Zur Kritik am Bürgerdialog

Berechtigte Frage nach dem guten Leben

Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich in Duisburg-Marxloh vor Beginn des Bürgerdialogs "Gut Leben in Deutschland" mit Diskussionsteilnehmern.
Bundeskanzlerin Angela Merkel unterhält sich in Duisburg-Marxloh vor Beginn des Bürgerdialogs "Gut Leben in Deutschland" mit Diskussionsteilnehmern. © picture alliance / dpa / Federico Gambarini
Von Eva Weber-Guskar · 30.08.2015
Die Bundesregierung führt unter dem Titel "Gut leben in Deutschland" einen Dialog mit den Bürgern. Kritiker stellen die Frage, ob sich der Staat für Persönliches interessieren darf. Die Philosophin Eva Weber-Guskar verteidigt die Idee des Dialogs - kritisiert aber die Form.
Die Bundesregierung will also wissen, was den Menschen in diesem Land persönlich wichtig ist und was für sie Lebensqualität ausmacht. Was so harmlos klingt, muss so harmlos nicht sein. Denn seit wann hat sich der Staat für Persönliches zu interessieren? Das individuelle gute Leben ist vielmehr in Gefahr, so meinen Kritiker dieses Dialogs, wenn der Staat es zu verallgemeinern versucht und damit die Definitionsmacht darüber an sich reißt.
Zugleich, so scheint es, wird den Menschen mit diesem sogenannten Bürgerdialog nur das trügerische Gefühl gegeben, mitbestimmen zu können, obwohl durch die kontrollierte Auswertung alles in der Hand des Staates bleibt. Alles sei nur eine "Lüge", schreibt in diesem Sinn auch ein User auf der interaktiven Internetseite.
Nun kann man sicher fragen, zu wie viel Prozent die Absicht hinter der Aktion aus aufrichtigem Interesse an den Vorstellungen der Bevölkerung besteht und zu wie viel aus prä-wahltaktischen Erwägungen. Doch sie rundweg als versuchten Betrug abzulehnen, heißt, es sich selbst zu leicht zu machen und ist im Rechtsstaat, in dem wir leben dürfen, eine unangemessene Reaktion unwürdig.
Was kann ein gutes Leben sein?
Hinhören allerdings muss man, insofern die Kritik lautet, die Regierung habe ein falsches Verständnis davon, was Politik in einer modernen Demokratie sein sollte. Die Politiker und Politikerinnnen, so heißt es, sollten sich allein um Gerechtigkeit bzw. das Richtige kümmern. Das Gute, genauer das gute Leben der Einzelnen, sei etwas anderes – das müsse privat, nicht-normiert, außen vor bleiben. Andernfalls übertrete die Politik ihren Zuständigkeitsbereich.
Doch diese Auffassung beruht auf einer eigenen Illusion: auf der Illusion, Moral (auf der Gesetze basierten) und Ethik (nach der jeder darüber sein Leben ausrichte) seien so strikt voneinander zu trennen, wie es (der frühe) Jürgen Habermas meinte. Auf der Illusion, man könne wissen, was das Richtige für alle ist, ganz ohne sich für das Gute für Einzelne zu interessieren. Als ob sich bei Themen wie Eheschließung, Erziehung oder auch Ernährung mit all ihren Herstellungsprozessen nicht Fragen des persönlich Guten mit denen nach dem gesellschaftlich Richtigen überschneiden würden. Das hat etwa Rahel Jaeggi unter dem Begriff der Lebensformen detailliert ausgeführt. Das Diktum des Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls, dass im Staat das Richtige Vorrang vor dem Guten hat, ist in seiner Absolutheit überholt.
Wenn man es als Aufgabe der Politik sieht, den Menschen die Bedingungen zu bieten, in denen sie ein gutes Leben führen können, so muss man wissen, was alles so ein gutes Leben sein kann, um auf die nötigen Bedingungen zu schließen. Und umgekehrt kann man von einem reflektierten Verständnis des eigenen guten Lebens erwarten, dass es moralische Gesichtspunkte miteinschließt und damit Gründe, die mit einem gelungenen Zusammenleben zusammenhängen – dessen Grundlagen wiederum politisch gestaltet werden müssen.
Die Form ist höchstens problematisch
Das Problem dieses Bürgerdialogs liegt also nicht in seiner Idee. Es liegt höchstens in seiner Form. Während man klassisch unter einem "Dialog" den Austausch über ein Thema durch das Gespräch verstand, ist er heute zum Oberbegriff für verschiedene Kommunikationstools verkommen: für fishbowl, world café oder kurze Statements auf der Internetseite. Es werden bunte Karten mit Stichworten beschrieben und auf Pinnwände gesteckt. Hinterher werden die Wände fotografiert.
Verteufeln braucht man den Bürgerdialog trotzdem nicht. Nehmen wir ihn als Erinnerung daran, das Gespräch über das gute Leben immer wieder da aufzunehmen, wo es intensiv und effektiv geführt werden kann: in unserem je konkreten Lebensumfeld. Gerade in einer Zeit, in der sich dieses Lebensumfeld durch die Begegnung und das Zusammenleben mit Menschen verändert, die alles zu Hause aufgegeben haben, um Umständen zu entkommen, in denen kein gutes Leben mehr möglich scheint.
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