Zur Aktualität von Karl Marx (6)

Nicht vergöttern und nicht verdammen

Karl-Marx-Monument in Chemnitz
Karl-Marx-Monument in Chemnitz © imago/Harald Lange
Robert Habeck und Christina Morina im Gespräch mit Marcus Pindur · 28.04.2018
Karl Marx und seine Analysen wirken bis in heutige Politiker-Generationen hinein. Den Kapitalismus zu verstehen, sei ein Generationenprojekt gewesen, sagt Autorin Christina Morina. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck sieht in Marx' Texten noch immer eine Sog-Wirkung.
Der Anspruch, die kapitalistische Arbeitsweise umfassend erklären zu können, hat Karl Marx von Anfang an einige Ausstrahlungskraft und Anziehungskraft verliehen. Zum "Ismus" aber wurde der Philosoph erst durch die Rezeption seiner Anhänger und Gegner. Zahllose Bücher wurden darüber geschrieben, was Marx eigentlich gemeint hat. Viele Wissenschaftler und Autoren beschäftigen sich neu mit dem Denken von Karl Marx – nicht nur, weil sich sein Geburtstag am 5. Mai zum 200. Mal jährt.
Was hätten Karl Marx und heutige Politiker einander zu sagen? Marx trifft auf Politik – eine Reihe in der Sendung "Tacheles", bei der Robert Habeck, Bundesvorsitzender Bündnis 90/ Die Grünen, heute im Deutschlandfunk Kultur mit Christina Morina sprach, Autorin des Buches "Die Erfindung des Marxismus: Wie eine Idee die Welt eroberte".



Das Interview im Wortlaut:

Marcus Pindur: Ich begrüße Sie zu unserem heutigen Tacheles-Gespräch. Heute beschäftigen wir uns weniger mit der Frage, was Marx uns heute sagen kann und wie wir rückblickend sein Werk bewerten, als damit, wie der Marxismus zu einem unscharfen, aber dennoch viele Menschen verbindenden Ideengebäude wurde.
Frau Morina, der Titel Ihres Buches sagt es schon. Sie schreiben über die Erfindung des Marxismus. Sie haben dazu die Methode einer Gruppenbiographie gewählt. – Was ist das genau?
Christina Morina: Das ist im Grunde der vergleichende Blick auf die vor allem jugendlichen Entwicklungswege politischer Sozialisation von neuen europäischen Intellektuellen, die ja am Anfang ihres Lebens noch keine Intellektuellen waren, aber von neuen Personen, die später den Marxismus sozusagen mit gegründet haben, indem sie die Schriften von Marx und Engels gelesen und verbreitet haben.
Pindur: Sie sprechen da auch von einem Generationenprojekt. Das ist die Generation unter anderem von Bernstein und Kautsky, die "Austro-Marxisten", die sogenannten, von Lenin und Rosa Luxemburg. – Was verbindet denn diese völlig unterschiedlichen Menschen, in völlig unterschiedlichen Kontexten aufgewachsenen Menschen?

Christina Morina: Ja. Ich benutze das Generationenkonzept auch ein bisschen flexibel. Es ist nicht eine biologische Generation, die alle so ungefähr im gleichen Jahrzehnt geboren sind, sondern sie sind zwischen 1845 und 1870 geboren, sondern sind sozusagen nach Lektüreerfahrung eine Generation. Sie haben in vier Ländern im Grunde hintereinander, die - zum Teil auch parallel - eben die ersten waren, die die Texte, die damals noch nicht so verbreiteten Texte von Marx und Engels, immer auch gelesen haben, übersetzt haben, kommentiert haben, weiter geschrieben haben.
Und was diese unterschiedlichen Kontexte, aus denen sie kommen - also Frankreich, Russland, Deutschland und Österreich, das sind die vier Länder, aus denen sie kommen - was sie eint, ist, dass das ein Erfahrungsraum ist, der eben im Grunde undemokratisch ist, bis autokratisch. Die wachsen in unterschiedlichen Formen von repressiven Regimen auf sozusagen. Die industrielle Revolution hat in all diesen Ländern mehr oder weniger viel Unheil schon angerichtet. Also, die Industrialisierung schafft neue Formen von Leben, Arbeit, Ausbeutung, Leid. Und das macht sie individuell miteinander vergleichbar.
Was erstaunlich ist, ist, dass sie sich eben alle auf ihre Art jeweils unglaublich intensiv und früh und engagiert mit den neuen sozialen Realitäten, jenseits ihrer eigenen Lebenswelt beschäftigt haben und gar nicht unmittelbar davon betroffen waren. Also, die meisten sind bürgerlich. Zwei, drei sind etwas in ärmeren, einfachen kleinbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen, ländlich. Aber sie sind nicht unbedingt betroffen gewesen von den Folgen sozusagen der großen sozialen Frage und trotzdem von recht früh an, auch dank recht liberaler Elternhäuser und einer guten Bildung - ein kleiner Teil der Gesellschaft damals konnte eine gute Bildung bekommen - doch recht früh sehr interessiert und intensiv befasst mit dem, was ihre Zeit bewegte.

