Zum ersten Mal darüber reden

Andreas Zimmer im Gespräch mit Andreas Müller · 07.04.2010
Etwa drei Viertel der Anrufer bei der seit einer Woche geschalteten Telefon-Hotline für Opfer von sexuellen Übergriffen in katholischen Einrichtungen seien Opfer von Missbrauch und Gewalt. Viele wollen erstmalig darüber reden, sagt Andreas Zimmer, Leiter des Arbeitsbereichs Beratungsstellen und Telefonseelsorge im Bistum Trier.
Andreas Müller: Papst Benedikt XVI. schwieg beredt am Osterwochenende. In keiner der vielen Feierlichkeiten in Rom äußerte er sich zu den Missbrauchsfällen, die es in verschiedenen Einrichtungen – seien es nun Pfarreien oder Kinderheime – in der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten gegeben hat. Die Enttäuschung über dieses Schweigen war nicht nur bei den Opfern groß, denn die wollen, die wollen, dass über ihr Schicksal gesprochen wird und: Sie wollen reden. Seit einer Woche nun ist eine Telefon-Hotline für die Opfer von sexuellen Übergriffen in katholischen Einrichtungen geschaltet, und die wird von Anrufen geradezu überflutet. Tausende rufen an, nur wenige kommen durch.
Gleich sprechen wir mit Andreas Zimmer, das ist der Leiter des Arbeitsbereichs Beratungsstellen und Telefonseelsorge im Bistum Trier, über den Ansturm der Opfer und wie man damit umgeht, dass fast täglich neue Missbrauchsfälle gemeldet werden.

Seit einer Woche ist eine Telefon-Hotline für die Opfer von sexuellen Übergriffen in katholischen Einrichtungen geschaltet, und diese Hotline wird von Anrufen geradezu überflutet. Tausende rufen an, nur wenige kommen durch. Am Telefon ist jetzt bei uns Andreas Zimmer, der Leiter des Arbeitsbereichs Beratungsstellen und Telefonseelsorge im Bistum Trier. Dort in Trier laufen die Anrufe ein. Die Bischofskonferenz hat den Ort ausgewählt. Dort sitzen Berater, Seelsorger und Therapeuten, um mit den Opfern zu sprechen. Schönen guten Tag, Herr Zimmer!

Andreas Zimmer: Guten Tag, Herr Müller!

Müller: Zunächst mal: Warum hat die Bischofskonferenz ausgerechnet Trier ausgesucht?

Zimmer: Da müssten Sie die Bischofskonferenz fragen, wobei ich Sie korrigieren muss: In Trier ist nur die Leitzentrale. Von dort aus verschalten wir die Telefonseelsorge an insgesamt zehn Standorte zwischen Ahrweiler und Saarbrücken, wo wiederum die Berater und Beraterinnen in Beratungsstellen sitzen.

Müller: Also Sie wissen gar nicht, warum Sie ausgesucht wurden?

Zimmer: Ich gehe davon aus, dass es mit ein Grund war, dass Bischof Ackermann als Beauftragter benannt wurde und dann halt die Frage war, wo ein entsprechend geeigneter Beratungsdienst in der Nähe angesiedelt werden kann.

Müller: Wie viele Menschen haben denn nun genau angerufen bislang?

Zimmer: Also soweit wir das von der Statistik her sagen können, hatten wir 2670 Anrufer in der vorigen Woche. Zustande gekommen sind dann 394 telefonische Beratungen und 91 Onlineberatungen.

Müller: Haben Sie damit gerechnet, das ist sehr viel, glaube ich, oder?

Zimmer: Ja, das ist sehr viel. Wir sind von den Erfahrungen mit der sogenannten Heimkinder-Hotline, die im Januar diesen Jahres gestartet ist, ausgegangen, aber das hier ist jetzt das fünffache Volumen im Vergleich. Der Vorteil aber bei unserem System war, dass wir dann doch zumindest ein wenig darauf reagieren konnten, das heißt einfach mehr Berater zuschalten und Beraterinnen, aber trotzdem konnten wir nur so um 18 Prozent derer, die angerufen haben, versorgen.

Müller: Also wie funktioniert das? Ich rufe an, wenn ich jetzt Glück habe, durchzukommen, bin ich dann sofort bei einem kompetenten Gesprächspartner?

Zimmer: Das ist das Ziel, wenn nicht direkt der Erste erreicht wird, wird das automatisch auf den Zweiten und Dritten in der Schaltung weitergeleitet, der dann an einer ganz anderen Stelle sitzen kann, aber in jedem Fall einer aus unserem Team von Telefonberaterinnen und -beratern ist.

Müller: Wer sitzt denn da, was sind das für Leute, mit denen dann gesprochen werden kann?

