Zum Schaden der Zeitgeschichte

Von Rolf Schneider · 07.09.2012
Der ehemalige Stasi-Mitarbeiter Lothar Herzog sah Erich Honecker stark geprägt von der Haftzeit im Zuchthaus der Nationalsozialisten - darüber und über das Privatleben des früheren Staats- und Parteichefs der DDR schrieb er jüngst. Diese Erinnerungen lassen den Schriftsteller Rolf Schneider feststellen, dass geschichtliches Gedächtnis recht kurz geworden zu sein scheint.
Der Berliner Historiker Martin Sabrow hat Erich Honecker, Anlass war der hundertste Geburtstag des Politikers, in gleich zwei ausführlichen Texten, verfasst für auflagenstarke Publikumsblätter - er hat ihn einen kraftvoll auftretenden und, vor allem, rhetorisch gewandten Jugendpolitiker genannt. Wer einst den Reden des FDJ-Vorsitzenden Honecker lauschen musste, ich gehörte dazu, erlebte einen silbenverschluckenden Schreihals mit ständig sich überschlagener Stimme, was er als SED- Chef so beibehielt.

Hegte Honecker deutsch-deutsche Gefühle? Hat er an eine irgend geartete Annäherung der beiden deutschen Staaten gedacht? Gewiss hat er das, ähnlich wie sein Vorgänger Walter Ulbricht; als Voraussetzung nannten beide, dass zuvor Westdeutschland eine sozialistische Ordnung nach SED-Manier annehmen müsse.

Erich Honecker sei kein schwacher Diktator gewesen, sagt Sabrow, kein farbloser Politruk, kein politisches Leichtgewicht. Letzteres ist eher selten behauptet worden, schließlich hält niemand sich anstrengungs- und umstandslos über mehrere Jahrzehnte hinweg an der politischen Macht. Als Honecker Ulbricht gestürzt hatte, um an die Partei- und Staatsspitze aufzurücken, genoss er vorübergehend sogar eine bescheidene Popularität.

Er ließ Wohnungen bauen. Er öffnete Devisenhotels für DDR-Urlauber. Er erlaubte den jungen Leuten Beatmusik und gewährte den Künsten etwas mehr Freiraum. Das meiste ging schon bald wieder verloren. Die materiellen Wohltaten wurden eingeengt durch die ständigen Mängel, die größere geistige Mobilität erstickte der allgegenwärtige Sicherheitsdienst des Honecker-Kumpans Erich Mielke.

Die veränderte Beurteilung des toten SED-Führers vertritt Sabrow nur als einer von mehreren. Auch dem Vorgänger Ulbricht wurde eine solche Gnade zuteil. Bei Sabrow klingt dies vorsichtig an, andere wurden darin deutlicher: Ulbricht sei ein Mann der kraftvollen Visionen gewesen, heißt es da, Honecker hingegen bloß ein blasser Apparatschik.

In Wahrheit war Ulbricht ein skrupelloser Opportunist, der die DDR-Zuchthäuser füllte, den 17. Juni 1953 blutig niederschlagen ließ und das brutale Ende des Prager Frühlings betrieb. Seine Vision bestand darin, die Bundesrepublik wirtschaftlich zu überholen, ohne sie einzuholen; allein der logische Nachvollzug dieser Metapher zeigt den haarsträubenden Unsinn. Zu allen Zeiten hinkte denn auch die DDR der Bundesrepublik wirtschaftlich hinterdrein.

Übrigens war es der große Sebastian Haffner, der, sehe ich es recht, als erster mit der Aufwertung des sächselnden Spitzbartträgers begann. Haffner hatte ein Faible für vermeintliche oder tatsächliche politische Schwergewichte. Von ihm schrieben dann andere ab. Dass Ulbricht ein respektabler Staatsmann sei, gegen den Honecker grau, blass und langweilig wirke, ließ sich in vielen westdeutschen Gazetten lesen.

Nun also ereilt es auch jenen Menschen, der 1994 verbittert in Chile starb. Sein früherer Kammerdiener hat die Erinnerung an einen biederen, gelegentlich schrulligen, jedenfalls kleinbürgerlich-anspruchslosen Chef und verfasste darüber ein Buch, das prompt die Bestsellerlisten erklomm. Waren wir denn 20 Jahre lang völlig blind? Oder haben Erbarmen und Nachsicht das kollektive Gedächtnis eingenebelt?

Dass Historiker bei bestimmten Ereignissen oder Personen zu anderen, differenzierteren Erkenntnissen gelangen, ist nicht ungewöhnlich. Neue Fakten und ein sehr großer Zeitabstand können dergleichen bewirken. Umwerfend neue Fakten gibt es weder im Falle Honecker noch im Falle Ulbricht. Beide haben einen Staat völlig und eine einst machtvolle Emanzipationsidee weitgehend zugrunde gerichtet, was sie beide nie wahrhaben wollten oder konnten.

Ihre Aufwertung hat offenbar mit einem kurzen Zeitgeschichtsgedächtnis, vor allem aber mit der Originalitäts- und Profilsucht von Wissenschaftlern zu tun. Die historische Bildung der Nachgeborenen trägt den Schaden davon.

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen ‘groben Verstoßes gegen das Statut’ wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem zuvor mit elf Schriftstellerkollegen in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte. Veröffentlichungen u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Rolf Schneider äußert sich insbesondere zu kultur- und gesellschaftspolitischen Themen.
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist
Rolf Schneider, Schriftsteller und Publizist© Therese Schneider