Nach dem Kalten Krieg der Ideologien


Pindur: Sie schreiben, dass Marxismus eigentlich erst als Konstrukt der Marx-Rezeption entstand. Da würden viele orthodoxe Marxisten sich mit Grausen abwenden. Was meinen Sie damit?

Morina: Ich meine und ich finde es auch wichtig, dass man auf neue Art sozusagen die Ideengeschichte und die Ideologien-Geschichte anschaut, nachdem der Kalte Krieg der Ideologien sozusagen nun lange vorbei ist, zu schauen, wie ein Mann, ein Name, Marx, der Texte schreibt und publiziert, eben zu einem "Ismus" wird. Das ist sozusagen eine Bewegung aus der Idee in die Wirklichkeit, die nicht irgendwie mystisch ist, sondern die man erklären kann.
Und meiner Meinung nach kann man die nur erklären, indem man schaut, wie sich diese Ideen eigentlich ausgebreitet haben und warum vor allen Dingen, warum ausgerechnet Marx derjenige war, der sich in der sozialdemokratischen Bewegung, die überall - also, die Arbeiterbewegung war ja in Europa überall sozusagen am Rumoren und am sich Organisieren - warum hat ausgerechnet Marx es geschafft mit seinen Ideen, seinen Theorien, seinen Begriffen, seinen Metaphern sozusagen da das, was in der Luft lag, auf den Punkt zu bringen und zu beherrschen, diese Bewegung dann zu beherrschen.

Pindur: Welche Antwort haben Sie darauf? Warum war ausgerechnet Marx das? Warum war das zum Beispiel nicht der Philosoph Eugen Dühring?

Morina: Also, da gibt’s verschiedene Gründe dafür. Das ist komplex. Aber man kann es auch recht einfach auf den Punkt bringen: In der selbstbewussten klugen, sprachlich talentierten Art und Weise, kreativ, Begriffe aus anderen Zusammenhängen - wie zum Beispiel "Fetisch" oder "Reservearmee", militärische Begriffe, religiöse Begriffe - und eben der Anspruch, das, was da passiert, im Gesamten in den Blick zu nehmen, im Grunde von der philosophischen Fragestellung auszugehen, was bedeutet die moderne Existenz des Menschen im Grunde.
Und dann hat er sich im autodidaktischen Modus ständig in Teilgebiete der gesellschaftlichen Wirklichkeit einzustudieren, wie er es gemacht hat - er war ja eigentlich nur ausgebildeter Philosoph, er hat alle anderen Gebiete sich im Grunde autodidaktisch erarbeitet. Und dann hat er ein Konvolut an Arbeiten geschaffen, indem er mit großem Selbstbewusstsein und immer wieder auch mit Lust an der eigenen Kritik - an der Kritik an sich selber, an dem, was er herausgefunden hat - eben den Anspruch formuliert hat: Er kann erklären, wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert. Und er kann nachweisen, dass alles, was menschliche Existenz ausmacht, durch Geld, durch die Mehrwertproduktion, durch Arbeit, durch Ausbeutung von Arbeit bestimmt ist und dass das die neue Gegenwart ist.
Und hinzukam, dass er eben geglaubt hat, die Geschichte läuft in eine bestimmte Richtung. Die Geschichte ist durch eine bestimmte Logik bestimmt, nämlich die Auseinandersetzung der Klassen. Und er hat so eine Art Überzeugung entwickelt, dass die Geschichte ganz gewiss in die Richtung Sozialismus geht. Und man könne da, wenn man das verstanden hat, ein bisschen nachhelfen. Und das hat natürlich Anziehungskraft und Ausstrahlungskraft entwickelt.

Große Faszination

Pindur: Herr Habeck, Frau Morina hat in ihrem Buch geschrieben, es werde "über Marx immer noch so geredet, als enthielte sein Werk eine ewig gültige Urwahrheit". Jetzt waren viele Grüne aus der Führungsgeneration vor Ihnen in den K-Gruppen der 70er Jahre, in denen ja auch fast obsessiv nach dieser Urwahrheit gesucht wurde und deshalb auch so viele Spaltungen stattfanden. – Können Sie das heute noch nachvollziehen, diese Faszination auf der Suche nach ewigen Wahrheiten?

