Zwei Jahre nach Merkels "Wir schaffen das"

Der Alltag der Integration

Flüchtlinge gehen am 9. Juli 2015 über das Gelände der Erstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Hamburg Wilhelmsburg.
Flüchtlinge am 9. Juli 2015 in einer Erstaufnahmeeinrichtung. Was hat sich seitdem in Sachen Integration getan? © dpa / picture alliance
Adrienne Friedlaender und Harald Löhlein im Gespräch mit Gisela Steinhauer · 05.08.2017
Zwei Jahre nach Merkels berühmtem "Wir schaffen das" ziehen wir eine Zwischenbilanz: Was ist seitdem in Sachen Integration erreicht worden? Unsere Gäste: die Journalistin Adrienne Friedlaender und Harald Löhlein vom Paritätischen Gesamtverband.
Deutschland im Sommer 2015: Immer mehr Flüchtlinge drängen übers Mittelmeer und die Balkanroute ins Land. Bis Ende des Jahres werden etwa 890.000 Geflüchtete registriert, in den Städten herrschen teilweise chaotische Zustände. Mitten in die aufgeheizte Stimmung hinein sagt Angela Merkel ihren Satz, der bis heute für diese Ausnahmesituation steht: "Wir schaffen das."
Zwei Jahre später fragen wir: Was haben wir seither geschafft in Sachen Integration? Was läuft gut im Alltag mit den Geflüchteten, wo hakt es? Wo müssen wir umsteuern?

Jetzt geht es um Wohnung und Arbeit

"Nach wie vor gibt es viele Menschen, die sich engagieren", sagt Harald Löhlein, Fachreferent für Flüchtlingsfragen beim Paritätischen Gesamtverband, einem Zusammenschluss von über 10.000 eigenständigen, gemeinnützigen Organisationen und Selbsthilfegruppen aus ganz Deutschland.
"Der Themenschwerpunkt hat sich verschoben; die Phase der Erstversorgung ist vorüber, jetzt geht es darum: Wie können wir die Menschen in Arbeit bringen? Ein Riesenthema ist die Wohnungssuche, in vielen Metropolen ist der Wohnungsmarkt angespannt."
Seine Erfahrung: "Viele, die sich engagieren, haben mitgekriegt: Holla, da tun sich überall Schwierigkeiten auf."
Es gebe viele bürokratische Hürden, die lange Wartezeit auf Asylverfahren zermürbe Antragsteller und Helfer, Sprachkurse und Qualifizierungsmöglichkeiten müssten ausgebaut werden. "Wir haben allein 500.000 Menschen in Integrationskursen." Weiterhin kämen monatlich etwa 15.000 Flüchtlinge ins Land, die versorgt werden müssten.

"Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz"

Harald Löhlein beschäftigt eine weitere Frage: "Wie geht es weiter? Nach der Schließung der Balkanroute und dem Deal mit der Türkei wird versucht, die Mittelmeerroute dicht zu machen. Für die, die helfen, ist das – gelinde gesagt – eine große Sauerei, mit welchen Maßnahmen versucht wird, die Menschen fernzuhalten. Aber gleichzeitig tut sich bei den legalen Zugangsmöglichkeiten fast gar nichts. Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz."
"Wir Deutschen sind so perfekt und gucken oft nicht auf das, was klappt – und es hat ganz viel geklappt im gut organisierten Deutschland", sagt die Journalistin Adrienne Friedlaender. Die Mutter von vier Söhnen hat 2015 einen jungen Syrer in ihr Hamburger Reihenhaus aufgenommen. Ihr Zusammenleben mit dem 22-jährigen Moaaz beschreibt sie in dem Buch: "Willkommen bei den Friedlaenders". Sie habe die Entscheidung spontan getroffen: "Es war eine Mutterherzentscheidung."

Alles in allem eine Bereicherung

In den sieben Monaten des Zusammenlebens wurde die Familie immer wieder mit der Realität der Flüchtlinge konfrontiert. "Mir war von Anfang an klar, dass jeder Flüchtling ein Trauma mitbringt, aber ich hab davor keine Angst gehabt. Es gab natürlich Situationen, in denen wir stark damit konfrontiert waren, in denen ich mich selbst schützen musste, meine Familie; ich musste auch die Kunst der Abgrenzung üben. Man nimmt einen jungen Mann auf und macht sich noch keine Gedanken darüber, welche Ängste er mitbringt."
Ihr Fazit: "Alles in allem war es für alle eine Bereicherung. Und für alle – auch für die Kinder – war es die Botschaft: Wenn jemand in Not ist, hilft man. Uns geht es unglaublich gut auf dieser Seite der Erde, und ich bin unglaublich stolz auf meine Kinder, wie die mitgemacht haben. Und mir hat es ganz neue Perspektiven gegeben, zum Beispiel, dass Islam nicht gleich Islam ist – man greift viel zu schnell in Schubladen."

Zwei Jahre nach Merkels "Wir schaffen das" – Der Alltag der Integration. Darüber diskutiert Gisela Steinhauer am Samstag, den 05.08.2017 von 9.05 Uhr bis 11 Uhr mit der Journalistin Adrienne Friedlaender und dem Fachreferenten für Flüchtlingsfragen beim Paritätischen Gesamtverband, Harald Löhlein. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der Telefonnummer 0800 2254 2254, per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de – sowie auf Facebook und Twitter.

Weitere Informationen:
Über den Paritätischen Gesamtverband
Über Adrienne Friedlaender
Literaturtipp:

Das Buch "Willkommen bei den Friedlaenders! Meine Familie, ein Flüchtling und kein Plan" von Adrienne Friedlaender erscheint am 11. September 2017 bei Blanvalet.

Mehr zum Thema