Zusammenprall von Alter und Neuer Welt

16.04.2009
Quebec Ende des 17. Jahrhunderts: Die ersten Siedler aus Frankreich haben sich in Kanada niedergelassen. Sie sind der französischen Tradition verbunden und suchen zugleich nach neuen Wegen auf dem fremden Kontinent. Willa Cather schildert in ihrem 1931 erstmals erschienenen Roman "Schatten auf dem Fels" in facettenreichen Bildern den Aufbruch in die Neue Welt.
"Schatten auf dem Fels" ähnelt einem großen Gemälde. Fasziniert von der ursprünglichen Landschaft Kanadas, dem rauen Wetter und den Widrigkeiten, mit denen die ersten Siedler zu kämpfen hatten, fertigt die amerikanische Schriftstellerin Willa Cather eine Serie von Tableaus an, die das Städtchen Quebec mitsamt seiner Bewohner zum Gegenstand haben. Ihr Roman ist in den Jahren 1697 und 1698 angesiedelt, ergänzt durch einen Epilog aus dem Jahre 1713. Im Mittelpunkt stehen der Apotheker Auclair, verantwortlich für das leibliche Wohl des Gouverneurs Frontenac, mit dem er einst aus Frankreich nach Kanada einwanderte, und seine zwölfjährige Tochter Cécile, die ihrem Vater seit dem Tod der Mutter den Haushalt führt. Während der Gouverneur und die beiden Bischöfe Laval und Saint Vallier historische Figuren sind, hat Willa Cather ihr übriges Personal erfunden. Ein dynamisches Element ist die Feindschaft zwischen den beiden Kirchenmännern: Während der eine ein bescheidener, trutziger Geistlicher ist, der für seine Gemeinde kämpft und die Eigenarten der kanadischen Wildnis begriffen hat, kommt sein jüngerer Nachfolger direkt aus Versailles und hängt höfischen Sitten an. Auclair, der die Ungerechtigkeiten der Ständegesellschaft nicht vergessen hat, empfindet trotz seiner Treue zu französischen Werten Kanada als einen Ort der Freiheit.

In farbenprächtigen Beschreibungen präsentiert uns die Schriftstellerin die Alltagsgeschehnisse und illustriert den Zusammenprall von Alter Welt und Neuer Welt – die bürgerlichen Gepflogenheiten von der abendlichen Vorlesestunde über Stickarbeiten bis zur roten Chaiselongue im Wohnzimmer wirken inmitten der Wildnis absonderlich, haben aber zugleich einen zivilisatorischen Effekt. Der Roman folgt dem Rhythmus der Jahreszeiten: Im Herbst laufen die Segelschiffe gen Europa aus. Bis zum nächsten Sommer wird die Provinz abgeschnitten sein von der Heimat. Cécile hat einen kleinen Schützling, ein vernachlässigtes Kind namens Jacques, dessen Mutter eine Wirtschaft für Matrosen führt. Eindringlich schildert die Protestantin Cather den tiefen Katholizismus und die inbrünstige Gottesfürchtigkeit ihrer Figuren. Im Frühjahr trifft der weniger fromme Freund Pierre Chabron ein, Sohn wohlhabender Siedler und ein Abenteurer, der auf Biberjagd geht und die Indianersprachen beherrscht. Schließlich landet auch die lang erwartete Flotte aus Frankreich. Eigentlich hatte der Gouverneur Frontenac, ein vierschrötiger unerschrockener Adliger, der die Provinz zu einer neuen Blüte geführt hat, gemeinsam mit Auclair vom König nach Frankreich zurückbeordert werden müssen, denn er ist beinahe 80 Jahre alt. Aber der ersehnte Brief trifft nicht ein – was Cécile, die zum Inbegriff einer Kanadierin geworden ist, eher erleichtert. Im Herbst stirbt der Gouverneur schließlich, und Auclair weiß, dass er nun für immer in der Neuen Welt bleiben wird.

Willa Cather (1873-1947), eine Vertreterin der klassischen amerikanischen Moderne und seit zwei Jahren durch eine Gesamtausgabe auch bei uns neu zu entdecken, hat das Sujet der frühen Siedler in ihren Romanen mehrfach aufgegriffen. Selbst auf einer Farm in Nebraska aufgewachsen, wusste sie um den Existenzkampf der Pioniere. Als sie 1928 durch einen Zufall in Quebec Station machen musste, war sie sofort gebannt von der urfranzösischen Atmosphäre, die sich weit weg vom Mutterland über Jahrhunderte erhalten hatte. Um ihrem Stoff die angemessene Authentizität verleihen zu können, reiste Cather sogar nach Frankreich und recherchierte in Paris die Lebensumstände von Frontenac. Ihr Roman ist nicht zuletzt der Versuch, die Kolonisierung des neuen Kontinents über zwei historische Gestalten zu erzählen: den kämpferischen Pragmatiker Frontenac und den Mann des Geistes Bischof Laval. Ein Schlüsselmotiv ist das der tätigen Ordnung, welche Auclair und Cécile verkörpern – beide realisieren im Einklang mit ihrer Umgebung ihren individuellen Lebensentwurf jenseits der Zwänge eines feudalen Systems und illustrieren damit eine Ur-Erfahrung der Neuen Welt.

"Schatten auf dem Fels", das 1931 in den USA herauskam, hat auf erzählerischer Ebene weniger zu bieten als Cathers Romane "My mortal enemy" (1923) oder "Lucy Gayheart" (1935) – eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht und insgesamt ist die Geschichte aus der kanadischen Einöde eine Spur zu lieblich geraten. Aber die Figuren sind eindringlich gezeichnet, und durch den Wechsel zwischen kanadischen und französischen Schauplätzen entsteht ein reizvolles Porträt des 17. Jahrhunderts. Außerdem gelingt der Schriftstellerin wieder eine anrührende Mädchengestalt. Cécile ist wie Lucy Gayheart ein ungestümes, lebendiges Geschöpf, das seinen Weg geht.

Rezensiert von Maike Albath

Willa Cather: Schatten auf dem Fels
Roman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Elisabeth Schnack
Nachwort von Sabina Lietzmann
Manesse Verlag, Zürich 2009
413 Seiten, 19,90 Euro