Habeck: Also, nicht aus meinem Alltag heraus, aber durch die Lektüre von Frau Morinas Buch ist mir das nochmal sehr nahe gekommen. Und ich glaube, gar nicht wirklich anders als die Generation 1840 ff., die da beschrieben wird, hat Marx‘ Lektüre eine ungeheure Sog-Kraft wegen eines Versprechens, nämlich eines quasi religiösen Versprechens. – Es gibt eine höhere Wahrheit. Und wenn du die erkennst, bist du Teil dieses Wahrheitszusammenhangs.
Ich glaube, das war für die Leute vor 150 Jahren eine große Faszination und das ist immer wieder in Phasen - so auch sicherlich für die Gründergeneration der Grünen und die 68er eine große Verführungskraft gewesen sind: dieser überwölbende Anspruch, nicht zufällig auf der Welt zu sein und irgendwie sein Leben einigermaßen auf die Reihe zu kriegen und man weiß nicht genau, ob es was genutzt hat oder nicht, sondern es ist ein größeres Heilsversprechen. Das ist nicht wesentlich anders als das Neue Testament wahrscheinlich für viele Leute – ich wollte nicht jetzt übers Neue Testament spotten, aber in der Verführbarkeit ist da was Religiöses dahinter.

Pindur: Sieht man davon immer noch Spuren in der Politik, vielleicht in Ihrer Partei auch noch heute?

Habeck: Politisch haben wir eigentlich gerade eine Zeit der Gegenbewegung hinter uns, also, dass von Fukuyama mal deklarierte Ende der Geschichte ist genau die Abkehrbewegung. Der Kapitalismus hat gesiegt. Es gibt keine großen Erzählungen mehr, erst recht keine ideologischen Erzählungen mehr. Und das, glaube ich, hat die letzten 15, 20 Jahre jede Form von ideologischem Denken - aus meiner Sicht zu weitgehend - kaputt gemacht.
Die Frage, was bestimmt eigentlich unsere Zeit als große Entwicklungszusammenhänge - und das ist ja vielleicht das erste, was man von Marx doch retten kann, technische Entwicklungen definieren, politische Zustände - das ist zu kurz gekommen. Wir stochern so ein bisschen rum und jeder sagt so ein bisschen was. Und dann glaubt man, Politik ist eine gute Politik, wenn sie 0,2 Prozent mehr von irgendwas gibt. Und das ist die politische Auseinandersetzung. – Das ist sicherlich kaputt gegangen, dass man das versucht auf einen großen Sinnzusammenhang zu bringen. Aber ich würde eine Rückkehr zu Marx für absolut falsch finden. Gerade dieses theologische, aus sich selbst herauskommende Versprechen…

Pindur: Also das zielgerichtet...

Habeck: Ja, das ist im Kern ein totalitärer Ansatz. Deswegen: Also, mehr Sinnsuche und mehr Zusammenhang herstellen, ja, zurück zum Marxismus, um zu sagen, wie konnten wir nur 150 Jahre danach so doof sein, dass wir das gar nicht erkannt haben, nein.

Dokument seiner Zeit

!!Pindur:" Der Entwurf eines größeren Pluralismus Ihrer Ansicht nach, auch in der Interpretation dessen, was unsere Welt bestimmt?
Habeck: Wie ich aus dem Buch "Die Erfindung des Marxismus" gelernt habe, ist der Marxismus ein Dokument seiner Zeit, vielleicht das interessanteste Dokument seiner Zeit, aber ein Dokument seiner Zeit. Das heißt eben auch, in einer Zeit der Umbrüche wurde eine quasi religiöse Antwort gegeben.
Wir sind wieder in einer Zeit der Umbrüche. Deswegen kann man das, was man aus jener Zeit übernehmen kann, vielleicht auf den Begriff bringen: Analysiert die Wirklichkeit. Setzt euch mit der Wirklichkeit auseinander und versteht, dass Wirklichkeit in Brüchen, in Eruptionen verläuft.
Aber versucht es nicht alles auf einen Leisten zu zimmern. Versucht nicht, daraus einen "Ismus" zu machen, sondern lasst die Gesellschaften in ihrer Pluralität stehen. Und versucht auch nicht - und das ist ja dann aus dem Marxismus geworden - daraus eine Ideologie zu machen und alle Menschen, die sich dieser Ideologie nicht fügen, die müssen ausgemerzt werden oder so etwas. Diese Lektion ist hoffentlich, jedenfalls in Europa, gelernt.

Pindur: Frau Morina schreibt das ja so, dass der "Tatsachenblick", den Marx und Engels für sich beanspruchen, abgelöst worden sei eben durch diesen Anspruch auf "universale Wirklichkeitsgeltung". – Trifft es das?

