Zuwara in Libyen

Die Stadt der Menschen-Schmuggler

Von Alexander Buehler · 13.07.2015
Von der libyschen Küstenstadt Zuwara sind es mit dem Boot acht Stunden bis Lampedusa. Der kleine Fischerort hat sich zu einem Zentrum des Menschenschmuggels entwickelt. Die eigene Küstenwache ist machtlos, die Schlepper immer mächtiger.
Polizist: "Vor ein paar Stunden haben wir vier Flüchtlinge aus dem Süden verhaftet. Sie verdienen sich hier als Arbeiter Geld für die Überfahrt nach Europa. Das erste, was sie gesagt haben, ist, dass sie nicht nach Italien wollen."
Für Flüchtlinge hat das libysche Städtchen Zuwara eine eigene Polizei. Eine Art Fremdenpolizei die hinter dem eigentlichen Polizeigebäude in einer Baracke haust. Fünf Räume, die eng, staubig und heiß sind. Die Polizisten haben keine Waffen, nur ein Auto und eine Zelle. Mehr nicht, das ist ihre gesamte Ausrüstung.
Immerhin, sagt der Chef der Fremdenpolizei, haben sie ein paar Dutzend Flüchtlinge dieses Jahr verhaftet. Aber keiner von ihnen gab zu, nach Europa zu wollen, sie leugnen, meint der Chef. Zum Beweis holen zwei seiner Untergebenen einen jungen Mann aus seiner Zelle. Er heißt Kamara Said, 25 Jahre alt und kommt aus Westafrika.
Kamara Said: "Ich bin aus Guinea, Guinea-Conakry. Ich bin seit einer Woche hier, zum Arbeiten. Vorher war ich in Algerien. Ich habe keinen Vater, keine Mutter mehr. Nur noch zwei jüngere Brüder. Ich weiß nicht, was es kostet, nach Europa zu fahren. Ich will nicht dorthin. Ich bin nur hier, um meiner Familie zu helfen."
Am Morgen, so erzählt Kamara, hat er mit seinen drei Freunden noch an der Straße in Zuwara gestanden, er hoffte Arbeit zu finden. Tatsächlich sieht man hunderte Tagelöhner auf den Straßen Zuwaras stehen oder auf Baugerüsten entlang turnen. Und so sieht es wahrscheinlich in ganz Libyen aus. Sechs Millionen Einwohner hat das Land, zusätzlich lebt etwa eine Million Menschen aus den Ländern südlich der Sahara hier. Außerdem noch die Syrer, Iraker, Eritreer, Äthiopier, Bangladeshis und Pakistaner, die vor der Not aus ihren Staaten geflohen sind und nach Europa wollen. Die Behörden in den Küstenstädten Libyens sind überfordert, wissen nicht, wie sie mit all diesen Menschen umgehen sollen - und dazu kommt der Bürgerkrieg im eigenen Land, der alle Ressourcen verschlingt.
Polizist: "Selbst wenn ich ihm glaube, dass er nicht nach Italien will - er ist illegal nach Libyen gekommen. Wir werden ihn ins Detention Center nach Subrata verlegen – und dort dem Prozedere folgen. Ich weiß nicht, was da passiert. Das ist nicht unsere Verantwortung. Manche Flüchtlinge werden in ihre Heimatstädte zurückgeschickt, andere einfach freigelassen."
Als der Polizist das Detention Center – also die Abschiebehaft-Anstalt - erwähnt, bückt sich Kamara, bindet sich die Schnürsenkel neu zu, steht unauffällig auf und rennt davon. Er flüchtet ins Dickicht der Gassen. Zwei Polizisten sprinten ihm hinterher.
Zuwara ist mit seinen 45.000 Einwohnern zu klein für ein eigenes Flüchtlingsgefängnis Also verlegt die Polizei die Migranten in das Lager der Nachbarstadt Subrata. Unter den Flüchtlingen hat es sich herumgesprochen, dass dort menschenunwürdige Bedingungen herrschen. Tausende leben auf engstem Raum, haben kaum Wasser und Nahrung, werden geprügelt und vergewaltigt. Oft kaufen Schlepperbanden sie der korrupten Polizei ab und quetschen den Flüchtlingen für eine Überfahrt nach Europa weiteres Geld ab. Diesem Schicksal will Kamara entkommen - doch er hat kein Glück, er wird wieder gefangen.
