SPD und Mitgliedervoten

Lob der Repräsentation

29:54 Minuten
Die orange illuminierte Reichstagskuppel bei Abenddämmerung.
Wie kann man das politische System, wie wir es kennen, retten? Mit mehr direkter Demokratie oder mehr Repräsentation? © picture alliance / Bildagentur-online
Florian Meinel im Gespräch mit Thorsten Jantschek · 07.12.2019
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Die großen Parteien versuchen mit Formen direkter Demokratie dem eigenen Mitglieder- und Bedeutungsverlust entgegenzuwirken. Florian Meinel hält diese Entwicklung hingegen für fatal und hebt die Entlastungswirkung von repräsentativen Verfahren hervor.
Weltweit befindet sich der Parlamentarismus in der Krise, wie es scheint. Auch in Deutschland sind Auflösungstendenzen des politischen Systems, wie wir es bisher kennen, zu beobachten. Diese zeigen sich vor allem am Zustand der bisherigen Volksparteien: Die Wahlergebnisse von Union und SPD brechen ein, dafür legen kleinere und radikalere Parteien in der Wählergunst deutlich zu.
Den Versuch, diesen Veränderungen mit Mitgliedervoten entgegenzuwirken, hält der Würzburger Jurist und Rechtsphilosoph Florian Meinel für fatal: "Diese Mitgliedervoten polarisieren und spalten die Anhängerschaft, also die sogenannte Basis, in einem Maße, wie das Parteitagsbeschlüsse nie tun."
Einer der großen Vorteile von Repräsentation liege nämlich darin, dass sich die Mitglieder hinterher von auf Parteitagen gefällten Beschlüssen distanzieren können. Diese Entlastungswirkung von repräsentativen Institutionen gebe man aber aus der Hand, wenn man jede Frage der allgemeinen Mitgliederbefragung unterwerfe.
Die Parteien könnten sich so nicht mehr durch den Austausch von Repräsentanten von den Fehlern eigener Entscheidungen entlasten: "Die SPD kann sich schon jetzt nicht, zum Beispiel durch andere Parteitagsbeschlüsse, von dem Mitgliederbeschluss für die Große Koalition, den sie 2018 getroffen hat, entlasten."

"Vertrauensfrage: Zur Krise des heutigen Parlamentarismus"

Thorsten Jantschek: Neuanfang oder Selbstzerlegung, das kann man sich wirklich fragen, wenn man sieht, was in der SPD gerade passiert. Nach dem Ergebnis des Mitgliedervotums am vergangenen Wochenende hat der Parteitag der Sozialdemokraten wenig überraschend Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zu den neuen Parteivorsitzenden gewählt. Offen bleibt aber die Frage, wie es genau mit der Regierungsbeteiligung der Partei weitergeht.
Über die SPD und ihre Beteiligung an der Großen Koalition, über die Rolle der Volksparteien im politischen System überhaupt möchte ich heute sprechen mit Florian Meinel. Er lehrt in Würzburg öffentliches Recht und Rechtsphilosophie und hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Vertrauensfrage: Zur Krise des heutigen Parlamentarismus".
Man könnte, wenn man auf die Große Koalition schaut, auf die Idee kommen, dass das, was in der SPD geschieht, nicht gerade dazu beiträgt, die Krise, über die wir noch sprechen werden, des heutigen Parlamentarismus zu beheben, oder?

"Mitgliederbefragung als Zeichen von Schwäche"

Florian Meinel: Vermutlich nicht. Das ist im Grunde auch die ganz große Frage, wieso die SPD weiter auf dieses Instrument der Mitgliederbefragung setzt. Denn die Malaise, in der sie steckt, das Hinauswollen und Nichthinauskönnen aus der Koalition beruht ja eben gerade darauf, dass sie in die Koalition hineingekommen ist mit einer Mitgliederbefragung. Und in gewisser Weise scheint es mir ein Zeichen einer ungeheuren Schwäche von Parteiführung zu sein, dass sie sich nur noch über dieses Mittel der Mitgliederbefragung zu helfen weiß. Das größte Opfer dieses Prozesses ist im Moment die SPD in Deutschland.
Jantschek: Ich möchte jetzt wirklich keine Parteitagshermeneutik betreiben, obwohl ich mir eine ganze Reihe von Sachen angehört und angeschaut habe, aber dieses Mitgliedervotum ist eine merkwürdige Angelegenheit bei einem Parteitag, der ja eigentlich von Repräsentation und Delegierten lebt.
Meinel: Ja, weil es im Grunde natürlich die Parteitage in doppelter Weise funktionslos macht. Es gibt ihnen Entscheidungen vor, die nur noch zu bestätigen sind. Und es macht sie natürlich auch für die Zukunft immer unwichtiger, weil jede Grundsatzfrage, die auf Parteitagen zur Entscheidung stehen kann, ja im Grunde immer mit dem Makel behaftet sein wird in der Zukunft, dass es kein Mitgliedervotum über eine bestimmte Frage gegeben hat. Und daran hat, glaube ich, keine Partei, wenn sie handlungsfähig und mehrheitsfähig bleiben will, am Ende Interesse.
Jantschek: Die Verklammerung von Parlament und Regierung, das schreiben Sie in Ihrem Buch, ist der institutionelle Kern der Verfassung der Bundesrepublik. Was bedeutet das denn im Blick auf die Volksparteien, die auch im Parlament vertreten sind?
Meinel: Dazu möchte ich ein bisschen weiter ausholen. Ich glaube, es ist ganz wichtig, sich klarzumachen, dass Parlamente, so wie wir sie kennen, wie wir sie in den bürgerlichen Verfassungen seit gut 200 Jahren haben, nicht aus sich heraus demokratische Institutionen sind. Parlamente sind historisch entstanden als Repräsentationsinstitutionen ganz kleiner, verschwindend geringer, äußerst privilegierter wahlberechtigter, besitzender Oberschichten.
Noch Anfang des 19. Jahrhunderts waren es kleine Prozentteile der Bevölkerungen in den europäischen Staaten, die überhaupt das Wahlrecht hatten, und zwar auch in den alten Demokratien wie in England. Die Parlamente konnten aber das Zeitalter der Massendemokratie erreichen, weil es Parteien gibt. Und weil es Parteien gibt, war es möglich, dass in den Parlamenten Gruppen auftraten, die eine breite, nämlich bei einer allgemein wahlberechtigten Bevölkerung erhobene Unterstützung für politische Programme in das Parlament hineinbrachten und damit auch die Sanktionierbarkeit von Regierungspolitik möglich machten.

