Zurück nach Europa!

Von Carmen-Francesca Banciu · 07.01.2007
Wenn man etwas erreichen will, soll man die Augen schließen und sich seine Ziele bildlich vorstellen. Dann die Augen öffnen, die Ärmel hochkrempeln und handeln. Und dabei sich so verhalten, als wäre alles schon längst geschehen. Das Angestrebte längst erreicht. Visionen soll man haben. Denn wer alle seine Sinne anspannt, wer seine Träume mit aller Kraft visualisiert, der hat seine Zukunft in der eigenen Hand.
Noch vor zwei Jahren, als die Welt den Beitritt Rumäniens in die EU eher als eine Wunschvorstellung betrachtete, hatte ein Bürgermeister aus einem kleinen verwunschenen Dorf aus dem Apuseni Gebirge, nicht all zu weit entfernt von Alba Iulia, der Wiege der Rumänischen Nation, einen Traum. Er führte neue Hausnummernschilder im Dorf ein mit der EU Flagge.

Vor etwa zwei Jahren hatte der damalige Bürgermeister von Bukarest und jetzige Präsident des Landes auch einen Traum. Er lies bei Kilometrul Zero, auf dem Platz der Universität, dort wo die Panzer während der Revolution die Demonstranten überrollten und wo die ersten Opfer in der Hauptstadt gefallen waren, eine elektronische Uhr aufstellen. Eine visionäre Uhr. Die nicht nur die Zeit ansagt. Sondern rückwirkend die Tage zählt. Bis zum EU Beitritt Rumäniens.

Nun ist es so weit und die Wunschvorstellung ist Realität geworden.

Zurück nach Europa! - hört man sagen. Wie in den ersten Tagen nach der Revolution. Als alle Welt mit Sympathie auf das Land schaute. Und das Land seinen einstigen Platz in Europa zurückzubekommen hoffte. Die Menschen hatten ihre Würde wieder gefunden. Strahlten voller Hoffnung in die Zukunft. Aber niemand war vorbereitet für diesen gewaltigen Umschwung. Europa bekam es mit der Angst zu tun. Man wurde diesmal ausgesperrt.

Heute ist das Land angespannt. Die Jugend in froher Erwartung. Manche aus der älteren Generation sagen: der Eintritt in die EU ist die Wiedergutmachung der Geschichte. Jetzt ist es nur gerecht, dass wir unseren Platz zurückbekommen. Der Westen hat uns damals verraten. Uns an die Sowjets verkauft. Diese Leute freuen sich mit Maß.
Die Euroskeptiker wiederum freuen sich gar nicht. Mitten in den Kreis der zwölf Sterne zeichnen sie den Hammer und die Sichel hinein. Sie sehen die EU als die neue Diktatur. Die einem sagt, wie viel Milch man unbestraft verkaufen darf. Wie fett die Schweine der Bauern sein dürfen. Wie krumm die Gurken. Wie groß die Äpfel. Und die einem verbietet seine Toten im eigenen Heim aufzubahren.

So was wird viel Unruhe bringen und die EU täte gut daran, beim Schwein des Rumänen und bei seinen Toten sich mit solchen Bestimmungen zurückzuhalten.

Die Verlierer der neuen Zeiten sind die Rentner und die Bauern.

In der Stadt sieht es anders aus. Bukarest läuft auf Hochtouren. Das ist spürbar, sobald man aus dem Flugzeug steigt. Die Luft ist wie elektrisch geladen. Man wird von der Energie der Stadt angesteckt. Es riecht nach Freude. Nach Hoffnung. Nach Profit. Nach Geld.

Überall sieht man Geld. Die Wechselstuben sind wie die Pilze aus dem Boden gewachsen. Die Rumänen jammern gerne. Jammern ist ein Nationalsport. Man jammert aber nur nebenbei. Während man gleichzeitig etwas Neues auf die Beine stellt. Oder ins Ausland arbeiten fährt. Sicher ist das Leben hier eine tägliche Herausforderung. Bis an die Grenzen. Und noch weiter. Man hat drei Jobs. Oder man hat keinen. Man hat alle Zeit der Welt oder gar keine. Wer jung ist, hat alle Chancen. Dem öffnet Europa die Türen.

Auch in Rumänien sind die Türen offen für Europa. Und für die Welt. Rumänien ist ein attraktives Land geworden. Ein Einwanderungsland. Chinesen, Koreaner, Araber und andere Migranten bemühen sich um die rumänische Staatsbürgerschaft. Deutsche und andere EU Bürger eröffnen Firmen. Machen Geschäfte. Kaufen Land und Immobilien. Wählen ihren zweiten Wohnsitz. Die ausländischen Banken machen 60 Prozent des Bankwesens aus. Für die Versicherungsbranche ist Rumänien das Paradies.

Rumänien ist ein junges Land. Ein neues Land, voller Energie, reich an Bedürfnissen und mit einem großen Nachholbedarf. Geld lässt sich hier gut verdienen für die Neuankömmlinge. Und besonders vermehren. Gleichzeitig werden viele Rumänen die Erdbeeren aus Spanien und den Spargel aus Deutschland ernten gehen. Und mit ihren mickrigen Tagelöhnereinkünften, die sie über Westernunion nach Hause schicken, ihre Familien versorgen. Sie werden damit ihre Kinder zum Studium schicken. Ein junges Schwein für die nächsten Weihnachten kaufen. Und den Bau an dem Familienhaus noch ein Stückchen weiter ermöglichen.

Ein Kommen und ein Gehen herrschen im Lande. Ein Geben und ein Nehmen. Rumänien macht sich trotzdem Sorgen. Um seine Wälder. Seine Bodenschätze. Und ganz besonders um den Verlust seiner ausgebildeten Fachkräfte. Die ins Ausland verschwinden und das Land ausbluten lässt. Denn schließlich investiert das Land immer noch mehr in Bildung als in Gesundheit und Verteidigung zusammen.

Die neue Migration findet in allen Schichten und in allen Richtungen statt. Wie mir im Flugzeug mein Nachbar, ein alter Herr, der ein paar Diktaturen überlebt hatte und noch Kraft gefunden hatte seine Tochter im Westen zu besuchen, sagte: Ich war jetzt draußen und habe alles mit eigenen Augen gesehen. So ist es nun mal. Wir brauchen Europa. Und Europa braucht uns.

Carmen-Francesca Banciu, 1955 im rumänischen Lipova geboren, studierte Kirchenmalerei und Außenhandel in Bukarest. Die Verleihung des Internationalen Kurzgeschichtenpreises der Stadt Arnsberg hatte für sie 1985 ein Publikationsverbot in Rumänien zur Folge. Seit November 1990 lebt sie als freie Autorin in Berlin, schreibt Beiträge für Rundfunkanstalten und leitet Seminare für Kreatives Schreiben. Bisher erschienen u.a. die Prosabände "Fenster in Flammen" (1992), "Filuteks Handbuch" (1995), "Vaterflucht" (1998) und "Ein Land voller Helden" (2000). Gerade bei Ullstein herausgekommen ist "Berlin ist mein Paris. Geschichten aus der Hauptstadt".
Carmen-Francesca Banciu
Carmen-Francesca Banciu© Marijuana Gheorghiu