Morina: Ja, da wandelt sich etwas, was trotzdem schon auch bei Marx angelegt war, glaube ich. Also, dieser ursprüngliche Claim…
Pindur: Anspruch…

Morina: …, wir gucken jetzt endlich wirklich, auf den wirklichen leiblichen Menschen, nicht mehr in den Himmel der Philosophie, sondern auf die Realität der Erde sozusagen. Das ist etwas radikal vom Menschen her, vom individuellen Menschen her. Das schreibt Marx in den 40er Jahren.

Habeck: Das war übrigens gerade für die Grünen in unser Grundsatzprogramm geschrieben, ohne Marx gelesen zu haben. Aber möglicherweise gibt es versteckte Spurenelemente über die Generationen hinaus. Ich weiß es nicht genau.

Marx als Gründer der Soziologie

Morina: Diesen Anspruch, den er hatte, den hat er aber ganz schnell - der ist auch schon ganz ursprünglich angelegt - wieder aufgegeben. Denn am Ende gucken Marx und Engels nicht "ad hominem", wie sie es selber sagen, sondern sie gucken eigentlich auf die Gesellschaft. Marx gilt als Gründer der Soziologie sozusagen. Er sieht Menschen in ihrer gesellschaftlichen Begründetheit sozusagen. Da hat er ja auch Recht.
Aber dieses Umschlagen dann in: wir gucken auf die Realität als Klasse, die Menschen also, die in Klassen und durch Klasseninteressen und Klassenbewusstsein und dieser ganze Diskurs, bestimmt sind - das ist natürlich antiindividualistisch eigentlich. Da geht dieser ursprüngliche Impuls, denke ich, recht früh schon verloren. Und trotzdem hat das eine Anziehung. Und ich fühle mich von Ihnen, Herr Habeck, gleichzeitig sehr gut verstanden, aber auch ein bisschen missverstanden, wenn Sie dieses religiöse Erlebnis so hervorheben. Danach habe ich geschaut. Und ich glaube, im 20. Jahrhundert stimmt das mit dem Kommunismus oft, dass es so eine quasi Religion, ein Religionsersatz ist.
Mir ist es aber wichtig gewesen, was ich in diesen Lektüren gefunden habe, das ist natürlich eine emotionale Wirkung. Da ist einer, der dieses Leid endlich auf den Begriff bringt, der wirklich weiß, wie viel ein Kind in welchem Alter skandalöser Weise zu arbeiten hat und wie früh dieser Kinder sterben oder unterentwickelt sind oder so. Da guckt endlich ein Nationalökonom auf das wirkliche Ausbeutungsleben.
Andererseits - das ist das Zeitalter der Verwissenschaftlichung, des Positivismus. Man glaubt, man kann die Gesetze der Gesellschaft genauso erkennen wie die Gesetze der Natur. Dieser rationale Anspruch - die haben alle nicht über Nacht Marx entdeckt, die neuen, "meine neuen Leute" sozusagen. Sondern das ist ein Erlebnis, was sich über Jahre hinzieht. Die lesen jahrelang immer wieder. Die beschreiben das auch, das ist ein Studierprozess. Und ich beschreibe das eher als eine Sozialisation.
Das ist wie eine Art tertiäre Sozialisation, eine dritte Initiation in die Welt sozusagen, dass sie Marx lesen, dass sie nach und nach dieses Prisma seiner Begriffe, seiner Theorien, dieses Gerüst, mit dem man auf die Welt schaut, alles vom Sein her, Bewusstsein wird durch Sein geprägt, und zwar nur. Natürlich wird unser Sein durch unser Bewusstsein durch das Sein bestimmt - aber eben vielleicht nicht nur. Oder es ist auch andersrum. Das wird daraus ausgeschlossen.
Jedenfalls versuche ich zu betonen - und ich glaube, da liegt auch diese ursprüngliche Anziehungskraft, die uns bis heute auch vielleicht umtreibt - ich versuche halt zu zeigen, dass das nicht ein Religionsersatz war, sondern der Glauben, man kann mit Marx die Gegenwart erkennen und damit regieren, strukturieren und eben auch verändern. Revolutionäre Anhänger von Marx haben immer auch sich selbst erfunden

Habeck: Ja, gleichwohl habe ich aus Ihrem Buch gelernt, dass die Revolutionäre oder die revolutionären Theoretiker nicht nur den Marxismus neu erfunden haben, sondern sich selbst ja auch erfunden haben. Die waren ja alle auf der Sinnsuche, wie irgendwie jede Generation, und haben dann in den Schriften von Marx eine Bestätigung ihres Seins oder ihrer politischen Möglichkeiten gefunden. Und das habe ich eigentlich gemeint. Vielleicht war das mit Religion ein Schritt zu weit, aber sich selbst in der Welt einen Platz zu ordnen – und das abgeleitet dann von dem Studium der Marx-Schriften, so haben Sie es ja beschrieben, wenn ich das richtig verstanden habe.