Parteien verklammern Parlament und Regierung

Regierungen werden also von Parteien getragen, die wiederum im Grunde Massenparteien sind, die auf Mitgliedern beruhen. Und diese Parteien stellen sich bei künftigen Wahlen wieder zur Wahl. Und das sichert im Grunde erst die Vereinbarkeit der Parlamente, in denen sehr wenige Mitglieder sind, mit dem, was wir Massendemokratie nennen. Deswegen hängt so unendlich viel in unseren Demokratien an der Art und Weise, wie Parteien organisiert sind und wie sie funktionieren.
Jantschek: Diese Funktionsweise ist immer schlechter geworden. Wir können über diese Mitgliederzahlen sprechen, die immer geringer werden bei den sogenannten Volksparteien. Bei der SPD weiß man ja gar nicht mehr, ob man noch richtig von einer Volkspartei sprechen kann. Aber wie zentral ist, wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, die Verklammerung von Parlament und Regierung? Und dazwischen sitzen natürlich die Fraktionen und das muss irgendwie koordiniert werden.
Wie geht denn das jetzt weiter mit der SPD zum Beispiel? Die ist in der Regierung. Die ist im Parlament. Die hat jetzt eine Fraktion, aber eben eine neue Parteispitze, die jetzt einen anderen Kurs ausgibt.
Meinel: Ich glaube, an der SPD kann man es besonders gut zeigen. Vielleicht ganz kurz: Was ist eine Volkspartei? Eine Volkspartei darf man sich, glaube ich, nicht so romantisch vorstellen. Es ist ganz hilfreich, vielleicht den englischen Begriff einzuführen. Im Englischen nennt man solche Parteien "Catch-all Parties", also Parteien, die im Prinzip alle ansprechen, ungeachtet ihrer Herkunft, ihrer Konfession usw. Diese Volksparteien, wir haben in der Bundesrepublik zwei, sind historisch relativ junge Erscheinungen. Sie sind eigentlich – im Fall der SPD – erst Ende der 50er-Jahre entstanden. Die CDU…
Jantschek: Mit dem Godesberger Programm.
Meinel: Eigentlich erst nach Godesberg, als sie aufgehört hat, sich explizit als eine Klassenpartei zu verstehen. Die CDU ist eigentlich erst als Reaktion darauf zu einer Volkspartei mit einem programmatischen Anspruch geworden, während sie früher eher so ein lockerer Honoratioren-Wahlverein mit sehr starkem Verbändeeinfluss und wenig Parteistrukturen gewesen ist.
Und was jetzt die Parteien so essenziell wichtig macht für die Umsetzung von Wahlentscheidungen und Regierungspolitik, ist die Tatsache, dass die Parteiführung als solche für Regierungsämter zur Wahl steht. Das heißt: Das Recht zur Regierungsbildung fällt in parlamentarischen Demokratien denjenigen Parteien zu, die in der Lage sind, eine Mehrheit im Parlament zu organisieren.