Kamara Said: "Ich will nicht ins Gefängnis!"
Polizist: "Warum bist du weggerannt? Was soll ich machen - so ist das Verfahren! Das kann ich offen sagen: Was wäre eine bessere Lösung?"
Es gibt zwei Arten von Schmugglern
Der Bürgermeister Zuwaras bittet nachts zum Gespräch. Es ist ein freudiger Tag für ihn. Die ganze Stadt feierte, weil Geiseln überraschend freikamen. Eine andere Stadt hatte sie jahrelang festgehalten. Ein seltener Glücksmoment im libyschen Bürgerkrieg mit zwei Regierungen und Dutzenden größeren und kleineren Milizen. Es kämpfen Stadt gegen Stadt, kaum jemand weiß, wer der Gegner ist. Und mitten in dieses Chaos haben sich die Flüchtlinge hineinbegeben.
Bürgermeister: "Ich habe keine exakten Zahlen, aber es müssen Tausende Flüchtlinge in der Stadt sein. Wir haben jetzt ein Büro eingerichtet, das Arbeiter überprüft, um herauszufinden, wer überhaupt legal da ist. Wir respektieren, dass die Flüchtlinge tausende Kilometer gereist sind, um hierher zu kommen und nach Europa weiterzugehen. Aber wir können ihre Menge nicht bewältigen."
Für den Bürgermeister von Zuwara steht viel auf dem Spiel. Denn er muss den Menschen-Schmugglern etwas entgegen setzen, ihre Arbeit zumindest etwas begrenzen. Nur so kann er erreichen, dass Europa vielleicht seine Stadt unterstützt. Und gleichzeitig kämpft er gegen eine wichtige Einnahmequelle, die vielen nutzt. Gerade Zuwara war schon immer der Ort, von dem aus man Europa am schnellsten erreichen konnte, schon zu Gaddafis Zeiten legten hier Schmugglerboote ab. Überall in der Stadt wird gebaut, die Geschäfte sind voll - woher das Geld dafür stammt, scheint vielen egal zu sein. Auch der Bürgermeister antwortet nur ausweichend.
Bürgermeister: "Die Schmuggler legen im Osten ab oder im Westen, das hängt vom Wetter und den Wellen ab. Sie können überall an der Küste ablegen, die ist hier 77 Kilometer lang. Dieses Jahr, weil es noch früh in der Saison ist, haben wir nur sechs Leichen am Strand gefunden. Wir glauben, die Zahl wird noch weiter ansteigen."
Der Bürgermeister weiß, dass die EU notfalls auch militärisch gegen die Schmuggler vorgehen will, er weiß, dass die Flüchtlinge, die nach Italien wollen, ein europäisches Politikum darstellen. Aber ihm geht es um seine Stadt. Die braucht Hilfe, finanzielle vor allem, erklärt er. Denn das Geld, das die Schmuggler verdienen, ist viel mehr als der Etat, den die Stadt zur Verfügung hat. Ein Konkurrenzkampf zwischen der Stadt und den Schmugglern ist entstanden, in dem die Stadt den Kürzeren zieht, weil sie weniger Geld zur Verfügung hat, um Gesetze durchzusetzen.
Bürgermeister: "Es gibt zwei Arten von Schmugglern. Die Bosse, die mit kriminellen Organisationen zusammenarbeiten und Kontakte in Europa haben. Aber die sehen wir hier nicht. In Zuwara leben nur deren Helfer, die im Transportwesen arbeiten. Die schnappen wir zwar, aber nicht während einer Schmuggeloperation, sondern nur weil wir sie kennen. Wenn wir sie vor Gericht stellen, werden sie freigelassen, weil es keine Beweise gibt. Wir haben einfach kein Geld für die Beweissicherung!"