Zimmer: Das sind Psychologen und Sozialarbeiter und Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen, die alle eine entsprechende beraterisch-therapeutische Ausbildung haben, die über Felderfahrungen, das heißt auch jahrelange Berufserfahrungen verfügen, und in den meisten Fällen auch über spezialisierte Ausbildungen im Bereich der Arbeit mit traumatisierten Personen beziehungsweise mit Personen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden.

Müller: Haben die alle einen kirchlichen Hintergrund?

Zimmer: Das sind alles Angestellte der Lebensberatung Bistum Trier, die ja Träger dieses Angebots sozusagen als Dienstleister für die Deutsche Bischofskonferenz ist.

Müller: Wie viel sind denn das überhaupt, die dort sitzen?

Zimmer: Wir haben jetzt elf Personen, die natürlich wechselnd in Schichten in der Telefonberatung tätig sind, und sieben, die in der Onlineberatung tätig sind. Schichten deshalb, weil das eine sehr anstrengende Arbeit ist. Die gehen alle nach den vier Stunden da raus und sind sozusagen erst mal sehr gefüllt mit der Vielfalt der Erfahrungen, der Themen, der Berichte, die ihnen in dieser Zeit Schlag auf Schlag am Telefon oder auch online entgegengebracht wird.

Müller: In Deutschlandradio Kultur spreche ich mit Andreas Zimmer, das ist der Leiter des Arbeitsbereichs Beratungsstellen und Telefonseelsorge im Bistum Trier. Herr Zimmer, die Hotline für die Opfer von sexuellen Übergriffen in katholischen Einrichtungen ist jetzt seit einer Woche geschaltet. Kann man schon sagen, wer dort anruft? Was sind das für Menschen, was erzählen die?

Zimmer: Also in der vorigen Woche waren es vor allen Dingen schwerpunktmäßig Personen, die 45 Jahre und älter waren, der Älteste deutlich über 70. Es sind Personen, die überwiegend zu etwa drei Vierteln Missbrauchsopfer sind oder Opfer von Gewalt oder Angehörige von solchen Missbrauchsopfern, die also in der unmittelbaren Beziehung zu den Betreffenden stehen und wo dann das auch in Familie oder Beziehung hineinwirkt. Wovon sie berichten, ist einmal sexueller Missbrauch in den unterschiedlichsten Schattierungen und dann auch viel über Gewalt. Es sind verhältnismäßig auch viel Anrufe aus dem Heimbereich da, weshalb wir auch auf unserer Internetseite www.hilfe-missbrauch.de noch mal auch auf das Angebot der Heimkinder-Hotline hinweisen.

Müller: Ist die eigentlich noch, die Heimkinder-Hotline, gebührenpflichtig?

Zimmer: Soweit mir bekannt, ist sie noch gebührenpflichtig. Das kann natürlich auch ein Grund sein, warum bei uns vermehrt Personen anrufen, denn wir sind gebührenfrei.

Müller: Wie lange dauert ein Gespräch so im Schnitt, kann man das sagen?

Zimmer: Das Gespräch dauert zwischen fünf Minuten und einer Stunde, das längste, das kommt sehr darauf an. Gerade wenn es Personen sind, die selber von Missbrauch betroffen waren, ist es so, dass die oft sehr akut noch mal das Geschehen derzeit miterleben. Da es sehr häufig Thema ist, wird es sozusagen getriggert, das heißt, es ist dann noch mal ganz gegenwärtig, und die befinden sich zum Teil wirklich in einer Krise und brauchen dann erste Schritte der Stabilisierung und Unterstützung dabei, wie sie die Gefühle noch mal unter Kontrolle kriegen, und Hinweise, wo sie weitere Hilfe finden.

Müller: Also was passiert denn mit den Menschen, die bei Ihnen angerufen haben? Also ich kann mir vorstellen, wenn jemand eine Stunde lang erzählt, was mit ihm oder ihr passiert ist vor vielen, vielen Jahren vielleicht, kann man den denn jetzt so einfach aus der Leitung wieder lassen? Was machen Sie?

Zimmer: Also Hilfen in dem Zusammenhang sind so gewisse Übungen, die zur Stabilisierung dienen, das heißt etwa, dass der Betreffende sich noch mal auf die Gegenwart sehr bewusst konzentriert, dass er versucht, die sich aufdringenden Erinnerungen etwas zurückzudrängen. Da kann man jemanden auch unterstützen, dass man ihm noch mal versucht einfach Adressen auch in seinem Nahbereich zu geben, wo er sich hinwenden kann, weil letztendlich natürlich die Möglichkeiten einer telefonischen Beratung auch wiederum begrenzt sind.

