Zum Sterben in die Schweiz

Von Michael Hollenbach · 12.11.2011
Die Sterbehilfe ist ein heiß umstrittenes Thema. Hierzulande wird er von beiden Kirchen abgelehnt. Doch in der evangelischen Kirche gibt es mittlerweile Risse in der rigorosen Haltung. Michael Hollenbach hat eine schwer krebskranke Frau auf ihrem Weg begleitet, der sie schließlich zum Sterben in die Schweiz geführt hat.
Helga Bartels-Kruse ist 86 Jahre alt. Würdevoll sitzt die alte Dame auf ihrem Sofa in ihrer Wohnung in Hannover und erzählt von ihrer Krebserkrankung. Vor zwei Jahren erkrankte sie an Brustkrebs und wurde operiert. Der Krebs schien unter Kontrolle. Vor zwei Monaten bekam sie dann heftige Rückenschmerzen. Im Krankenhaus diagnostizierten die Ärzte Metastasen in der Wirbelsäule, in der Leber, in den Knochen. Die Mediziner schlugen ihr eine Chemo-Therapie und Bestrahlungen vor.

"Das wollte ich aber nicht, weil ich mir sage, das zögert die Sache nur weiter hinaus, das kann die Krankheit nicht beseitigen."

Allen war klar: es gibt keine Heilungschancen. Die Schmerzen werden heftiger; Helga Bartels-Kruse erhält Morphium. Und sie ruft bei dem Sterbehilfeverein dignitas an, um in der Schweiz zu sterben.
"Einem Leben in Schmerzen und Siechtum ziehe ich das vor. Und deswegen möchte ich in die Schweiz, damit man mir das Siechtum ersparen kann."

Noch im September sendet sie ihre medizinischen Unterlagen zu dignitas. Der Verein prüft, ob schwerwiegende Gründe vorliegen für einen "begleiteten Freitod", wie dignitas die Hilfe beim Sterben nennt. Wenige Wochen später kommt die Antwort:

"Ich habe das grüne Licht bekommen aus der Schweiz, dass ich anreisen könnte aufgrund meiner Beschwerden."

Ihr letzter Wunsch: Sie möchte in Würde sterben. Zum Sterben in ein Hospiz zu gehen, das sei für sie keine Option:

"Ich weiß ja nicht, und das kann mir kein Arzt sagen, wie lange das dauern wird, im Hospiz nehmen die einen ja auch nicht ein halbes Jahr auf, sondern da wird man nur kurzfristig aufgenommen und wieder nach Haus geschickt. Ich weiß ja nicht, wie ich mit den Tabletten und den Mitteln weiter zurecht kommen werde, denn mir ist immer übel durch die vielen Tabletten. Ich hatte versucht, die Tablettendosis etwas zu reduzieren, dann hatte ich wieder Schmerzen, und ich hätte Angst davor, dass die Beschwerden schlimmer werden würden und dass man mir trotz Morphium nicht alles ersparen kann."

Nun kennt sie ihr eigenes Todesdatum: Es soll der 8. November sein. Sie wird dafür nach Winterthur fahren.

"Es wäre natürlich schöner, wenn man das hier machen könnte, aber leider geht das in Deutschland nicht."

Helga Bartels-Kruse kann nicht weiter reden. Die sonst so gefasste Frau, die sich von ihrer Wohnung, ihren Freundinnen, ihrem Leben verabschiedet hat, muss erst einmal weinen.

"Ich heule nur manchmal, ich kann das gut. Ich habe mich auch schon von vielen Dingen verabschiedet, ich habe die Uhr, eine ganze alte Standuhr, an der ich sehr hing, die habe ich schon weggegeben, habe mich auch von finanziellen Dingen schon getrennt, das läuft alles und geht auch gut."

Die 86-Jährige war früher erst Sekretärin eines Chefarztes, später hat sie ein Referat im Sozialamt geleitet. Ihr früherer Ehemann, von dem sie sich vor vielen Jahren scheiden ließ, ist schon länger tot. Sie lebt allein. Zu ihren Neffen, die weiter weg wohnen, hat sie keinen Kontakt. Aber sie hat viele Freundinnen.