Eine Krise der Parteien führt zur Krise des Regierungssystems

Die Partei ist im Grunde die Organisation, die die Spitzen der Exekutive, also die Mitglieder der Regierung, die Minister, Bundeskanzlerin, Bundeskanzler einerseits und andererseits die Parlamentsfraktion umgreift, beide verbindet, zu einer Einheit formt, so dass die Parteien im Grunde die Organisationen sind, in denen es möglich ist, Programmatik in Gesetzgebungsprogrammatik, Fraktion und Regierungshandeln, Regierung zu übersetzen.
Und in dem Maße, wie Parteien schwächer werden und diese Umsetzung von politischen Programmen in Regierungshandeln schwieriger wird, desto stärker steht natürlich auch das Regierungssystem als Ganzes, so wie wir es bisher gekannt haben, infrage.
Jantschek: Was bedeutet das konkret für die SPD, weil Sie gesagt haben, daran lässt sich das besonders gut zeigen?
Meinel: Ich glaube, es gibt einen Grund dafür, wieso die SPD einerseits mit der Koalition so ungeheuer hadert, andererseits auch nicht aus ihr heraus kann. Die SPD ist natürlich inzwischen aus einer langen Tradition heraus sehr stark auf eine staatstragende Rolle als Regierungspartei festgelegt. Der Satz "Opposition ist Mist" stammt ja nicht zufällig von einem SPD-Politiker. Andererseits ist eben in der SPD, soweit ich das beurteilen kann, das Gefühl dafür, dass eine Parteiprogrammatik in hinreichendem Umfang in Regierungshandeln transponiert werden kann, ganz stark geschwächt.
Ob das jetzt stimmt oder nicht, siehe Grundrente, siehe ganz vieles andere, ob das stimmt oder nicht, ist, glaube ich, ganz zweitrangig, sondern es ist eine Frage, wie stark die Mitglieder der Fraktion, wie stark auch die Eliten der Partei eigentlich noch an die Gestaltungskraft der Macht, die sie in den Händen halten, glauben. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.
Jantschek: Ich habe jetzt ein Interview parat, das dazu passt, was Sie gerade gesagt haben, nämlich sozusagen die Bindung der Partei, des Parteiwillens, der auf einem solchen Parteitag, wie er derzeit stattfindet, geformt wird, in Regierungshandeln. Also Norbert Walter-Borjans sagt in der Süddeutschen Zeitung:
"Die CDU spricht stolz vom Fetisch der Schwarzen Null. Dagegen lege ich das Bild einer kaputten Schule, einer kaputten Straße, eines Handys ohne Netz. Wir müssen investieren und zwar nicht nur nach Kassenlage. Das sieht auch Olaf Scholz so." Saskia Esken ergänzt: "Und das versteht sich doch von selbst. Die Regierungsmitglieder versammeln sich hinter dem Willen der Partei."
Das klingt auf der einen Seite aus der Logik dessen, was Sie gesagt haben, verständlich, aber aus der Logik unserer politischen Realität geradezu unverständlich.

Natürlich stellen Parteien Führungsansprüche

Meinel: Es ist allerdings natürlich der alte Anspruch beider Volksparteien gewesen. Der ist natürlich in der CDU schon sehr viel stärker abhanden gekommen unter der Kanzlerschaft von Merkel. Unter Kohl entsprach es jedenfalls dem, was Kohl immer öffentlich geäußert hat: dass der CDU-Bundesvorstand einen Führungsanspruch gegenüber der Fraktion und der Regierung hat. In der SPD ist das noch stärker verankert, dieses Bewusstsein, dass die Amtsträger nach Maßgabe von der Meinung der Partei ihr Amt ausüben.
Im Grunde ist es selbstverständlich, aber die Tatsache, dass das eine Äußerung ist, die Zweifel nach sich zieht oder die bemerkenswert erscheint, zeigt doch, wie wenig das eigentlich der erfahrenen Realität des Regierungshandelns entspricht.
Jantschek: Welche Rolle spielt denn dann so ein Minister wie Olaf Scholz, der ja innerhalb der Regierung eine große, sagen wir, Autonomie hat und dem Kabinett angehört und nicht primär der Fraktion?
Meinel: Das ist insofern eine sehr komplizierte Frage, als sie zwei Ebenen hat. Die eine ist die Frage: Welche Rolle spielen überhaupt im deutschen Regierungssystem Minister, die nicht der Fraktion angehören? Also, gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Ministern, die wie eben Scholz, der zur Zeit der Regierungsbildung noch Bürgermeister in Hamburg war und dann erst später in die Regierung kam, deswegen nicht der Bundestagsfraktion angehört? Spielen die eigentlich eine Sonderrolle gegenüber Mitgliedern mit parlamentarischer Machtbasis? Das ist eine sehr schwierige, verfassungsrechtlich und politisch nicht ganz klare Frage.
Die andere Frage ist: Inwiefern lässt sich eigentlich überhaupt ministerielles Regierungshandeln von den Fraktionen determinieren? Das ist deswegen so schwierig, weil in Deutschland die Unterscheidung von Politik und Bürokratie sehr diffus, sehr vage ist. Minister sind in ihrer Machtstellung dadurch definiert, dass sie zugleich Teil des Kollegiums Regierung sind. Sie sind aber gleichzeitig Amtschefs der Bundesministerien als großer bürokratischer Organisationen. Diese Doppelstellung aus Chef einer riesigen Bürokratie, im Fall des Finanzministeriums einer ganz ungeheuer riesigen Bürokratie..
Jantschek: Und wichtigen…

