Zunehmende Entfremdung

25.06.2013
Das Buch "In Stücken" von Jonathan Littell ist geprägt von der radikalen Innenperspektive des Protagonisten. Ein Garten, lärmende Kinder, ein großes Haus und einige Erwachsene - der Ich-Erzähler weiß selbst nicht, was er dort zu suchen hat. 2008 machte Littell mit "Die Wohlgesinnten" Furore.
Mit einem Paukenschlag ist Jonathan Littell bekannt geworden. Sein monumentaler Roman "Die Wohlgesinnten" war 2008 in Deutschland mit einem veritablen Medienhype – die FAZ kreierte eigens einen "reading room" – erschienen. Die damalige Aufregung war zum einen der NS-Thematik des Buches geschuldet, zum anderen der mutigen Entscheidung des Autors, aus der Innenperspektive eines SS-Offiziers zu schreiben - und dies in einer brillanten Schärfe, die einige Szenen ob ihrer in jedem Wortsinn ungeheuerlichen Prägnanz zur Zumutung für den Leser machen.

Auf den ersten Blick scheint wenig Littells fulminanten Eintritt in die Literaturszene mit seiner neuesten Publikation "In Stücken" zu verbinden. Es beginnt bei dem Format, 60 luftig gegen 1383 eng bedruckte Seiten, der präzisen historischen Verortung gegen einen weitgehend undefinierten Ort oder Zeitpunkt. Ein belebtes Haus mit Garten, eine desolate Wohnung, eine Zugfahrt mit Freunden in eine Stadt, in der eine Kirche und ein Museum zur Besichtigung einladen – Genaueres erfahren wir nicht. Wenn man denn eine Parallele finden möchte, so liegt die zweifellos in der Innenperspektive, aus der der Protagonist seine Wahrnehmungen schildert, radikaler noch als in den "Wohlgesinnten", da er sich offensichtlich nur bedingt mit der ihn umgebenden Realität zu identifizieren vermag.

Diese detaillierte Beschreibung einer zunächst recht banalen Realität – ein Garten, lärmende Kinder, ein großes Haus und einige Erwachsene – ist für den Leser insofern irritierend, als der Ich-Erzähler offensichtlich selbst nicht weiß, was er dort zu suchen hat. Immer wieder gibt es Momente der Selbstwahrnehmung, die zunächst, so im ersten Satz, mit einer Reaktion auf die Außenwelt verbunden ist: "Das Kinderlachen schrillte in meinen Ohren, und ich gab das Lesen auf." Doch später geht dieser Bezug mitunter verloren: "Ich trat vor einen Spiegel und musterte mein Gesicht: Es erschien mir seltsam verschwommen, zur Hälfte ausgelöscht; verwirrt rieb ich daran, doch es war, als würde die Haut unter meinen Fingern ausfransen".

Im Kontrast zu dieser scheinbar zunehmenden Desorientierung, die von paranoiden Anflügen begleitet wird; denn immer wieder warten, wie in einem schlechten Film, "finstere Männer" mit dunklen Brillen am Wegesrand, steht die letzte Szene, in der der Ich-Erzähler in das große Haus zurückkehrt - wo er erwartet wird, gewissermaßen die Regie übernimmt, doch schließlich die ihn umgebenden Personen "noch substanzloser, noch flüchtiger als am Tag zuvor" vorfindet.

Dieser Konturlosigkeit setzt der Erzähler präzise Schilderungen seiner Wahrnehmungen entgegen, in der sich eine ungewohnte Fülle von Farben findet. Der spannendste Kunstgriff, um die zunehmende Entfremdung greifbar zu machen, besteht aber wohl im Parallelismus der Beschreibung von Bildern und Menschen, als ob das Leben und seine Abbildung sich auf derselben Ebene befänden. Da ist es wohl kein Zufall, dass die vielleicht stärkste Emotion des Erzählers durch ein abstraktes Gemälde ausgelöst wird.

Besprochen von Carolin Fischer

Jonathan Littell: In Stücken.
Deutsch von Heiner Kober
Matthes & Seitz Berlin, 2013,
60 Seiten, 14,90 Euro. Limitierte Auflage


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