Zum Tod von Ernesto Cardenal

Das Himmelreich als kommunistisches Diesseits

07:12 Minuten
Der nicaraguanische Dichter, Priester und Politiker Ernesto Cardenal
Ernesto Cardenal 2014 bei einem Auftritt in Bremen © picture alliance / El Universal
Von Tobias Wenzel · 01.03.2020
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Ernesto Cardenal ist tot. Der Dichter, Befreiungstheologe und frühere Kulturminister von Nicaragua starb im Alter von 95 Jahren in Managua.
"Als ich dich verlor, haben wir beide verloren:
ich, weil du warst, was ich am meisten liebte,
und du, weil ich es war, der dich am meisten liebte,
aber dich wird niemand so lieben wie ich."
Die Liebe, wie schon in diesem Jugendgedicht, faszinierte den Lyriker und Theologen Ernesto Cardenal bis zuletzt. Auch, weil sich ihr selbst niederträchtige Menschen nicht entziehen können.
Cardenal verstand die Liebe allerdings nicht nur als zwischenmenschliches Gefühl, sondern auch als Motor der Revolution und als Geist des Kosmos. In seinen "Gesängen des Universums", im Original 1989 erschienen, lotete er in fast 1800 Versen die Rolle des Menschen im Kosmos aus und spannte den Bogen vom Urknall über die DNS bis zu Gott.
Naturwissenschaften und Gott standen für Ernesto Cardenal in keinem Widerspruch, sondern ergänzten sich in seiner Weltanschauung:
"Die heutigen Wissenschaftler sagen, im Universum sei alles, wir Menschen eingeschlossen, miteinander verbunden. Und das hat mich sehr inspiriert, zumal das auch die Mystiker sagen."

Kloster statt Staatsstreich

Bekannt wurde Cardenal, der zuerst Philosophie und Literaturwissenschaft studierte, durch seine politischen Verse. 1954 unterstützte er als Revolutionär den Staatsstreich gegen Diktator Somoza García. Der Umsturzversuch misslang, Cardenal ging ins Exil in die USA. In einem Kloster in Kentucky fand er zu Gott:
"Das waren die glücklichsten Jahre meines Lebens. Meine Novizenzeit ist mir wie eine Hochzeitsreise vorgekommen. Wegen Krankheit musste ich das Kloster schließlich verlassen. Mein restliches Leben war dann gewissermaßen nur noch die Umsetzung dessen, was ich im Kloster gelernt hatte, von meinem Novizenmeister, dem bekannten Mystiker und nordamerikanischen Schriftsteller Thomas Merton."
Nach seiner Zeit im Kloster studierte Cardenal katholische Theologie in Mexiko und Kolumbien und wurde an seinem Geburtsort Managua zum Priester geweiht. Es entstanden seine später in viele Sprachen übersetzen "Psalmen", in denen er Gott um Unterstützung gegen die Diktatoren dieser Welt bat und die Unterdrückung, Ausbeutung und Entrechtung der Armen anprangerte: eine Symbiose aus Dichtung und Befreiungstheologie.
"Wenn ich vom Glauben spreche, meine ich den Glauben an die Botschaft Jesu, an das Evangelium, das vom Himmelreich auf die Erde gelangt ist. Der Kommunismus – ich meine den Kommunismus im Sinne von Marx, nicht den real existierenden – ist für mich eine wissenschaftliche Methode, um die Gesellschaft und die Welt zu verändern. Und diese Verwandlung ist das Himmelreich."

Vatikan gegen die Theologie der Befreiung

Das Himmelreich verstanden als kommunistisches Diesseits, das aus der Bibel herausgelesene Ziel einer basisdemokratischen Gesellschaft – das alles war der Leitung der römisch-katholischen Kirche suspekt. Sie führte einen Feldzug gegen die Theologie der Befreiung, und 1984 suspendierte Johannes Paul II. Ernesto Cardenal von dessen Priesteramt, offiziell, weil der gleichzeitig Regierungsmitglied der revolutionären Sandinistischen Befreiungsfront war. Erst 2019 hob Papst Franziskus die Suspendierung auf.
Mitte der 60er Jahre hatte Cardenal eine marxistisch geprägte Glaubensgemeinschaft auf einer Insel im Großen See von Nicaragua gegründet, wo er sein Buch "Das Evangelium der Bauern von Solentiname" schrieb. Mit dortigen Landwirten besetzte er eine Kaserne der Nationalgarde, worauf das Regime zurückschlug.
Im Exil in Costa Rica schloss sich Cardenal der sandinistischen Befreiungsfront an, der 1979 der Sturz von Diktator Somoza Debayle gelang. Zuvor hatte Cardenal den Somoza-Clan auch in seiner Lyrik scharf angegriffen, unter anderem in Form des Schmähgedichts. Da lag die Frage auf der Hand, ob Gedichte einen Diktator stürzen können.
"Sie können Hilfestellung leisten. Zwar werden die Verse selbst keinen Diktator besiegen, aber sie können einen Beitrag dazu leisten, dass ein günstiges Klima und ein dementsprechendes Bewusstsein entstehen. Mein Anteil daran war vergleichsweise gering."

Kulturminister Nicaraguas

Einen großen Anteil hatte Cardenal in jedem Fall an der erfolgreichen Bekämpfung des Analphabetentums in Nicaragua, erst als Kulturminister der sandinistischen Regierung, dann als Gründer der Kulturstiftung "Casa de los Tres Mundos". Die Mitmenschlichkeit, die er damit bewies, strahlte er im hohen Alter allerdings nur noch selten aus: Meist wirkte er mürrisch oder eitel.
Von der Sandinistischen Befreiungsfront distanzierte sich Cardenal schließlich. 2019 forderte er vom Krankenbett aus ihren Vorsitzenden Daniel Ortega auf, als Präsident Nicaraguas zurückzutreten, weil aus dem ehemaligen Mitstreiter im Kampf gegen Unterdrückung selbst ein Unterdrücker des Volkes geworden war.
Außerhalb Lateinamerikas war Cardenals Einfluss gerade in Deutschland beachtlich. 1980 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Rückblickend erscheint die Sprache seiner politischen Dichtung als recht gewöhnlich.

"Ich habe Gott geheiratet"

Sein poetisches Können stellte er in seinem Spätwerk unter Beweis, in den "Gesängen des Universums" oder auch im Band "Zyklus der Sterne". Darin redet sich ein Mann die unglückliche Liebe von einst schön. Schließlich hänge ja alles auf der Welt zusammen. Also sei er nicht wirklich von der Frau getrennt.
"Ich spiele da auf meine erste Liebe an, die nicht erwidert worden ist. Ich habe allerdings verstanden, dass Gott meine Liebe sehr wohl erwidert hat. Gott hat dafür gesorgt, dass ich, anstatt eine Frau zu lieben und zu heiraten, mich in ihn verliebt und ihn geheiratet habe. Aber bis heute erinnere ich mich voller Sehnsucht an meine erste Liebe. Sie ist immer noch präsent."
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