Zustände im Berliner Maßregelvollzug

Überlastet und gefährlich

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Außenansicht der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, Oranienburger Straße, Wittenau in Berlin
Der Maßregelvollzug in Berlin ist mit rund 540 Betten der größte in Deutschland. © imago/Schöning
Von Timo Stukenberg · 06.04.2021
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Im Maßregelvollzug in Berlin werden psychisch oder suchtkranke Menschen untergebracht, wenn sie nach einer Straftat nicht als schuldfähig, aber als gefährlich gelten. Doch die Einrichtung ist überfüllt. Angestellte sprechen von einem Klima der Angst.
Man könnte die mehrstöckigen Backsteingebäude mit seinem Sportplatz und den Grünflächen für eine etwas in die Jahre gekommene Rehaklinik halten. Wären da nicht die hohe Mauer mit den eingelassenen Plexiglasscheiben, der Zaun mit dem Stacheldraht und dem Graben dazwischen, vergitterte Fenster, Videokameras und Scheinwerfer.
Wir stehen vor dem Maßregelvollzug in Berlin – dem größten in Deutschland mit rund 540 Betten. Hier werden psychisch oder suchtkranke Menschen untergebracht, wenn sie nach einer Straftat nicht als schuldfähig, aber als gefährlich gelten. Doch deren Betreuung wird immer schwerer. Die Einrichtung ist überfüllt – auch, weil viele Insassen immer länger bleiben müssen –, ärztliches, therapeutisches und Pflegepersonal ist –wie überall im Klinikbereich – nur schwer zu finden.
Das hat zur Folge, dass die Pflegekräfte häufig nur zu zweit auf Stationen mit bis zu 38 teils hochgefährlichen Patient*innen sind. In einer Rundmail vom Februar 2020 bringt es ein Berliner Pfleger auf den Punkt: Die Arbeitsbedingungen spitzen sich immer weiter zu.

Zunehmende Aggression

Harald Friedrichs ist einer der wenigen, der darüber offen spricht.
"Die waren ja froh, wenn sie zu zweit auf der Station manchmal waren, ja für solche großen. Dadurch musste ich dann immer wieder sagen in der letzten Zeit, es tut mir leid, wir haben den schlechtesten Maßregelvollzug Deutschlands."
Der Psychotherapeut hat rund 40 Jahre lang im Berliner Maßregelvollzug gearbeitet und ist vor anderthalb Jahren in Rente gegangen. Wir haben auch mit aktiven Mitarbeiter*innen aus der Klinik gesprochen. Sie wollen anonym bleiben, sprechen von Einschüchterung durch die Klinikleitung, einem Klima der Angst.
Sie berichten von Zweibettzimmern, in die ein drittes oder gar viertes Bett geschoben wird, um mehr Patient*innen unterzubringen. Von der fehlenden Privatsphäre der Schwerkranken, von zunehmender Aggression, zu wenig Zeit und Personal, um die Patient*innen zu therapieren oder zu beobachten und gefährliches Verhalten frühzeitig zu erkennen. Das hat teils drastische Folgen: für Mitarbeiter*innen und Patient*innen.

