Zum Tod von Claude Lanzmann

    "Unerträglich eindringlicher Filmemacher"

    Der französische Regisseur Claude Lanzmann bei den 70. Filmfestspielen in Cannes 2017.
    Claude Lanzmann (1925 - 2018): "Was heißt es zu wissen?" © picutre alliance / dpa / Alexey MalgavkoEkaterina Chesnokova
    Von Hartwig Tegeler · 05.07.2018
    Der französische Journalist und Filmemacher Claude Lanzmann ist tot. Der Regisseur des preisgekrönten Holocaust-Dokumentarfilms "Shoah" von 1985 starb im Alter von 92 Jahren. Er ging in seinem Werk an die Grenze des Darstellbaren.
    Was hinterlässt ein Mensch? Wenn wir einmal die Erfahrung - ja, Erfahrung, nicht Filmschauen, ist gemeint - gemacht haben, "Shoah", neun Stunden lang, gesehen zu haben, dann ist die Frage nach dem, was Claude Lanzmann uns hinterlassen hat, eindeutig geklärt. Es geht um Wahrheit und Radikalität, es geht darum, was man über die Judenvernichtung wissen, und wie man dieses Wissen filmisch umsetzen kann.
    Was heißt aber bei Lanzmann Radikalität? Nur eine Szene, um Lanzmanns "unerhörte Eindringlichkeit" zu zeigen - ein Wort von Klaus Theweleit. Dieses: "Now ... now I got back" von Jan Karski ist gemeint und das, was da herum zu sehen ist über den manchmal auch unerträglich eindringlichen Filmemacher Claude Lanzmann.

    Die "Karski-Sequenz"

    Gegen Ende von "Shoah" sehen wir Jan Karski, Widerstandskämpfer und Kurier der Exilregierung Polens, der 1942 von polnischen Juden in das Warschauer Getto und in ein Todeslager eingeschleust wurde. Er sollte sehen und berichten. Was er später auch in London und Washington tat. Nun, Mitte der 1970er-Jahre, will Jan Karski davon vor Lanzmanns Kamera erzählen.
    "Now ... now I got back ... 35 years." – "Ich gehe jetzt 35 Jahre zurück." - Jan Karski stockt. Er schluckt ... etwas steigt auf, bricht hervor von dem damals. "No, I don't go back. You know."
    Karski fängt an zu schluchzen. "Ich komme gleich wieder." Der Mann geht aus dem Bild. Und dann sehen wir im Gegenschnitt nur Filmemacher Lanzmann, wie er auf dem Sessel sitzend wartet, bis Jan Karski wiederkommt. Eine gefühlte Ewigkeit nur Lanzmann. Dann erscheint Karski wieder, erzählt, wie er Zeuge der Vernichtung wurde. Wir sehen - auch heute noch - wie eine Vergangenheit, so formulierte es Lanzmann später selbst, hochsteigt, "deren Narben noch so frisch und lebendig sind an den Schauplätzen und im Bewusstsein der Menschen". Die Karski-Sequenz in "Shoah" prägt sich ein wegen der Unabdingbarkeit Lanzmanns. Aber die Lanzmann-Filme konfrontieren uns angesichts des Holocaust auch heute noch mit einem erkenntnistheoretischen Problem, das Claude Lanzmann so beschrieb:
    "Was heißt es zu wissen? Was bewirkt eine Information über buchstäblich unerhörte Schrecken im menschlichen Gehirn? Dieses kann damit nicht umgehen, weil es sich um ein in der Menschheitsgeschichte beispielloses Verbrechen handelt. Damals wurde Raimond Avon, der nach London geflohen war, gefragt, ob er gesehen habe, was sich im Osten ereignete. Er antwortete, ich wusste es, aber ich habe es nicht geglaubt. Und weil ich es nicht geglaubt habe, wusste ich es auch nicht."

    350 Stunden Material für "Shoah"

    Schon Claude Lanzmanns erster Film "Warum Israel" von 1972 dreht sich um das, was zum Lebensthema werden soll für den Pariser Juden, der erst durch diese Dokumentation über Israel in Berührung kommt mit der jüdischen Kultur und ihrer Zerstörung durch die Nazis.
    Dreizehn Jahre soll es dauern, bis Lanzmanns zweiter Film fertig ist. "Shoah". Dieser hebräische Begriff für "Zerstörung" oder "große Katastrophe" steht seit Lanzmanns Film von 1985 auch, parallel zum Begriff "Holocaust" als Synonym für die industrielle Vernichtung des europäischen Judentums. In "Shoah", eine narrative Chronik ohne ein Archivbild, ohne das Bild einer Leiche, filmt Lanzmann die Plätze der Vernichtung und lässt Zeitzeugen, Täter wie Opfer, erzählen. Fünf Jahre braucht Lanzmann allein für den Schnitt der 350 Stunden langen Material, aus dem später auch Dokumentationen wie "Sobibór", "Der Karski-Bericht" oder "Der Letzte der Ungerechten" von 2012 entstehen. Wie kann man mit Worten ausdrücken, an welche Grenze des Darstellbaren Lanzmann geht? Vielleicht mit dem, was Jan Karski benennt im "Der Karski-Bericht". Lanzmanns Frage: "Das Getto war doch eine vollkommen andersartige, fremde Welt. Oder?" Karskis Antwort: "Es war keine Welt. Es war keine Menschlichkeit. Es war eine Hölle."

    Geliebter von Simone de Beauvoir

    Mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir verband Lanzmann eine lange Freundschaft. In den 1950er-Jahren war er Geliebter der de Beauvoir; in ihren Memoiren beschreibt sie ihn als einen bewussten und stolzen Juden, in dem die Tragödie seines Volkes tiefe Narben hinterlassen hat. Der Jude Claude Lanzmann ist den Nazis, der Vernichtung durch sie entkommen. "Shoah" ist so auch eine Revolte gegen den Tod, zumindest erweckte Lanzmanns 2010 erschienene Autobiografie "Der patagonische Hase" diesen Eindruck, in der es auch um pure Lebensfreude geht. Hase. Haken schlagen. Den Tod besiegen? Wie das geht? Kann das gelingen? Ja, nein, nein, ja. In einem Interview sagte Lanzmann über die sogenannten Überlebenden des Holocaust:
    "'Shoah' ist ein Film über die Gaskammern. 'Shoah' ist kein Film über Überlebende. Es ist ein Film über die Toten. Die Toten sind bei mir. Niemand ist jemals aus einer Gaskammer zurückgekommen, um zu erzählen, wie es wirklich war. 'Shoah' ist so nahe dran, wie es überhaupt nur geht. Und ich habe 'Shoah' nie als Inkarnation verstanden."
    "Die Toten sind bei mir", sagt Claude Lanzmann, der 1925 geborene französische Jude, mit 88 Jahren. Jetzt ist er bei den Toten. Hinterlassen hat er uns ein monumentales Werk darüber, wozu der Mensch fähig ist.
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