Über die Doppelrolle von Ministern

Meinel: … und wichtigen Bürokratie, diese Doppelstellung als Chef einer Bürokratie und Teil einer politischen Regierung gehört zur Ambivalenz des Ministeramtes. Und das Ministeramt bezieht seine Macht daraus, dass man immer sozusagen schwenken kann zwischen dem politischen Amt und der Tatsache, Sprecher einer bürokratischen Organisation zu sein.
Jantschek: Wenn wir jetzt auf die Fraktion schauen, würde man normalerweise ja sagen, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind eigentlich nur ihrem Gewissen verpflichtet. Das ist sozusagen die Grundbedingung. Zugleich gibt es die Parteiraison, die Fraktionsdisziplin. Wie kann man das denn jetzt unter den neuen Bedingungen für die SPD definieren? Also, es ist ja im Grunde genommen ein Schwenk der politischen Agenda, könnte man sagen.
Meinel: Ja, aber das gehört, glaube ich, zu den großen Missverständnissen des freien Mandats und des Parlamentarismus, dass wir unter Gewissensbindung häufig etwas verstehen, was ganz unrealistisch ist. Das freie Mandat und die feste Amtsperiode gewählter Abgeordneter haben natürlich nicht zuletzt den Sinn, die Parlamente reaktionsfähig zu halten in sich ändernden politischen Lagen.
Und in diesen geänderten politischen Lagen müssen politische Kurswechsel auch von den gewählten Parteien organisierbar und orchestrierbar sein, ohne dass es demgegenüber jetzt Vorbehalte mit Blick auf das individuelle Gewissen geben kann. Das gehört im Grunde dazu. Das ist einfach eine der Erwartungen, die man an gewählte Parteien hat, dass sie sich adaptieren können und dass sie stringent Positionen fortentwickeln im Hinblick auf veränderte Lagen. Alles andere würde uns ja auch enttäuschen.

Parteien müssen sich anpassen können

Stellen Sie sich vor, man wählt eine Partei und es ändert sich irgendwas und eine neue Lage entsteht und die Partei sagt: Dazu können wir uns jetzt gerade gar keine Meinung bilden, weil wir die bei der Wahl noch nicht kommuniziert haben. Das würde ja all unseren Erwartungen widersprechen.
Jantschek: Sie diagnostizieren in Ihrem Buch einen fehlenden Willen der Parlamentsparteien zur Übernahme der Regierungsmacht. Das heißt, Sie gehen im Grunde genommen von der Unfähigkeit der Parteien aus, über die Parlamentsfraktion eine Regierungspolitik aufzubauen. Und als ein Zeichen dessen beschreiben sie die immer länger werdenden Koalitionsverhandlungen. Was bedeutet das denn genau?
Meinel: Ich fange vielleicht mal so an: Die Bereitschaft der Parteien zur Übernahme von Regierungspolitik ist ja sehr uneinheitlich ausgeprägt. Wir haben im deutschen Regierungssystem eine Partei, die Union, zu deren natürlichem Selbstverständnis es gehört, die Regierung zu bilden. Und im Grunde muss es natürlich aus Sicht der Unionsparteien immer als ein unnormaler Zustand erscheinen, nicht zu regieren.

Über die Doppelrolle von Parteien

Dagegen haben wir andere Parteien, bei denen - das beste Beispiel ist natürlich dafür die FDP 2017 nach dem Scheitern der Jamaika-Koalition - die es aus taktischen Gründen vorziehen, auch wenn die Regierungsbildung in greifbarer Nähe ist, von der Möglichkeit der Regierung abzusehen. Das scheint mir darauf hinzudeuten, dass es Anreizsysteme gibt, die im deutschen Regierungssystem wirksam sind, die stärker als früher oppositionelle Strategien mit Wahlerfolg prämieren.
Jetzt kann man sich fragen: Warum ist das eigentlich so? Ein Grund scheint mir darin zu liegen, dass – das betrifft vor allem die Grünen – das deutsche Regierungssystem Parteien Doppelrollen anbietet durch den Föderalismus. Das deutsche Regierungssystem funktioniert so, dass Parteien im Grunde nie ganz in der Opposition sind, weil auch Parteien, die im Bund in der Opposition sind, durch Regierungsbeteiligung in den Ländern immer ein Stück der Bundesgesetzgebung mitbestimmen…
Thorsten Jantschek: Über den Bundesrat.
Meinel: … über den Bundesrat. Das führt zum Beispiel dazu, dass die Grünen, die ja bei der Regierungsbildung in den Ländern außerordentlich erfolgreich sind und deswegen im Bundesrat mittlerweile eine ganz erhebliche Macht aufgebaut haben, sich im Grunde ja in einer quasi gefühlten Mitregierung befinden, die sich auch in einer entsprechend staatstragenden Kommunikation äußert, die, obwohl sie im Bund in der Opposition sind, die im Grunde ihren ganz maßgeblichen Hebel in der Macht, in der Mitgestaltung über den Bundesrat, die sich dann öffentlich artikuliert bei solchen Fragen wie der Ausweisung sicherer Drittstaaten und im Aufenthaltsrecht oder bei bestimmten Personalentscheidungen, wie auch immer, oder beim Klimapaket.