Morina: Selbstverwirklichung, eine Selbstaktivierung, auch eine politische…

Habeck: Genau.
Morina: .., eine Partizipationsperspektive.

Pindur: Das Religiöse, sagt ja Frau Morina, das kam für sie erst aus ihrem Blickwinkel erst im 20. Jahrhundert dann dazu.

Habeck: Ich habe vielleicht ein schwaches Verständnis von Religion gemeint, nicht als Erfüllung oder so etwas, sondern erstmal als Sinn…

Pindur: .. theologisch..

Habeck: … als Sinnstiftung in der Gegenwart. Das fand ich jetzt neben der Erklärung oder neben dem Aufdecken, dass der Marxismus eben auch ein Konstrukt ist, wo viele Leute mitgewirkt haben. Der Marxismus hätte auch anders sein können, sagen wir mal so vielleicht. Dieses Generationenprojekt - also, dass Leute sich selber gefunden haben - das ist natürlich hoch interessant, weil sich ja jeder ein stückweit fragt, ich ja auch täglich: Was ist eigentlich die Aufgabe meiner politischen Generation? Und ganz implizit denke ich in Zusammenhängen von Alterskohorten oder so etwas. Vielleicht ist es auch da erfunden worden. Ich weiß es nicht genau. Der Ansatz ist jedenfalls hoch spannend…

Engagierte Intellektuelle

Pindur: Ich möchte bei dieser Generationsfrage bleiben. Wir hatten ja eben schon mal den Unterschied zwischen Ihrer Führungsgeneration bei den Grünen und derjenigen, die durch die 70er Jahre geprägt ist. Ich möchte jetzt mal auf die Marxismus-Generation, die Sie beschreiben, Frau Morina, nochmal zurück. Das, was Marx heutzutage oder auch von seinen Gegnern immer vorgeworfen wird, nämlich die Welt alleine aus der Ökonomie zu erklären - das war damals im 19. Jahrhundert, und das beschreiben Sie ja auch sehr genau, ein großer Fortschritt, nämlich die Beobachtung der Dynamik des Kapitalismus, die Beobachtung vor allen Dingen der dringenden sozialen Frage, die offensichtlich war. Es gab ein moralisches Problem dort im Kapitalismus. Das alles brannte den frühen Marxisten auf den Nägeln. Das waren aber alles Bürgerliche, man muss auch sagen privilegierte Menschen. – Wie kam es dann dazu, dass die zu Marxisten wurden?

Morina: Naja, die sind dann in erster Linie ja nicht Marxisten geworden, sondern Politiker. Sie sind politisch engagierte Intellektuelle, die alle, dass sie sich ernsthaft mit Ideen, Theorien und Wirklichkeit befassen, sehr wichtig fanden, und gleichzeitig - das ist immer auch der Kontext auch heute, der so ein bisschen so wegfällt manchmal in der Diskussion - eben allesamt in Gesellschaften existierten, in denen die Mitsprachemöglichkeiten äußerst beschränkt waren, wenn nicht Null. In Russland zum Beispiel, wo man, wenn man sich politisch engagierte, automatisch subversiv und Oppositioneller war und Verfolgung ausgesetzt war. Die Frage der Zeit war nicht die soziale Frage, sondern eben auch die Frage der Demokratisierung. Da hat ja die Sozialdemokratie - da gibt’s wunderbare Studien für die deutsche Sozialdemokratie - sehr viel dazu beigetragen, etwa das allgemeine Wahlrecht immer wieder auf das Programm zu setzen und sich dafür eingesetzt.
Also, das ist eine Politisierungserfahrung, die eben nicht unbedingt auch mit Marx anfing, sondern im Laufe der Zeit. Die kommen in Kontakte in Wien, in Sankt Petersburg, in Prag, in Berlin, fangen an sich mit den ersten organisierten Arbeitern so ein bisschen zu treffen. Und dann kommen diese Schriften, die so subversiv, cool, so ein bisschen "cutting edge" sind, wie Marx Kritik zur Hegelschen Rechtsphilosophie oder das Manifest natürlich. Das liest man als subversives neuestes politisches Pamphlet. Und dann ist diese Sprache, die jeder mal selber gelesen haben sollte, eben auch unglaublich. Die ergreift selbst einen, der sich wie ich sozusagen, indirekt damit beschäftigt, immer wieder, immer wieder neu. Da ist ein Drive drin, also eine Leidenschaft und Überzeugung und eine Selbstgewissheit und ein Determinismus, der mitreißend ist für viele.

