks, Pagona, als neunte quasi ein Wunder in ihrem Bauch. Sie will das Kind unbedingt austragen, auch wenn sie dafür aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Leben lassen muss: Denn sie hofft, durch das Baby endlich eine Verbindung zu ihrem Freund Taschko herzustellen. Pikant: Das Kind ist nicht von ihm, sondern von seinem Chef.

Taschko ist vor Jahren vergewaltigt worden und hat stundenlang nackt im Freien gelegen. Die Erde hält im Jahr 2175 eine Dauertemperatur von 60 Grad. Taschkos Haut ist überall verbrannt, nur das Gesicht, auf dem die achtlos beiseite geworfene Schutzkleidung zufällig lag, ist unversehrt. Und die Hände.

Taschko malt wie ein junger Gott. Er malt all das auf Tapeten, was es nicht mehr gibt: Sonnenuntergänge, Skifahrer, Badende im Wasser. Sein erstes Rendezvous mit Pagona arrangiert er in einem künstlichen See. Es gibt da nur einen kleinen Haken: "Wir können uns nicht berühren", sagt er. "Nie?", fragt Pagona. Es ist offensichtlich, dass eher die seelische als die körperliche Verletzung Taschko an einer echten Beziehung zu Pagona hindert. Er kann ja den Pinsel halten, sie könnte sein Gesicht anfassen. Doch vielleicht fürchtet er, diese leidenschaftliche Frau würde den ganzen schmerzenden Körper nehmen, wenn man ihr nur die kleine Hand reicht.

Posch nämlich, Taschkos Arbeitgeber, darf ihn sehr wohl anfassen. Er versorgt den Medikamenten-Junkie mit Tabletten und spritzt ihm Morphium. Posch stellt die Tapeten her, auf die Taschko jene Vergangenheit appliziert, die er nur aus Filmen kennt. Schutztapeten gegen die Hitze – aus menschlicher Haut. Posch stört das nicht. Er will vor allem mit allen Sinnen genießen – ohne die lästige Schutzkleidung. Das geht nur in seinen Spezialtapetenräumen. Am Ende genießt er die vor Sehnsucht halb durchgedrehte Pagona, und so entsteht das Kind.

Auf dem Papier liest sich dies alles sehr hübsch. Vor allem, weil Taschko und Posch wie eine Metapher auf die Bedürfnisse der Autorin (und überhaupt jedes kreativen Menschen) wirken: sie braucht beide Seiten, den Rückzug in die Innenwelt, in die eigene Fantasie genauso wie sinnliche Eindrücke, den Kontakt, das Ausleben der Lust. Taschko und Posch – sie sind zwei Seiten einer Persönlichkeit und einer Beziehung.

Doch Regisseur Rafael Sanchez muss die Metapher als reale Figuren auf die Bühne stellen. Und will zudem Anja Hillings überhöhte Fruchtbarkeitssymbolik mit derber Komik erden. So wird sein Posch in der Darstellung von Peter Jordan zum typischen Neureichen, zum lauten, prolligen Hau-den-Lukas-Mittelständler mit Bierbauch und Hawaihemd. Dabei ist Peter Jordan der nuancenreichste Schauspieler des Thalia-Ensembles!

Daniel Hoevels kann dank seines guten Aussehens seinem verklemmten Junkie Taschko immerhin die Charme-Facette hinzufügen. Und Susanne Wolff hat wie immer ihre spezielle Aura der unangreifbar schönen Frau. Dem Fluch dieses Textes können sie alle drei nicht entgehen: Dass er Vielschichtigkeit und Zauber verliert, wenn er auf die Bühne kommt.

Das gilt umso mehr bei dieser Bühne: Regisseur Sanchez und sein Bühnenbildner Simeon Meier haben jedem der drei Protagonisten sein eigenes Schutzhaus aus Klarsichtfolie angefertigt. Wenn ein Gebläse Luft hineinpumpt, steht es beeindruckend groß da, es kann sich aber auch schlaff und klebrig als Schutzhaut über den Bewohner legen. Für das Bad im See füllt Wasserdampf das Haus. Bläulich angestrahlt erzeugt der diffuse Nebel tatsächlich den Eindruck, die beiden Liebenden bewegten sich unter Wasser, in einem Menschen-Aquarium.

Doch so passend das Bild der durchsichtigen Wand, die stets zwischen den Bewohnern dieser unwirtlichen Zukunft steht, auch sein mag: es ändert nichts daran, dass "Nostalgie 2175" sich eher eignet für ein Hörspiel. Anja Hilling malt mit ihrer Sprache poetische Tableaus. Die braucht man nicht zu sehen.