Der Hafen von Zuwara ist voll, dicht an dicht liegen hier Fischerboote, Drei, vier Meter hoch ragen sie aus dem Wasser, unter Gaddafi war Fisch eine wichtige Einnahmequelle des Staatshaushalts, der Diktator ließ sogar extra Werften bauen. Heute bewacht eine Miliz den Hafen, doch das Geld wird nicht mit Fisch verdient, sagt ein Insider: Sondern mit dem Schmuggel von Diesel, der in Libyen dank der eigenen Ölquellen spottbillig ist – und mit Flüchtlingen. Ein heikles Thema, über das der Chef der Küstenwache nicht sprechen will. Er überlässt das einem Untergebenen, dem 55-jährigen Adel Gfasr. Gfasr ist nervös. Er betont immer wieder, dass die Stadt Zuwara nichts mit dem Schmuggel zu tun hat. Auch wenn die Boote der Schmuggler so ähnlich aussehen, wie einige hier. Er deutet mit dem Arm auf das Hafenbecken:
Adel Gfasr: "So wie dieses Schiff, für Sardinenfischerei, sind auch die Schmugglerboote – ganz einfach und aus Holz. Die kommen vielleicht aus Tripoli, vielleicht aus Subrata. Aber sie laufen nicht in diesen Hafen ein. Sondern bleiben auf See, kleinere Boote bringen die Flüchtlinge zu ihnen."
Wenn die Boote der Schmuggler kentern
Gfasr hat schon viel Elend gesehen, das der Menschentransport über das Mittelmeer verursachte. Wenn die Boote der Schmuggler kenterten, zog der Mann von der Küstenwache mit Kollegen die Leichen aus dem Wasser oder rettete Menschen vor dem Ertrinken. Doch viel kann er gegen den Schmuggel nicht tun, schließlich hat er nur zwei kleine Schlauchboote zur Verfügung.
Adel Gfasr: "Listen to me, please. Hören Sie mir genau zu. Dieses Boot verbraucht für eine einzige Patrouille 800 Liter Treibstoff, das sind 200-300 Dinar. Und die libysche Regierung unterstützt uns nicht. Ich muss den Treibstoff selbst zahlen. Wovon?"
Wieviel verdienen Sie im Monat?
"1000 Dinar."
Also könnte Gfasr von seinem eigenen Gehalt gerade mal vier Patrouillen bezahlen. So ist er als Küstenschützer mehr als unterlegen gegen die Schmuggler. Die haben eine riesige Geldmaschine aufgebaut und jeder verdient mit.
Die Flüchtlinge zahlen hier pro Kopf 800 US-Dollar - und auf ein Schiff passen etwa 150 von ihnen. Das macht 120.000 US-Dollar, die in einer Nacht an Umsatz erwirtschaftet werden. Für jeden Beteiligten, vom Organisator des Schmuggels bis zu den Seeleuten sind das 20.000 bis 30.000 US-Dollar. Wenn das Schmuggelschiff verlorengeht, weil es sinkt oder von den Europäern nach der Rettung der Flüchtling abgeschossen wird, bleibt immer noch ein großer Gewinn, denn ein einfaches Schiff gibt es in Libyen schon ab 6.000 US-Dollar.
Ein einträgliches Geschäft - mit Risiken, meint der Arzt Dr. Fahed. Gerade für Zuwara. Denn durch die Art, wie die Schmuggler mit den Flüchtlingen umgehen, würden sich Krankheiten sehr schnell verbreiten. Und das würde Panik unter den Bewohner Zuwaras erzeugen:
Dr. Fahed: "Ich habe mal einen Anruf bekommen: 'Ich habe über 100 Bangladeshis im Nachbarhaus.' Also habe ich dort mit dem Schmuggler diskutiert, warum er die Leute so unterbringt, jeder von ihnen hatte nur zwei Quadratmeter Platz. Dann haben ihn Leute von der Straße zusammengeschlagen und ihm gesagt, er soll die Flüchtlinge woanders hinbringen. Jetzt bringen sie die Flüchtlinge nicht mehr in der Stadt unter, sondern auf Bauernhöfen. Immer noch unter furchtbaren Bedingungen. Sie füttern sie wie Tiere und dann sperren sie sie wieder weg. Dort hinzugehen ist gefährlich."