"Mitregieren über die Länder und Opposition im Bund"

Aber das ist jedenfalls eine Möglichkeit. Und das verwischt natürlich auf der Bundesebene ein bisschen die Klarheit der Unterscheidung von Regierung und Opposition und lässt erfolgreiche Doppelstrategien zu: einerseits Einbindung über den Bundesrat, also mitregieren, und andererseits eine oppositionelle Rolle im Bund.
Der andere Grund ist, scheint mir zu sein, dass die Organisation der Bundesregierung sich so verändert hat in den letzten Jahrzehnten, dass die Rolle des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramts in einer Weise wichtig und entscheidend geworden ist, die die ganze Tektonik des Systems ein bisschen durcheinander bringt.
Jantschek: Vielleicht muss man bei Ihnen sagen, Florian Meinel, heute zu Gast im Deutschlandfunk Kultur im Tacheles, dass es zwischen der Regierung und dem Parlament drei Vermittlungsinstitutionen gibt, nämlich das Bundeskanzleramt, das Bundesverfassungsgericht und die Volksparteien. Das ist sozusagen die Basis, wenn man die Tektonik insgesamt betrachtet. Und warum ist das Bundeskanzleramt jetzt so mächtig geworden?
Meinel: Lassen Sie mich kurz sagen, warum das miteinander zusammenhängt. Das hängt deswegen miteinander zusammen, weil Koalitionsverhandlungen - Sie hatten die Koalitionsverhandlungen vorhin ja auch schon angesprochen - wegen dieser ungeheuer herausgehobenen Bedeutung des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes im Grunde ja seit einiger Zeit so verlaufen, dass die Partei, die den Anspruch stellt, das Kanzleramt zu besetzen, im Grunde damit eigentlich schon ihren Teil in den Verhandlungen voll befriedigt bekommen hat, weil dieser Preis der größte ist, den das System zu verteilen hat, und dass deswegen die anderen Parteien im Grunde in ganz überproportionaler Weise ihre Programmatik durchsetzen können.

Kanzleramt versus Umsetzung der eigenen Programme

Das kennen kennen wir aus fast allen Koalitionsverhandlungen, die die CDU in den letzten anderthalb Jahrzehnten geführt hat. Die CDU stellt das Kanzleramt und die anderen Parteien sagen, was man dann da so macht. Gleichzeitig ist diese Macht des Kanzleramts aber so hoch, dass sie sich trotzdem dann im realen Regierungshandeln als ein Gefühl der Ohnmacht, der Machtlosigkeit, des Einflussverlustes bei den anderen Koalitionsparteien auswirkt, und zwar obwohl natürlich ganz viele Politikprojekte im Einzelnen auf Initiativen, Präferenzen, Wahlprogramme der Koalitionspartner zurückgehen.
Das ist im Grunde das Dilemma, in dem die SPD seit dem Eintritt in die Große Koalition steckt und was sie immer mehr in diese gefühlte Opposition, die sie aber nicht wirklich realisieren kann, hineintreibt, in der sie heute steht.
Jetzt ist natürlich die zweite Frage: Warum ist das so? Warum hat die Macht des Kanzlers in dieser Weise zugenommen? Das wird man vielleicht auch bezweifeln. Natürlich war Adenauer auch ein ganz mächtiger Kanzler, keine Frage. Vielleicht ist Adenauer auch ein bisschen ein schlechtes Beispiel. Vielleicht ist die heutige Regierungsorganisation der Adenauer-Zeit auch ähnlicher als der Zeit dazwischen.
Ich glaube, der maßgebliche Grund ist einfach der, dass erstens die internationale Abstimmung politischer Positionen ungeheuer zugenommen hat und die internationale Abstimmung politischer Positionen eigentlich immer nur über das Kanzleramt möglich ist, weil, Ressortkoordinierung dauert lange und im Kanzleramt laufen die Fäden, banal gesprochen, zusammen.
Der zweite Grund hängt einfach damit zusammen, dass die Kommunikationsschnelligkeit politischer Entscheidungen ungeheuer zugenommen hat. Und auch die Schnelligkeit von Reaktionszyklen hat natürlich immer eine Zentralisierung von Entscheidungsstrukturen zur Folge, weil eben langwierige dezentrale Abstimmungen zwischen unterschiedlichen Ministerien furchtbar lange dauern und Positionen relativ schnell kommuniziert werden müssen.
Es gibt noch andere Gründe, aber das scheinen mir die wichtigsten zu sein. Und das wirkt sich eben in dieser Weise aus.
Jantschek: Die Koalitionsverhandlungen werden nicht nur insgesamt länger, sondern sie finden jetzt auch öfter statt, weil die SPD jetzt die sogenannte "Revisionsklausel" im Koalitionsvertrag ziehen möchte. Das heißt also, nach der Halbzeit nochmal nachzuverhandeln, was im Koalitionsvertrag zu stehen hat, und zu überprüfen. Die Union hat gesagt, "Machen wir nicht!", also sowohl Annegret Kramp-Karrenbauer als Parteivorsitzende als auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel haben gesagt: "Mit uns nicht!" Was passiert jetzt?
Meinel: Was passiert, wird man sehen. Das hängt natürlich auch davon ab, welches Eskalationspotenzial die neue SPD-Führung am Ende bereit ist aufzubauen. Da sind die Signale ja so ein bisschen widersprüchlich. Was man vielleicht bedenken muss dabei, ist, dass bei Koalitionsverträgen ich immer so ein bisschen den Eindruck habe, dass eigentlich auch von den Beteiligten niemand so richtig an sie glaubt. Ich habe eigentlich noch nie jemanden getroffen, für den Koalitionsverträge in dieser Detailliertheit, auf hunderten von Seiten ganz eng beschrieben und alles im Detail organisiert, sonderlich sinnvolle Instrumente sind.