Pindur: Die Geschichte, die mich besonders interessiert und die nicht nur für den deutschsprachigen Raum ziemlich wichtig war, war die der Freundschaft zwischen Eduard Bernstein und Karl Kautsky und dann ihrem späteren Zerwürfnis. – Könnten Sie das mal kurz beschreiben? Was ging da auseinander?

Morina: Da ging eine wirkliche tiefgehende Männerfreundschaft auseinander, die in den späten 70er, Anfang der 80er Jahre in Zürich begonnen hat. Die haben in den Züricher Redakteursstuben zusammen also zwei Zeitungen gegründet, Bernstein eine Tageszeitung oder eine Wochenzeitung und Kautsky eine Monatsschrift, die erste theoretische Zeitschrift des Marxismus, "Die neue Zeit". Und die haben gemeinsam - so wird das beschrieben in den Dokumenten - in den Bergen von Zürich gelegen und diese Arbeiten zusammen gelesen und die Marxschen Texte zusammen durch geackert und dann versucht zu popularisieren. Sie haben beide dann Bücher darüber geschrieben, was Marx eigentlich meint.
Und diese Bücher sind dann später auch mehr gelesen worden als der ursprüngliche Marx. Nun waren aber beide dabei sehr unterschiedlich. Kautsky gilt auch bis heute immer als der große sozusagen rigide Lehrmeister, der orthodox sozusagen vertrat, was Marx nun wirklich gemeint habe, und war auch ein recht spitzfindiger, rechthaberischer Typ. Der Bernstein ist von Anfang an eher - ist auch einer der Ärmsten und Einfachsten, er kommt aus einer Eisenbahnerfamilie aus Berlin, hat auch eine jüdische Familie im Hintergrund - der ist von Anfang an auch etwas unsicherer und offener für andere Einflüsse. Und der denkt weniger deduktiv.
Also, der leitet nicht alles aus der Theorie ab, sondern der geht auch mal und redet mit einem streikenden Arbeiter und fragt ihn, warum er eigentlich nicht mehr streiken will. Und dann erklärt der ihm logisch: Ich muss ja meine Familie von irgendwas ernähren. Ich kann jetzt nicht mehr Aktivist sein. Ich geh zurück in die Fabrik. Und dann beobachtet er eben im Laufe der 80er und 90er Jahre, wie eben der große Krach nicht kommt. Es geht den Arbeitern besser. Es gibt Lohngesetzgebung. Es gibt Fabrikgesetzgebung. Die Lage bessert sich. Und der große Knall sozusagen, den Marx, Engels voraussagen und auf dem alles sozusagen fußt, der Kapitalismus endet im Elend, der passiert eben nicht. Bernstein ist dann bereit, das zu revidieren und wird großer Verunsicherer in der Sozialdemokratie. Darüber brechen die beiden auseinander, finden sich aber dann im Ersten Weltkrieg wieder ein bisschen im Alter.

"Revolutions-Phraserei"

Pindur: Steht das paradigmatisch für diese Spaltung dieser gesellschaftskritischen, kapitalismuskritischen Bewegung - ich will nicht nur Arbeiterbewegung sagen - steht das paradigmatisch dafür, wie diese Spaltung in der Sozialdemokratie in also reformerischen Flügel und Kommunismus, also orthodoxen, stark ideologisierten Flügel, passierte?

Morina: Das könnte man auf den ersten Blick so sehen. Am Ende würde ich das aber nicht so sehen, weil Kautsky auch jemand ist, der Gewalt im Grunde ablehnt, der auch einsieht, dass man diese "Revolutions-Phraserei", wie er es sagt, braucht, um die Partei mobilisiert zu halten, aber der am Ende nicht bereit ist, Leute ins Blutvergießen zu schicken – so wie Adler auch in Österreich nicht. Rosa Luxemburg ist da anders. Die weiß oder die ist überzeugt, die Revolution lebt von der Massenagitation und von der Massenaktion. Und die Partei ist eigentlich nur dazu da, als Vorhut sozusagen das zu steuern und zu befeuern und nicht zu verhindern, indem sie sich parlamentarischer Arbeit widmet. Der eigentliche Bruch geht eigentlich dann links von Kautsky und Bernstein vonstatten. Insofern sind sie nicht ganz so repräsentativ in dem Sinne, wie Sie es jetzt gefragt haben.

Pindur: Dann sind wir direkt bei Lenin. Sie sagen, Subversion und Systemtreue seien gleichzeitig ausgeprägt in seiner Familiengeschichte und in seiner persönlichen Biographie. – Wie hat sich das gezeigt, hinterher in seinem politischen Wirken?