"Wenn ich Familie hätte, würde ich doch vielleicht erst mal versuchen, noch zu Hause zu bleiben und gepflegt zu werden, und vielleicht dann letzten Endes, wenn die Schmerzen zu schlimm werden, dann würde ich doch vorziehen, in die Schweiz zu fahren."

Der Dresdener Bischof Jochen Bohl lehnt den Weg von Helga Bartels-Kruse ab. Er wendet sich gegen den assistierten Suizid, der in Deutschland nicht erlaubt ist.

"Das ist dem Arzt von der Standesethik her verboten."

Aber nicht nur wegen der Standesethik - diese Form der Sterbehilfe lasse sich mit dem christlichem Menschenbild nicht vereinbaren, sagt der stellvertretende EKD-Ratsvorsitzende:

"Ich denke, dass in sehr vielen Fällen die Palliativmedizin die Möglichkeit ist, die zunächst in Betracht gezogen werden soll. Das bedeutet, dass in den allermeisten Fällen starke Schmerzen auch in einem finalen Stadium der Krankheit, also unmittelbar vor dem Tod, therapiert werden können im Sinne der Linderung der Schmerzen."

Auch der evangelische Theologe Michael Frieß ist für den Ausbau der medizinischen Begleitung unheilbar kranker Menschen. Doch für den Nürnberger ist sie nur eine Option:

"Auch wenn die Palliativmedizin noch so gut ist, hat trotzdem der einzelne das Recht, über sein Leben zu entscheiden. Auch wenn er bestens umsorgt ist und nicht mehr leben will, dann hat er das Recht, über sein eigenes Leben zu entscheiden."

Michael Frieß hat seine Doktorarbeit über die theologische Akzeptanz des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe geschrieben. Er betont vor allem die Freiheit eines Christenmenschen, die Luther in den Vordergrund gestellt hat, und die Autonomie, die auch im Sterben nicht aufhöre:

"Auch die Ablehnung der dritten Chemotherapie, die außer Übelkeit und Schmerzen nichts mehr bringt, diese abzulehnen und dadurch früher zu sterben, auch das sind autonome Entscheidungen, die wir im Leben ständig treffen müssen. Also der Mensch kommt gar nicht umhin, solche Entscheidungen zu treffen. Warum er dann nicht entscheiden darf, nicht nur Behandlungen abzulehnen, sondern das Leben aktiv zu beenden, ist mir unklar."

Befragt, wie er auf eine Situation wie die von Helga Bartels-Kruse reagieren würde, antwortet Bischof Jochen Bohl:

"Ich würde versuchen, ihre Sorgen aufmerksam zu hören. Sie sorgt sich ja um ihr Ende, ob sie das ertragen kann, und ich denke, dass man ihr in einem solchen Gespräch viele Hilfen geben könnte mit Verweis auf die medizinischen Möglichkeiten, aber auch auf den Glauben eines Christenmenschen, die dann in der Summe geeignet sind, diese Angst von der Frau zu nehmen."

"Das kann ich nicht nachvollziehen. Die Kirche kann einem ja bei den Schmerzen dann auch nicht helfen. Das empfinde ich sehr herzlos. Die wollten die Menschen zwingen, bis zum letzten Moment in Schmerzen auszuharren. Das ist doch unmenschlich sowas","

sagt die Protestantin, die Mitglied der hannoverschen Landeskirche ist.

Helga Bartels-Kruse ist in der Schweiz angekommen. Am Abend zuvor ist sie noch einmal von einem Arzt untersucht worden, dem sie ihren Todeswunsch bestätigt hat. Heute sitzt sie in einem Café am Zürichsee - zusammen mit einem Sterbebegleiter von dignitas und ihrer Freundin.

""Wo ich drauf könnte, das ist eine Suppe…"

Äußerlich wirkt sie sehr gelassen, erzählt sogar noch einen Witz.
Am Tag zuvor ist sie gemeinsam mit ihrer Freundin und einem dignitas-Begleiter aus Hannover gekommen.

"Bis gestern Morgen war es mir noch wie eine Fahrt ins Ungewisse, und das war für deine letzten Stunden nicht günstig. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätten wir noch mal eine Reise zusammen gemacht."