Dem Machtverlust entgegenwirken

Die Frage ist: Warum macht man das eigentlich? Und ich glaube, die entscheidende Erklärung dürfte darin liegen, dass die Koalitionsverträge – anders als das praktische Regierungshandeln – ja wirklich von den Parteien bestimmt werden. Die Koalitionsverträge werden nicht von den Ministern, auch nicht von den Fraktionsvorsitzenden und nicht vom Kanzler unterschrieben, sondern sie werden von den Parteivorsitzenden unterschrieben.
Und bei den Koalitionsverträgen haben die Parteien – jedenfalls formal – noch den Einfluss, den sie eigentlich für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie insgesamt haben sollten. Das ist, glaube ich, auch der Grund, warum sich die Parteien, deren Einfluss und deren Schlagkraft so stark abnimmt, so sehr auf dieses Instrument der Koalitionsverträge werfen und versuchen, dann alles darüber zu steuern.
Jantschek: Diese Koalitionsverträge sind aus der Sicht eines Verfassungstheoretikers womöglich eine merkwürdige Angelegenheit, weil in Frühzeiten der ersten Koalition Briefe ausgetauscht wurden, in denen das Regierungshandeln abgestimmt wurde, und zwar weil man Angst hatte, so eine Art von Vertrag zu schließen. Was sind das für Instrumente?
Meinel: Also rechtlich hat das natürlich keine Bedeutung. Das bindet niemanden. Es bindet die Regierung nicht. Es bindet aber auch die Abgeordneten der Fraktionen nicht. Also rechtlich gesehen sind Koalitionsverträge ein Nullum. Aber der Befolgungszwang ist immens. Sie haben natürlich längst eine Funktion als so eine Art Ersatzlegalität, also als Ersatzprogramm für das Regierungshandeln gewonnen. Und ihre faktische Befolgung ist manchmal höher als die Befolgung von Verfassung und Gesetz.
Jantschek: Wenn man jetzt diese Koalitionsverhandlungen, die wieder womöglich anstehen, betrachtet, könnte man sich zu der These aufschwingen, dass, je schwächer die Volksparteien durch bestimmte Prozesse sind, desto stärker versucht man, das zu formalisieren in dieser Art von Verhandlung?
Meinel: Da kann ich nur zustimmen. Genau so ist es. Aber das ist natürlich ein generelles Phänomen, dass Institutionen, deren selbstverständliches Prestige, deren Einfluss, deren Macht schwindet, immer versuchen werden, durch die Formalisierung ihres Einflusses von diesem Einfluss noch ein bisschen was zu retten.
Jantschek: So wie Sie die Volksparteien bis jetzt beschrieben haben, könnte man ja auf die Idee kommen, dass das eigentlich etwas ist, was in der gegenwärtigen, man könnte sagen, "fragmentierten" Gesellschaft mit Echokammern, mit - sagen wir: losen Wählerbindungen, Protestwählern - eigentlich überhaupt ein ausgedientes, obsolet gewordenes Projekt ist.
Meinel: Parteien mit sehr festen, breiten Mitgliedschaften, dieser dezentralen Organisationsform mit Kreisverbänden und Landesverbänden und Parteitagen und relativ festen Lagerkoalitionen und Konstellationen, da sehe ich im Moment in der Tat auch nicht, wie man das, so wie es das in den Jahrzehnten der alten Bundesrepublik mal gab, wiederbeleben sollte.
Das heißt natürlich nicht, dass es nicht andere Formen von Parteien geben kann. In gewisser Weise ist die Partei auch einfach schlicht eine Konsequenz aus der Tatsache, dass Politik professionell ist. Und wir können ja die Repräsentanten nicht alle vier Jahre komplett auswechseln oder durch Los vergeben, sondern die Politik ist ein Beruf.
Die Leute erwerben Expertise. Sie spezialisieren sich. Man lernt das Geschäft. Und diese Spezialisierung, die kann natürlich nur in Organisationen erfolgen. Und in diesen Organisationen muss es Karrieren geben. Und diese Organisationen müssen zur Wahl stehen. Und all das gehört, glaub ich, einfach zu einem professionellen politischen Betrieb dazu.
Die andere Frage ist, ob die zum Wähler hin so organisiert sein müssen, wie die Volksparteien es waren. Das, glaube ich, ist nicht verbürgt für die Zukunft.
Jantschek: Was könnte denn da helfen? Wir haben auf der einen Seite eben diese klassischen Parteikarrieren, so sagt man ja auch, die mittlerweile unter Legitimationsdruck geraten sind. Also könnte man sagen, das ist völlig natürlich, dass es so etwas wie Parteipatronage geben kann.
Aber wir haben mittlerweile eine Partei im Deutschen Bundestag sitzen, nämlich die AfD, die quasi antiparlamentaristisch operiert und viel mehr direkte Demokratie haben möchte, weil sie den Parlamentarismus als ein oligarchisch geschlossenes System, also der Machteliten, begreift, und wenn man sagt, dass die Volksparteien in der klassischen Form wesentlich zum Parlamentarismus dazu gehören, attackiert.