Der Arzt erzählt von einem besonders schweren Schiffsunglück mit Dutzenden toten Flüchtlingen. Danach organisierte er Demonstrationen gegen den Menschenschmuggel. Mitten im Stadtzentrum zeigte er Bilder von aufgedunsenen und verstümmelten Leichen, die tagelang im Meer getrieben waren. Doch das nutzte nichts. Auch wenn die Mehrheit in Zuwara gegen den Schmuggel ist, das Geld der Schmuggler ist mächtiger. Es gibt einfach nicht genug andere Möglichkeiten zum Geldverdienen, sagt Hossein Ibrahim. Er ist mittlerweile seit 20 Jahren Fischer und hat gesehen, wie der Schmuggel schon unter dem Diktator Gaddafi zu einem lohnenden Geschäft wurde und in den letzten Jahren noch weiter aufblühte. In seiner Wohnung kann er offen darüber reden, wie der Schmuggel die Stadt korrumpiert hat:
Hossein Ibrahim: "Wenn ich eine Woche auf See arbeite, kann ich meinen Fang für 500 Dinar verkaufen. Jeder Schmuggler kann das locker in einer Nacht verdienen. Dann überlegt man natürlich das Boot zu verkaufen und mit den Schmugglern zu arbeiten. Viele Kollegen haben deswegen die Seiten gewechselt. Wenn man etwa ein Boot hat, das 10.000 Dinar kostet, kommen die Schmuggler und kaufen es für das doppelte oder sogar dreifache."
Die Schmuggler wissen genau, wer gegen sie arbeitet
Sich gegen den Schmuggel zu stellen ist sehr schwierig, meint er. Schließlich würde man sich im Ort ja genau kennen, die Schmuggler wüssten ganz genau, wer gegen sie arbeiten würde. Ebenso wie die meisten wüssten, wer die Schmuggler sind. Aus Abhörprotokollen der italienischen Polizei wird deutlich, dass die Schmuggler in allen Orten entlang der libyschen Küste mit internationalen Schleuserbanden zusammenarbeiten. Einer der Schmugglerchefs, der im sizilianischen Palermo operierte, meinte in einem Telefonat, er habe in einem Jahr 8.000 Flüchtlinge transportiert. Ein Millionengeschäft das von Westafrika und dem Nahen Osten bis nach Europa reicht.
Ibrahim: "Das ist organisiertes Verbrechen. Es gibt Schmuggler, die hoch in der Hierarchie stehen und nichts selbst machen, sondern nur alles kontrollieren. Da sind nicht nur Libyer beteiligt, sondern auch Afrikaner oder Malteser. Manche haben sich darauf spezialisiert, die Flüchtlinge aus der Wüste an die Küste zu transportieren. In diesem Geschäft kann man viel verdienen."
Manche Flüchtlinge würden das Risiko genau kennen, sagt der Fischer Hossein. Andere würden glauben, die Schmuggler würden sie auf einer sicheren Yacht nach Europa fahren. Wie eine Spazierfahrt. Hossein versucht nicht daran zu verzweifeln. Er liebt das Meer, deswegen ist er noch Fischer, aber sein Boot sei klein, er könne das alleine betreiben und unabhängig bleiben. Die Schmuggler widern ihn an, sie verpesten ihm das Meer. Manche Leute in Zuwara würden keinen Fisch mehr essen, aus Angst, Leichenfleisch mitzuessen. Hossein kennt das Risiko der Überfahrt und versucht die Flüchtlinge abzuhalten.
Ibrahim: "Ich habe auf sie eingeredet und gesagt: Du wirst sterben! Und manche Flüchtlinge antworten: Ich bin doch schon tot. Ich werde gehen. Die Flüchtlinge haben nichts. Und die Schmuggler denken nur ans Geld."
"Was kann Geld hier kaufen?"
Ibrahim: "Ich weiß es nicht genau. Bauernhöfe, Häuser, Autos. Dafür schicken sie Leute in den Tod. Diese Kriminellen."
Mehr zum Thema