Dennoch kommt das Gespräch immer wieder auf den nächsten, ihren letzten Tag. Wie wird sie sterben? Sie werde einen Medikamentenmix trinken und dann recht schnell bewusstlos sein:

"Man schläft ein und der Tod tritt dann ohne weitere Krampfanfälle oder Schmerzen ein."

Viele Menschen, die unheilbar erkrankt sind, hoffen bis zum Schluss, dass sie vielleicht doch noch überleben. Sie meiden es, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen. Das ist bei Helga Bartels-Kruse anders:

"Ich bin ja 15 Jahre lang Chefarztsekretärin gewesen, und bin vielfach mit dem Tod in Berührung gekommen, und ich habe mir da gar keine Illusionen gemacht."

Am Nachmittag setzen die drei mit der Fähre ans andere Ufer nach Küßnacht über.

"Meine letzte Reise (lachen) trete ich jetzt an. Schön ist es hier, frische Luft, noch mal tief durchatmen, und man wird abgelenkt von dem, was einem morgen bevorsteht. Das ist ja keine angenehme Sache."

Helga Bartels-Kruse ist evangelische Christin. Was erwartet sie dann, wenn sie ihrem Leben ein Ende setzt? Ein Leben nach dem Tod?

"Ich bin mir da nicht so sicher. Man wünscht es sich, man wünscht sich ja, dass man Eltern und Freunde, die schon gegangen sind, wiedersieht, aber niemand ist zurückgekommen bis jetzt, um das einem zu bestätigen."

Sie hätte sich schon gern beim Thema Sterbehilfe mehr Offenheit von ihrer evangelischen Kirche gewünscht, sagt sie. Dem Ethiker Michael Frieß geht es ähnlich. Er betont, dass es nach protestantischem Verständnis nicht - wie in der katholischen Kirche - eine allgemeingültige Lehrmeinung geben dürfe; bei den Protestanten sei jeder und jede dem eigenen Gewissen verantwortlich.

"Das muss Kennzeichen evangelischer Ethik bleiben. Die Bibel ist keine Gebrauchsanweisung für ethische Fragen, vor allem medizin-ethische Fragen des 21. Jahrhunderts. Sie gibt Grundideen vor und jeder Christ muss sich dann selber zu einer Position durchringen, gerade in Fragen der Medizinethik wird es da niemals eine einheitliche Position geben."

Der Nürnberger Theologe kritisiert, dass sich die evangelischen Kirchen in Deutschland - anders als in der Schweiz oder den Niederlanden - auf eine ablehnende Haltung beim Thema Sterbehilfe festgelegt haben.

"Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben meiner Ansicht nach das Problem, dass als Hauptmarschrichtung die Ökumene vorgegeben ist und wenn sie sich dann zusammen mit der katholischen Kirche zu diesen Themen äußert, dann müssen sie eine strikte Position einnehmen, sonst gäbe es keine gemeinsamen Äußerungen mit der katholischen Seite."

Eine Position, wie sie zum Beispiel der Augsburger Weihbischof Anton Losinger vertritt. Er sitzt für die katholische Kirche im Deutschen Ethikrat. Er spricht immer wieder vom natürlichen Lebensbogen, den der Mensch nicht vorzeitigt beenden dürfe und tritt für klare Verbote ein:

"Erstens keine aktive Sterbehilfe im Sinne einer Tötung eines Menschen, zweitens kein ärztlich assistierter Suizid. Wir könnten es nicht verstehen, dass der Arzt im Krankenhaus vom Helfer zum Vollstrecker mutiert."

Weihbischof Anton Losinger hält dignitas vor, lebensmüde Menschen allzu schnell auf ihrem Weg ins Jenseits zu unterstützen. Gegen das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen stellt der katholische Geistliche die Fürsorgepflicht seiner Kirche, sich um sterbewillige Menschen zu kümmern:

"Manchmal ist nicht mehr klar, ob das, was in der vermeintlichen Selbstbestimmung angeordnet wurde, für ihn in dieser Situation noch gilt. Deshalb würde ich sagen, wir befinden uns in einer existentiellen und medizinischen Sondersituation am Lebensende, die auch eine neue, eine weitsichtigere Zugehensweise erfordert. Die Selbstbestimmung als Trumpfkarte zu zücken, das könnte nach hinten losgehen. "
Und sein evangelischer Bischofskollege Jochen Bohl:

"Als Christen sehen wir es so, dass wir den Tod empfangen. Wir geben uns das Leben nicht selber am Anfang und am Ende des Lebens gibt es ein Moment der Unverfügbarkeit, das sich für jeden erschließt. Das ist unverfügbar und das ist auch eine tiefe Glaubenswahrheit, dass wir gut beraten sind, diese Unverfügbarkeit für uns zu akzeptieren. "

Nein, sagt Michael Frieß. Das Bild von der Unverfügbarkeit stimme nicht. Wenn man sage, das Leben sei ein Geschenk Gottes, dann verfüge letztlich der Mensch über dieses Geschenk und müsse auch selbst entscheiden, was er damit mache. Der evangelische Theologe betont, dass er sich nicht als Vorkämpfer für den begleiteten Suizid oder die aktive Sterbehilfe sehe. Er wolle nur eine offene und ehrliche Diskussionskultur in seiner evangelischen Kirche.

"Zudem schließe ich mich der Meinung der führenden Kirche in den Niederlanden an, die darauf verweisen, dass man leben soll, aber nicht leben muss. Also wenn das Leben unerträglich geworden ist, gibt es keine Pflicht, weiter zu leben. Wenn es dann keine Alternative medizinischerseits gibt, die Qual zu erleichtern, dann darf man sein Leben wieder zurück an Gott geben."

Die evangelischen Kirchen in Europa würden in Fragen der Sterbehilfe sehr unterschiedlich argumentieren, sagt Michael Frieß. Allein das zeige deutlich, dass es keine allgemeingültige Antwort - zum Beispiel auf den assistierten Suizid - gebe. Schweizer Protestanten praktizieren eine Linie, die in Deutschland undenkbar wäre.

"Ein Kanton, Bern/Jura, hat nach einer langen Diskussion beschlossen, dass Helfer von dignitas in kirchlichen Altenheimen das machen dürfen, was sie auch in Privatwohnungen machen dürfen. Das heißt: Sterbehelfer dürfen in kirchliche Altenheime kommen und den tödlichen Trunk mitbringen und Bewohner dieser kirchlichen Einrichtungen dürfen sich dann in ihrem Zimmer selbst töten."

Helga Bartels-Kruse wird von den dignitas- Mitarbeitern Beatrix und Ernesto Buche begrüßt. Noch immer wirkt die alte Dame sehr ruhig und gelassen, obwohl sie weiß, dass sie hier in diesem blau-grauen Bungalow in den nächsten zwei Stunden ihr Leben beenden wird.

"Wenn Sie sich dann bereit erklären, dann machen wir die Formalitäten, das ist die Freitoderklärung, die Sie ausfüllen müssen, und dann die Vollmachten, also Sie müssen sechs bis acht Mal unterschreiben."

Später - nach ihrem Tod - wird Ernesto Buche die Staatsanwaltschaft und die Polizei benachrichtigen, da es sich ja um einen unnatürlichen Tod handelt, der untersucht werden muss.

Als Beweis für den Staatsanwalt zeichnet Ernesto Buche eine kurze Videosequenz auf:

"Also Frau Bartels, sind Sie sich bewusst, wenn Sie jetzt das Medikament einnehmen, dass Sie dann sterben werden? Ja. Alles klar."

Helga Bartels-Kruse trinkt zunächst ein Medikament, um ihren Magen zu beruhigen. Sie geht noch einmal in den Garten, dann nach 20 Minuten steht sie vor dem Eingang zum Sterbezimmer:

"Die Tür ist offen, ich kann hindurch gehen."

Sie lässt sich aufs Bett nieder und ihre Freundin setzt sich daneben.

"Wenn Sie nach hinten rutschen, dann kann Ihre Freundin in der Nähe sein. So machen wir das."

Im Raum bleiben nur die Freundin und die Sterbebegleiter von dignitas. Ernesto Buche erzählt danach, dass die Freundin den Arm um Helga Bartels-Kruse legte, als diese Medikament trank. Kurz darauf dämmerte sie weg - wie bei einer Narkose. Wenige Minuten später ist sie tot. Ihre Freundin hält sie auch eine halbe Stunde später noch in dem Arm. Mit ihrem verweinten Gesicht blickt sie auf die Tote und sagt: Ist nicht schön. Immer noch.

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