Der deutsche Parteienstaat wirkt integrativ

Meinel: Das ist als solches noch nicht so furchtbar aufregend. Denn der Parteienstaat hat ja die Eigenschaft, da eine ungeheure Integrationsdynamik zu haben. Also, noch jede Protestpartei ist bisher mit der Agenda, gegen alle anderen Parteien zu sein, aufgetreten und hat sich eigentlich den Geschäftsformen des Parteienstaates recht schnell angegliedert. Die Grünen sind ja auch so ein Beispiel dafür. Die Linke ist ein anderes Beispiel dafür.
Auch die AfD ist natürlich schlicht und ergreifend durch die Zwänge des Parteien- und Wahlrechts dazu gezwungen, sich zu einer ganz klassischen Partei mit Ortsvereinen, Landesverbänden, Parteitagen, Wahlen, festen Mitgliedschaften und der Teilnahme an staatlicher Parteienfinanzierung zu machen. Und damit wird sie sozusagen in das System relativ kommod integriert, weil die Spielregeln eben so sind. Und über diese Spielregeln müsste man reden.
Die Spielregeln sind aber bisher so, dass sie eben den Zugang zu Wahlen, zur Wahlbeteiligung und damit den Zugang zu formalisierter verfassungsstaatlicher Macht, diesem Organisationstyp Partei vorbehalten.
Jantschek: Und was folgt daraus?
Meinel: Daraus folgt erstmal zunächst nichts. Das deutsche Parteienrecht ist relativ änderungsresistent. Jeder, der demokratische Macht über Parlamente und Regierung erringen will, muss sich selbst an den Organisationstyp Partei anpassen. Damit ist das System relativ änderungsresistent.