Morina: Naja, sein Vater war Schulinspektor. Und er kommt aus einem Elternhaus, das sich sehr engagiert hat für die relativ liberale Bildung von Kindern, immer viel Wert gelegt hat auf Bildung. Und gleichzeitig ist halt sein älterer Bruder, von dem er sich sehr unterschied, in frührevolutionäre Umtriebe sozusagen verwickelt, wird aufgefasst und hingerichtet, als Lenin 17 Jahre alt ist, und hinterlässt einen Bücherkoffer mit eben dieser subversiven Literatur, über den also der fleißige gute, brillante Abiturient Lenin, der Wladimir, dann halt früh anfängt zu lesen. Das ist auch alles nicht neu. Das ist im Grunde bekannt. Aber der Blick darauf zu sagen ist frisch, dass da sozusagen ein Elternhaus, eine Erziehung, ein Umfeld da war, das ihm eigentlich alles mitgegeben hat, was er dann später eben auch in die Revolution getragen hat im Grunde - also dass beides parallel existierte.

Habeck: Könnte es sein, dass die Revolutionäre links von Bernstein und Kautsky, also die späteren Bolschewisten und richtigen Revolutionäre, wie wir sie kennen - rote Fahne und Umsturz des Staates sozusagen - dass die das gar nicht wollten? Die konnten sich vielleicht alle vorstellen, zwischen Revolution und Evolution auch den evolutionären Weg zu gehen, aber dass es quasi eine politische Entscheidung ist zu sagen: wir setzen auf den radikalen Bruch. Wir wollen eben nicht Teil von kompromisslerischer Sozialdemokratie sein, die dann mit ein bisschen mehr Wahlrecht und ein bisschen mehr Arbeitsrecht und ein bisschen mehr Rentenversicherung irgendwie das gröbste Übel lindert. Wir wollen quasi eine Verelendungstheorie, wie Lenin das ja später genannt hat, damit es zu einem radikalen Bruch kommt.

Morina: Ja. Ich glaube, man wollte den bewussten Bruch, weil sie sich sonst nicht vorstellen konnten, dass man die fundamentalen Verhältnisse in der Gesellschaft, die nämlich auch Privateigentum beherrschen - das ist ja die zentrale Frage gewesen: solange Privateigentum existiert, sind Menschen nicht frei, weil sie nie gleich am Wohlstand teilhaben. Viele, konnten sich zu Recht, nicht vorstellen, dass man das anders bewerkstelligen kann als durch radikale Maßnahmen, weil viele Menschen nicht bereit sind, auf ihr Eigentum zu verzichten freiwillig. Das ist die entscheidende Frage, an der sich dann die Geister auch schieden darüber, welche Methoden führen eigentlich da hin.

Habeck: Das ist die politisch entscheidende Frage, aber Sie haben ja das Buch so erzählt oder angelegt, dass immer auch diese neuen Charaktere sich selbst entworfen haben über ihr politisches Wirken. Und könnte es sein, dass die links von Bernstein, um im Bild zu bleiben, quasi selber ein radikaleres Leben führen wollten, also dass die politische Analyse nur ein Vehikel war, um mit sich selbst quasi im Reinen zu bleiben, nicht zu verbürgerlichen?

Morina: Ich halte das für eine sehr gute Frage. Da geht’s sozusagen in die Individualpsychologie auch rein, bei der ich mich immer vorsichtig versuche, nicht zu weit aus dem Fenster zu lehnen. Rosa Luxemburg wollte lange eine Familie und Kinder bekommen und hatte einen Geliebten, der noch revolutionärer war als sie, Leo Jogiches. Es gibt Briefe von ihr, wo sie andeutet, wenn er bereit wäre, sie morgen zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen, verabschiedet sie sich von der Politik. – Das passiert aber nicht, weil Leo wirklich revolutionär ist, und sie bleibt eben dabei.
Damit will ich sagen: Solche individuellen Lebensentwürfe, wie Sie das jetzt erfragen oder ansprechen, oder Vorstellungen vom individuellen Lebensentwurf spielten natürlich eine Rolle. Und natürlich kommt man irgendwann auch in eine Logik, wo es dann auch nicht mehr vorstellbar ist, noch ein anderes Leben zu führen als eines, wo man mit einem Dolch unterm Kopfkissen ständig bereit ist, die Adresse zu wechseln, weil man eben im Untergrund Politik macht. Also, da ist ein Lebensstil irgendwann entworfen, aus dem man vielleicht auch nicht mehr raus kommt. Das stimmt.