Müller: Ist es denn wirklich so, dass es Leute sind, die sich zum ersten Mal überhaupt öffnen? Also ich kann mir das einfach nicht vorstellen – Sie haben eben gesagt, über 2000 Anrufe, selbst wenn Sie nur mit einem Bruchteil bislang reden konnten, das ist sehr, sehr viel. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diese Menschen nicht schon vorher vielleicht mal Hilfe gesucht haben, vielleicht suchen die ja etwas anderes bei Ihnen auch, als jetzt einfach mal eine Adresse eines Psychotherapeuten zum Beispiel.

Zimmer: Also ein Erstes ist, dass sie wirklich erstmalig – und das ist in sehr vielen Fällen der Fall – darüber reden wollen, weil diese Erinnerungen oder diese Erfahrung von Gewalt werden oft sehr stark verdrängt. Der Mensch will überleben, und das heißt, er lässt das Ganze wegsacken, versucht sein normales Leben weiterzuführen, und dann kommt es irgendwann – und das kann sehr spät sein – noch mal mit voller Wucht zurück. Und es ist dann tatsächlich so, dass manche davon berichten, dass sie zum ersten Mal seit 20 Jahren darüber reden, oder auch, dass ihr Ehepartner oder ihr Vater, wer auch immer, zum ersten Mal seit 20 Jahren oder länger über so eine Erfahrung mit ihnen redet.

Müller: Wie gehen Sie eigentlich persönlich mit dieser Flut um, und wie gehen die Therapeuten damit um? Ich meine, es ist ja wirklich, da haben sich ja offensichtlich Schleusentore geöffnet, das hat so niemand erwartet, Sie auch nicht. Sind Sie wütend, wie sehen Sie auf einmal die Institution Kirche? Da ist ja jetzt wirklich sehr, sehr viel plötzlich infrage gestellt – gerade zu Ostern, wo auch dann der Papst beredt geschwiegen hat, kein Wort zu den Geschichten hat fallen lassen.

Zimmer: Also man muss ja sehen, wir alle stammen aus der Beratungsarbeit, und wenn Sie in Beratungsstellen arbeiten, bekommen Sie sowieso viel mit, was hinter der Bühne unserer oft glatt wirkenden Gesellschaft in Wirklichkeit in Familien, in Schicksalen von Einzelnen los ist. Und insoweit ist es dann zunächst einfach ein professionelles Umgehen mit den Gefühlen und mit diesen Überschwemmungen. Das heißt, man muss selber aus diesem ganzen Erzählen rauskommen, sich selber depriven oder aus dem bei sich selber auflaufenden Gefühlsstau rauskommen. Und ich glaube, wir alle werden erst nach einem halben Jahr oder so noch mal richtig ins Nachdenken kommen, wenn wir unseren Dienst länger getan haben.

Müller: Sie haben ja eben die Therapeuten geschildert, die nach vier Stunden dort rausgehen und selber ziemlich fertig sind. Jetzt brauchen Sie eigentlich schon ja wieder eine Betreuung für die.

Zimmer: Na ja, es ist ja so, dass sie alle in Beratungsteams angebunden sind, das heißt, zum Konzept gehört, dass die auch Supervision und kollegiale Beratung zur Verfügung haben, und wir telefonieren jeweils nach den Schichten miteinander und untereinander, damit man das ein Stück weit bearbeiten kann. Es sind übrigens nicht nur Erfahrungen aus dem kirchlichen Bereich, sondern es nutzen auch Menschen die Hotline, die Missbrauchserfahrungen gar nicht im Bereich der Kirche gemacht haben.

Müller: Wie geht es weiter mit dieser Hotline? Also sie scheint mir ja ein bisschen unterdimensioniert zu sein, wenn da so wenig letztlich durchkommen, die anrufen. Wie lange bleibt sie noch geschaltet, wird sie vielleicht ausgebaut auch noch, wie ist die Zukunft?

Zimmer: Also die Planung geht davon aus, dass wir zunächst als Zielvorgabe von der Bischofskonferenz den September nächsten Jahres haben. Wir haben vom System her, wie ich eben gesagt habe, es so aufgebaut, dass wir Leute dazuschalten können – das ist jetzt natürlich durch Urlaubszeiten und so was, hat das seine Grenzen, aber wir können im Prinzip flexibel auf den Bedarf reagieren und werden versuchen, entsprechende weitere Berater zuzuschalten und im Auge halten, wie viele durchkommen und wie viele auf Dauer dann sich an die Hotline wenden.

Müller: Das war Andreas Zimmer, das ist der Leiter des Arbeitsbereichs Beratungsstellen und Telefonseelsorge im Bistum Trier. Ich will die Nummer der kostenlosen Hotline einmal nennen, die ist dienstags bis donnerstags geschaltet von 13:00 Uhr bis 20:30 Uhr. Die Nummer lautet: 0800 120 1000.
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