Neue Formen der Mitgliedschaft denkbar

Jetzt kann man natürlich überlegen, ob es dem politischen System eine neue Dynamik zuführen könnte, diese Regeln zu ändern. Man könnte also darüber nachdenken, ob man Parteimitgliedschaften stärker lockert. Das ist ja zum Beispiel in Großbritannien in der Labour-Party sehr stark geschehen. In der CSU gibt es ähnliche Überlegungen. Also, lockere Assoziationen zu Parteien schaffen mit einem gewissen, begrenzten Mitspracherecht ohne die Vollmitgliedschaft, die mit einem Habitus von langweiligem Ortsverein einhergeht…
Jantschek: Der Freundeskreis der SPD.
Meinel: Ja, so etwas in der Art. Das kann man natürlich machen. Die Gefahren liegen auf der Hand. Also, die Labour-Party in Großbritannien ist das beste Beispiel dafür. Eine Partei, die sich dadurch, dass es so eine "Mitgliedschaft light", diese sogenannte "Drei-Pfund-Mitgliedschaft", gegeben hat, mittlerweile in der babylonischen Gefangenschaft einer im Grunde One-Man-NGO ihres Parteivorsitzenden befindet.
Ob man das für einen sinnvollen Weg hält, da kann man drüber diskutieren. Solche Wege sind aber sicherlich in der Lage, dem Parteiensystem, jedenfalls kurzfristig, so etwas wie eine Dynamik, einen Aufbruchsgeist einzuhauchen.
Das andere Beispiel ist Frankreich. La République en Marche, also die Macron-Partei, die ja zunächst einmal eher eine NGO gewesen ist und die wegen der Spezialitäten des französischen Parteienrechts dann sehr schnell an Wahlen teilnehmen konnte. Auch das kann man natürlich machen. Man kann das deutsche Parteienrecht ja so ändern, dass man NGOs, wenn sie denn irgendwie Kandidaten aufstellen, den Zugang zu Wahlen eröffnet.
Nur darf man sich natürlich da nicht täuschen. NGOs sind im Inneren nicht demokratisch organisiert, wie Parteien es sind, sondern es sind eben Gruppen, die sich durch eine Agenda, meistens eine Führungsfigur und ein relativ rigides, meistens auf ein oder zwei Themen konzentriertes politisches Programm definieren und die dann natürlich auch in puncto Kandidatenaufstellung, Programmatik usw. sehr viel weniger demokratisch organisiert sind als unsere Parteien.
Jantschek: Aber wenn man sich jetzt das deutsche Parteiensystem und die deutschen Parteien anschaut, hat sich doch da maßgeblich etwas geändert. Also, die sogenannte Doppelspitze, eigentlich ursprünglich nur bei den Grünen beheimatet, zieht jetzt sozusagen in die große alte SPD ein. In der CDU trennen sich plötzlich Kanzlerschaft und Parteivorsitzende in zwei Rollen. Das wäre eigentlich, habe ich gedacht, vor fünf bis zehn Jahren undenkbar gewesen, also zumindest für die beiden sogenannten Volksparteien.
Meinel: Ja, das sind gewisse Veränderungsanzeichen. Was die Trennung von Kanzlerschaft und Parteivorsitz in der CDU betrifft, wäre ich kritisch. Das ist natürlich gar nicht zu trennen davon, dass wir uns jetzt in der Endphase einer Kanzlerschaft befinden. Ob das jetzt so weiter gemacht würde unter einer anderen Kanzlerschaft, das würde ich mal zu bezweifeln wagen.
Bei der Doppelspitze, na ja, klar, das ist eine andere Form, die Spitzenämter zu organisieren. Das wird sicherlich maßgeblich davon abhängen, wie sich die Grünen-Doppelspitze vor der nächsten Bundestagswahl positioniert. Wenn es gelingt, eine die Partei einende und mobilisierende Antwort auf die Frage, wer eigentlich gleicher ist als der andere, zu finden, dann wird das sicherlich Schule machen. Wenn das dazu führt, dass sich die Partei aus einer aussichtsreichen Umfragesituation heraus öffentlich zerlegt, dann dürfte das Beispiel nicht Schule machen.
Jantschek: Ich fürchte, dass das bei der SPD auch nicht langfristig Schule machen wird. Nur das, was Sie am Anfang unseres Gesprächs gesagt haben, nämlich dass immer stärker sogenannte Partizipation, also Mitgliederbefragung, eine Rolle beim politischen Kurs spielt, und im Hintergrund dann doch die Strippen gezogen werden, also, Kevin Kühnert sozusagen als Königsmacher gilt, was eine merkwürdige Metapher dafür ist, dass jetzt eine Doppelspitze mit Königin und König irgendwo möglich ist und dann auch noch monarchische Strukturen in die SPD einziehen sollen, das ist also eine ganz schiefe Metapher, aber ist ja auch nicht von mir.
Die Frage, die sich daran anschließt, ist: Dieses Mitgliedsvotum oder Mitgliedervotum, wird das eine stärkere Partizipation auch sicherstellen? Oder zerstört es sozusagen den Charakter von Volksparteien?

"Mitgliedervoten polarisieren und spalten die Anhängerschaft"

Meinel: Ich glaube, dass es eigentlich kaum positive Effekte hat. Diese Mitgliedervoten haben ja eigentlich einen Effekt. Sie polarisieren und spalten die Anhängerschaft, also die sogenannte Basis in einem Maße, wie das Parteitagsbeschlüsse nie tun. Das ist ja einer der großen Vorteile von Repräsentation, auch von repräsentativen Parteitagen, dass die Basis dann Delegierte entsendet, und die Parteitage entscheiden dieses oder jenes. Und das kann man dann für falsch oder kann man dann für richtig halten. Jedenfalls kann man sich an der Basis dann trotzdem, auch wenn man das für falsch hält, darüber einig sein, dass der Parteitag eben Mist gebaut hat.
Diese Entlastungswirkung von repräsentativen Institutionen, die gibt man natürlich aus der Hand, wenn man jede Frage der allgemeinen Mitgliederbefragung unterwirft, weil sich dann die Partei nie durch den Austausch von Repräsentanten auch von den Fehlern eigener Entscheidungen entlasten kann. Die SPD kann sich ja schon jetzt nicht, zum Beispiel durch andere Parteitagsbeschlüsse, von dem Mitgliederbeschluss für die Große Koalition, den sie 2018 getroffen hat, entlasten.
Noch viel weniger wird sie sich in der Zukunft entlasten können von der Entscheidung für diese Doppelspitze, die sie jetzt getroffen hat, wenn die Doppelspitze zum Beispiel, aus welchen Gründen auch immer, politisch scheitert. Das ist, glaube ich, etwas ganz Normales von Repräsentationsverfahren, das ist ihre große Stärke, die in einer Entlastung der Repräsentierten von den Folgen solcher verantworteter Entscheidungen beruht…
Jantschek: Ein Lob der Repräsentation. Herzlichen Dank, Florian Meinel, für das Gespräch.

Florian Meinel: Vertrauensfrage. Zur Krise des heutigen Parlamentarismus
C. H. Beck Verlag, Februar 2019
238 Seiten, 16,95 Euro

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