Zwanghafter Leidenskosmos

24.06.2009
Der Norweger Knut Hamsun erzielte mit dem Roman "Hunger" seinen literarischen Durchbruch. Darin schildert der damals 31-Jährige die Erfahrungen von Armut und Krankheit auf seinem Weg zum Schriftsteller. Anlässlich seines 150. Geburtstags erscheint das Buch in neuer Übersetzung.
Als im Jahr 1890 Knut Hamsuns Roman "Hunger" in Kopenhagen und ein Jahr später in Berlin in deutscher Übersetzung erscheint, hat der 31-jährige Schriftsteller bereits ein abenteuerliches und äußerst entbehrungsreiches Leben hinter sich. Er hat sich als Ladengehilfe, Hafenarbeiter und Händler durchgeschlagen, ein Wanderleben geführt, das ihn nicht nur durch Norwegen, sondern bis nach San Francisco gebracht hat.

Die radikalen Erfahrungen dieser Jugendzeit waren zum Schreiben eines Romans wie "Hunger" unabdingbar. Eigentlich wollte Hamsun gar keinen Roman, sondern ein Buch über die feinen Schwingungen einer "empfindsamen Menschenseele" schreiben. Hamsuns namenloser Ich-Erzähler ist so eine empfindsame Menschenseele, ein Mensch, der sich das Äußerste zumutet, weil der Autor Hamsun an Grenzerfahrungen interessiert ist.

Kompromisslos verfolgt der Ich-Erzähler seinen Plan, Texte und Dramen zu verfassen und als Schriftsteller zu leben. Ohne Einkommen existiert er in äußerster Armut, kommt in liederlichen Pensionen unter, hat nie Geld, um seine Logis zu bezahlen, geschweige denn, um sich ein Stück Brot zu kaufen. Da der junge Mann keineswegs zu denen gehören will, die "durchs Leben wie durch einen Ballsaal schunkeln", manövriert er sich willentlich in die Situation zunehmender physischer Schwäche hinein, in einen benommenen Zustand, der die Wahrnehmung trübt und Grenzerfahrungen provoziert.

Knut Hamsun hatte Dostojewskis "Raskolnikow" gelesen und sich mit Strindberg auseinandergesetzt. Sein junger Mann soll aber anders als Raskolnikow nicht handeln, er soll das Tun verweigern und nur in seinem Innern mit den eigenen Konflikten fertig werden. Seine durch Hunger ausgelösten halluzinatorischen Zustände, die das Übersinnliche, wie auch die Figur Gottes in sein Hirn setzen, sind Inhalt seiner Texte und Dramen. Manchmal werden Texte von einem Zeitungsredakteur angenommen, oft aber als zu wirr abgelehnt.

Knut Hamsun verwendet große Sorgfalt auf die Schilderungen der extremen Hungerzustände, entwickelt ein fast klinisches Interesse an Schwindelgefühlen und Bewusstseintrübungen, Beschreibungen, die Drogenerfahrungen nicht unähnlich sind.

Getrieben vom Hunger und von einer großen Unruhe, durchstreift der Ich-Erzähler die Straßen Oslos. Wenn er ein paar Kronen in der Tasche hat, bringt das ersehnte Geld keine Erleichterung. Im Gegenteil: Das Essen, das er sich kauft, schlingt er hinunter, und es wird ihm noch elender, die Schuldgefühle ob des Diebstahls, weil er einen Ladenjungen geprellt hat, sind noch schlimmer als das Gefühl des Hungers. Oder er sieht jemanden, der noch erbärmlicher aussieht als er selbst und wirft ihm das Geld hin.

Auch die mit einem schwarzen Schleier verhüllte junge Frau, die wie eine Traumgestalt auftaucht und von ihm begehrt wird, kann keine Erleichterung seines Zustands herbeiführen. Sie ist nur eine weitere Chimäre in dem zwanghaften Leidenskosmos des hoffnungslosen Helden. Zum Ende des Romans schifft sich die Jammergestalt ein. Der Kapitän antwortet auf die Frage, wohin die Reise geht: "Leeds". Das britische Leeds liegt nicht am Meer. Wie vieles in diesem Roman, verweist diese "Lüge" auf Knut Hamsuns Abscheu vor dem Rationalen, vor dem Realismus.

Besprochen von Verena Auffermann

Knut Hamsun. Hunger. Roman.
Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel.
Mit einem Nachwort von Daniel Kehlmann. Claassen Verlag.
Berlin. 2009. 236 Seiten. 19.90 Euro.