Habeck: Ganz kurz, um den Gegenwartsbezug herzustellen. Nun bin ich ja selber Politiker, natürlich nicht Marxist und überhaupt nicht in so einer krassen Zeit, und kein Mensch, den ich kenne, denkt über den Umsturz der Bundesrepublik nach oder was auch immer. Aber die Frage, wie weit man bereit ist, Kompromisse zu schließen, beziehungsweise ob man nicht besser da steht, wenn man diesen radikalen Weg verkörpert, und zwar vor anderen, wie für sich selbst, die schwingt heute natürlich immer noch mit. Ich habe es natürlich gelesen auch mit Bezug, ehrlicherweise, auf meine eigene Biographie. Klar, also nicht konkret, aber man denkt auch, wie wird man eigentlich der, der man ist. Welche Musik, die man gehört hat, welche Freundschaften, die man geschlossen hat, welche Unglücke machen einen zu dem Politiker, der man geworden ist? Deswegen schwingt natürlich auch immer der Bezug zu meiner kleinen Gegenwart mit. Soll ich radikal sein und damit besser dastehen vor den eigenen Leuten? Oder soll ich die Wirklichkeit im Kleinen verändern um den Preis, dass Leute sagen, naja, ganz schön lauwarm, was du da machst, Kollege?

Morina: Also, ganz eine Ergänzung noch dazu, weil Sie so gut nachfragen. Also, es ist nicht Pose gewesen bei den meisten. Die waren so authentisch. Wenn sie radikal waren, waren sie authentische Radikale sozusagen. Da waren sie fest überzeugt, dass das der einzig richtige Weg ist. Kautsky aber zum Beispiel und auch Adler wussten, man braucht eine Art, man braucht Parolen, man braucht ein bisschen so an schlagenden Ideen, um die Masse sozusagen in Bewegung zu halten, die Partei mobilisiert sozusagen. Da wird also so ein bisschen eine Phrasendrescherei weiter betrieben, eine revolutionäre, eine scheinbare Radikalität, die eben nur politisch opportun ist oder die funktional eingesetzt wird, von der man aber nicht wirklich überzeugt ist, dass die Revolution eigentlich ihr Weg ist. Also, insofern gab's das dann eher in der Mitte sozusagen. Aber die, die wirklich radikale Politik dann auch machen, auch unter Einsatz des eigenen Lebens, die sind schon aus ganzem Herzen, aus ganzer Seele radikal.

Pindur: Gehört zu dieser Radikalität immer auch die Gewaltbereitschaft?

Morina: Ja, das ist eine ausgiebige Frage. Aber in dem marxistischen Diskursraum hieß radikal sein, immer ein radikaler Umsturz der Verhältnisse. Der ist eben nicht anders vorstellbar gewesen.

Pindur: Frau Morina, zum Schluss: Sie wollten mit Ihrem Buch, so schreiben Sie, "zur Historisierung von Marx beitragen". – Was genau haben wir uns darunter vorzustellen? Sollen wir den Marx einfach nur ins Regal stellen als ein schönes Objekt zum Betrachten, aber ansonsten ihn nur ab und zu mal entstauben und ihn nicht weiter zur Kenntnis nehmen? Oder was soll das heißen?

Marx nicht unter den Tisch kehren


Morina: Nein, historisieren heißt ja nicht Wegstellen in dem Sinne oder ad acta legen oder unter den Tisch kehren, sondern verstehen, einordnen, auch immer mit den Fragen aus der Gegenwart neu drauf schauen. Und das ist natürlich eine Antwort auf das, was vorher Marxismus-Forschung war. Also, lange hat sich die Marxismus-Forschung irgendwie hochpolitisch entweder von rechts oder von links an Marx abgearbeitet, ihn entweder vergöttert oder verdammt. Und dann gab's ein bisschen Stille nach 89 und auch Erleichterung, dass diese ideologischen Großkämpfe so ein bisschen vorbei sind.
Und jetzt ist es doch an der Zeit, vielleicht mit einem nicht mehr so beklemmten oder auch verkrampften oder irgendwie dogmatischen Blick drauf zu schauen, sondern aus der Zeit von damals heraus nachzuvollziehen, warum denn ausgerechnet der Marx mit seinen Texten so Energien ausgelöst hat, die eben beides konnten: große gestalterische Kräfte ausgelöst haben, aber eben auch sehr viel Zerstörungskräfte inspiriert haben.

Pindur: Frau Morina, Herr Habeck, vielen Dank für das Gespräch
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Der Politiker Robert Habeck von Bündnis 90/Die Grünen ist seit Anfang des Jahres Bundesvorsitzender seiner Partei und stellvertretendder Ministerpräsident sowie Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung in der Schwarz-Grün-Gelben Landesregierung von Schleswig-Holstein.
Die Historikerin und Politologin Christina Morina ist Autorin des Buches "Die Erfindung des Marxismus. Wie eine Idee die Welt eroberte", das 2017 im Siedler-Verlag erschien.

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