Zwei Orte, ein Ereignis

09.11.2009
Matthias Kupfernagel bewegt sich durch die Mitte Berlins und hält in seinen Fotos den Augenblick fest, in dem die Mauer nach dem Fall noch bewacht und für die Öffentlichkeit unzugänglich war. Joachim Liebe dagegen hat im Raum Potsdam Menschen in der Wendezeit porträtiert.
Es sind zwei Bücher, die nicht spektakulär sind und die in der Flut der 1989-Literatur fast unterzugehen drohen, die aber die Aufmerksamkeit historisch interessierter Leser verdienen. Matthias Kupfernagel hat sich, als die Mauer fiel, auf den Weg gemacht und Meter für Meter fotografisch festgehalten, wie die Mauer bis 1989 die beiden Welten trennte. Er hat ein Fotobuch veröffentlicht, in dem er ausschließlich die Bilder sprechen lässt, ergänzt lediglich durch die Ort- und Zeitangaben der Aufnahmen. Begonnen hat Kupfernagel seine Mauertour im Dezember 1989, beendet im März 1990. Der Pariser Platz, vom Osten aus fotografiert, menschenleer, mit der Mauer hinter dem Brandenburger Tor und einem Weihnachtsbaum mitten hinter dem Tor und hinter der noch makellos weißen Mauer: So beginnt er seine Dokumentation. Es ist der Tag vor der feierlichen Öffnung des Tores (auch wenn unter dem Foto fälschlicherweise das Datum 21.12.1990 steht).

Kupfernagel bewegt sich durch die Mitte Berlins und hält in diesen ersten Aufnahmen den Augenblick fest, in dem - in diesem Bereich - die Mauer nach dem Fall noch bewacht und für die Öffentlichkeit noch unzugänglich war. Er schaut aus Grenztürmen auf die leeren Flächen des Grenzstreifens, wandert in die düsteren Unterwelten des Geisterbahnhofs am Potsdamer Platz und blickt auf die Trennwand zwischen Ost und West auf dem Bahnhof Friedrichstraße.

Mit seiner Fotodokumentation führt Kupfernagel eine Wirklichkeit vor Augen, die vor dem 13. August 1961 unvorstellbar schien und heute wieder unvorstellbar scheint: dass eine Schneise mitten durch die Millionenstadt geschlagen wurde. Aber nicht nur die Mauerfotos innerhalb der Stadt, sondern gerade auch die Aufnahmen um Berlin herum machen deutlich, wie kompliziert die Abdichtung West-Berlins von der DDR war - Mauerstücke an Seeufern, die plötzlich eine scharfe Kurve machen müssen, Exklaven und Enklaven, Mauerstücke, die zwischen Häuserzeilen durchgezwängt werden. Zwei Mauern, ein Grenzstreifen: Die zwei Welten wurden auf Abstand gehalten. Das zeigt schon das Titelbild eindrucksvoll.

Auch Joachim Liebes Buch ist ein Fotoband - aber nicht nur. Liebe hat im Raum Potsdam Menschen und Augenblicke in der Wendezeit festgehalten. Demonstranten am 4. November - aber nicht in Berlin, bei der berühmten Kundgebung auf dem Alexanderplatz, sondern in Potsdam am dortigen Brandenburger Tor. Liebe zeigt – neben Fotos von den Ereignissen in Berlin – auch Momentaufnahmen des Aufbegehrens abseits der großen Schauplätze. Menschen mit selbstgebastelten Bannern, Flugblattverteiler, Redner, Karnevalsjecken auf der Glienicker Brücke, wartende Grenzsoldaten, zerstörte Landschaften und die Mauer im Abbruch.

Besonders spannend in diesem Buch aber sind die Zeitreisen: Denn nach aufwändigen Recherchen hat Liebe Menschen nach 20 Jahren wieder getroffen, die zufällig 1989/90 auf seinen Fotos aufgetaucht waren. Barbara Mädler-Vormfeld zum Beispiel, die 1989 am Brandenburger Tor in Potsdam mit einem Schild "Neue Männer braucht das Land" demonstrierte. Er hat sie jetzt noch einmal fotografiert, am selben Platz, mit demselben Schild in der Hand. Sie erinnert sich an den Aufbruch damals, die Enttäuschung danach, als sie realisierte, dass die Menschen doch nicht so viel Veränderung wollten, wie sie gehofft hatte, und ihre heutige Sicht auf den großen Umbruch in ihrem Land und in ihrem Leben. Manche der Porträtierten sind unangepasst geblieben und haben ihre Schwierigkeiten mit der neuen Zeit gehabt, andere haben sich in neuen Berufen, mit Familie und Kindern etabliert. Fast alle sind "Normalbürger" - ausgenommen Günther Krause, der den Vertrag zur deutschen Einheit aushandelte, und der Rundfunkmann Christoph Singelnstein. Ein Buch mit interessanten Momentaufnahmen 1989, 2009.

Etwas aber ist an diesem Buch merkwürdig: Joachim Liebe und Thomas Brussig sind als Autoren ausgewiesen – Brussig hat allerdings "nur" ein (durchaus lesenswertes) Vorwort geschrieben. Die Texte hingegen hat der Journalist Martin Ahrends verfasst. Er wird jedoch namentlich nur im Innenteil des Buches erwähnt. Man kann verstehen, wenn ein Verlag auf die PR eines Buches achtet und auf berühmte Namen setzen will – doch, dass ein berühmter Vorwortschreiber zum Mitautor gemacht und der Textautor in den Innenteil des Buches verbannt wird: das geht zu weit.

Besprochen von Winfried Sträter

Matthias Kupfernagel: Die Berliner Mauer 1989
fotografic-berlin, Berlin 2009
193 Seiten, 20 Euro

Joachim Liebe, Thomas Brussig: Wende. Wandel. Wiedersehen. 20 Jahre danach.
Verlag Koehler & Amelang, Leipzig 2009
128 Seiten, 19,90 Euro