Messerangriff auf Ärztin

Einen Eindruck davon bekommt man derzeit am Landgericht Berlin. Die 21. Strafkammer verhandelte im März zwei Angriffe auf Ärztinnen des Maßregelvollzugs. Im Zeugenstand berichtet eine ehemalige Ärztin: Ende November 2018 betritt sie am Morgen die Station. Im Stationszimmer hört sie, dass sich Herr M. geweigert habe, seine Medikamente zu nehmen. Als die Ärztin kurze Zeit später eine Tür in einem schwer einzusehenden Teil der Station aufsperren will, lauert ihr der Patient dort auf.
"Er kam ganz ruhig um die Ecke und stand viel zu nah an mir. Ich habe nur gesehen, dass er die linke Hand hinterm Rücken hatte, dann hat er gesagt ‚Frau R.‘. Wir haben uns kurz in die Augen geguckt. Er hatte so einen kalten Blick, so ein eingefrorenes kaltes Lächeln. Ich wusste, ich bin in Gefahr."
Dann schlägt er das erste Mal zu. Sie duckt sich, und versucht sich mit ihren Armen zu schützen. Der Patient attackiert sie danach immer wieder mit einem Messer, bis es schließlich einer Reinigungskraft und zwei Pflegekräfte gelingt, den Angreifer zu überwältigen.
"Es wurde schon Jahre kritisiert, dass dieser Teil uneinsehbar ist. Aber die Geschäftsleitung hat immer abgelehnt wegen der hohen Kosten."
Keine anderthalb Jahre später, im Februar 2020, kommt es zu einem ähnlichen Angriff. Wieder greift der Beschuldigte eine Ärztin an, wieder benutzt er ein Messer, wieder hat er sich eine schwer einsehbare Stelle ausgesucht.
Auf der Station mit mehr als 30 Patienten seien an dem Morgen lediglich zwei Pflegekräfte und sie selbst eingesetzt gewesen, berichtet die Ärztin. Heute könne sie nicht mehr mit Patient*innen arbeiten. Manche der Narben sind auch mehr als ein Jahr nach dem Angriff noch nicht verheilt. Für den Angreifer ordnet das Gericht eine Unterbringung im Maßregelvollzug an.

Mangel an ärztlicher Versorgung

Ein weiteres Verfahren vor dem Landgericht Berlin. Die Prozessbeteiligten sind sich einig, dass der Beschuldigte seinem Mitpatienten mit weichen Schuhen den Kopf eingetreten habe. Das Opfer verstarb schwer blutend auf dem Weg ins Krankenhaus.
Dass der Beschuldigte sich weigere, seine Medikamente zu nehmen, könnte ein Hintergrund sein, sagt der Richter in seiner Urteilsbegründung. Sicher habe es auch mit der Personalsituation im Maßregelvollzug zu tun. Das habe dem Gericht auch der behandelnde Stationsarzt berichtet. Er versuche jeden Tag wenigstens für fünf Minuten bei dem hochgefährlichen Beschuldigten vorbeizugehen. Das sei viel zu wenig, kritisiert der Anwalt des Beschuldigten, Thomas Schräder.
"Nachdem man also festgestellt hat, dass die Medikamentenverweigerung jetzt schwere Krankheitssymptome zeigt, da hätte man eigentlich therapeutisch – das Gericht sprach von einem Pakt, einem Bund zwischen der Anstalt und dem Patienten – in diese Richtung hätte was passieren müssen, damit man unbedingt den Patienten wieder zur Medikamentenaufnahme bewegen kann. Also der behandelnde Arzt hat das sehr deutlich auf den Punkt gebracht, und man sorgt sich natürlich um die Patienten, die offenbar nicht ausreichend ärztlich versorgt werden."

Abwährtsspirale dreht sich weiter

Eine Mitarbeiterin beschreibt die Dynamik im Maßregelvollzug so: Zu wenig Personal und beengte Verhältnisse wirkten sich negativ auf die Patient*innen aus. Deren Aussichten auf Besserung und letztlich Entlassung aus dem Maßregelvollzug verschlechterten sich dadurch. Sie müssen länger bleiben, neue Patient*innen kommen nach, der Platz auf den Stationen wird knapper, die Arbeitsbelastung für Pflege, Ärzt*innen und therapeutisches Personal steigt – und die Abwärtsspirale dreht sich weiter.
Zuständig für den Maßregelvollzug ist Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci von der SPD. Nach dem Angriff auf die Ärztin im Februar des vergangenen Jahres hatten Abteilungsleiter*innen der Klinik der Senatorin einen Brandbrief geschickt. Danach seien zwar Personalversammlungen einberufen worden, verändert habe sich aber bislang kaum etwas, so ist zu hören. Unsere Nachfragen bei der Behörde sind bis heute unbeantwortet geblieben. Schuld sei das "sehr hohe Anfrageaufkommen", teilt die Behörde mit.
Im Februar antwortete die Senatsverwaltung jedoch auf eine Kleine Anfrage der CDU im Abgeordnetenhaus, man wolle in diesem Jahr 16 zusätzliche Betten schaffen. Unter den Mitarbeiter*innen fragt man sich nun, woher das Personal für die neue Station kommen soll.
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