Zum 125. Geburtstag des Philosophen

Walter Benjamin und sein Berlin

Walter Benjamin
Walter Benjamin (1892–1940) © dpa / picture alliance / Heinzelmann
Von Matthias Kußmann · 11.07.2017
Berlin ist in den 1920er-Jahren der wichtigste Ort der Moderne in Europa. Fasziniert von der pulsierenden Metropole durchstreifte Walter Benjamin die Stadt und schrieb und erzählte von seinen Eindrücken und Erlebnissen.
"Sich in einer Stadt nicht zurechtfinden heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung …"
Walter Benjamin liebte Berlin. Tage und Nächte lang flanierte er durch die Stadt. Er sah, wie die Leute in ihren Vierteln lebten, nahm wahr, was sich änderte - und verirrte sich lustvoll.
"Berlin ist in den 20er-Jahren einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Ort der Moderne in Europa gewesen."
Der Germanist Detlev Schöttker hat in einem Buch alle Texte Benjamins über Städte gesammelt.
"Alles, was an Entwicklungen der Moderne stattgefunden hat, hat in Berlin seinen Ausdruck gefunden. Wenn man nur an die Zusammenballung von Menschen denkt, die Entwicklung der Technik ... der Bau von Mietskasernen, aber auch das Leben in Restaurants, in Cafés, die Explosion des Buchmarktes, der Buchhandel, die Verlage, die Theater. Alles das hat Benjamin natürlich interessiert, an allem hat er teilgenommen."
Walter Benjamin war ein großer Denker des 20. Jahrhunderts. Er lebte 40 Jahre in Berlin, schrieb über die Stadt und erzählte im Radio von ihr. Doch der Senat tat sich nach seinem Tod lange schwer damit, an ihn zu erinnern. Es gibt keine Benjamin-Straße oder -Schule.
"Warum man nach Walter Benjamin nicht schon mal eine Straße benannt hat, ist mir rätselhaft. Es gibt eine Gedenktafel an dem Haus in der Prinzregentenstraße 66 in Wilmersdorf für ihn. Das war aber eine Wohnung, die er erst sehr viel später, als Erwachsener bezogen hat. Zuletzt wohnten die Eltern im Grunewald, da gibt es nichts, und in dem Tiergarten-Lützow-Viertel, wo es ja mehrere Stellen gibt, die mit Walter Benjamin zu tun haben, gibt es auch nichts."

Der falsche Platz für Benjamin

… sagt der Stadtforscher Klaus Gaffron. Erst 2001 wurde nördlich des Kurfürstendamms der Walter-Benjamin-Platz eingeweiht, ein spätes Gedenken. Klaus Gaffron steht am Rand des Platzes. Er schaut auf eine weite Fläche und graue, nüchtern-moderne Fassaden.
"Wir sind auf dem Walter-Benjamin-Platz in Charlottenburg. Der Walter-Benjamin-Platz hat nichts, überhaupt gar nichts mit Walter Benjamin zu tun."
… weil ihn mit diesem Viertel nichts verband. Die Wohnung der Familie und das Gymnasium lagen einige Straßen weiter.
"Die Randbebauung selbst ist ganz vernünftig, mit bestimmt auch attraktiven Wohnungen. Das Problem ist diese Leerfläche dazwischen. Denn sie ist völlig versiegelt, was man heute überhaupt nicht mehr machen würde. Der Platz ist letztlich eine Schneise und keine Piazza, wie es eigentlich sein soll. Wenn wir etwas weiter auf dem Platz gestanden hätten, hätten wir das Pfeifen des Windes gehört."
Nur einen kleinen Bezug zu Benjamin gibt es:
"Das Format dieses Innenplatzes am Walter-Benjamin-Platzes ist sehr ähnlich dem Format der Markthalle vom Magdeburger Platz, wo er gewohnt hat, die er gern besucht hat und über die er auch geschrieben hat."
Eine zufällige Ähnlichkeit – die zu Benjamins Denken passt. Er schloss gern vom Unscheinbaren auf Großes, und stellte überraschende Bezüge zwischen Menschen, Dingen, Orten und Zeiten her. Er spekulierte, improvisierte, widersprach sich auch – ein Bruch mit der strengen System-Philosophie des 19. Jahrhunderts.
"Immer radikal – niemals konsequent …"
… war sein Motto. – Walter Benjamin wird am 15. Juli 1892 am Magdeburger Platz 4 in Berlin geboren, als Kind assimilierter Juden, sein Vater ist Kunsthändler.
"Hier stand früher das Geburtshaus von Walter Benjamin, heute steht dort ein gesichtsloser Neubau. Hier am Platz sind nur noch zwei Häuser auf dieser Seite erhalten geblieben, die aus der alten Zeit stammen. Diesem Geburtshaus direkt gegenüber auf dem Magdeburger Platz stand die Markthalle."
Die scheint das Kind beeindruckt zu haben. In Benjamins Buch "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" heißt es:
"Hinter Drahtverschlägen, jeder behaftet mit einer Nummer, thronten die schwerbeweglichen Weiber, (…) Marktweiber aller Feld- und Baumfrüchte, aller essbaren Vögel, Fische und Säuger, Kupplerinnen, unantastbare strickwollene Kolosse, welche von Stand zu Stand miteinander, sei es mit einem Blitzen der großen Knöpfe, sei es mit einem Klatschen auf ihre Schürze, sei es mit einem busenschwellenden Seufzen, verkehrten. Brodelte, quoll und schwoll es nicht unterm Saum ihrer Röcke, war nicht dies der wahrhaft fruchtbare Boden?"
"Die Markthalle ist im Krieg zerbombt worden und wurde erst zwölf Jahre später abgeräumt. Dann war es hier ein grüner Platz zum Ausruhen und Erholen, heute zwitschern hier auch wieder die Vögel."
Vom Magdeburger Platz zieht die Familie in die Kurfürstenstraße, ebenfalls Tiergarten. Das Haus mit der hellroten Sandstein-Fassade ist heute fast unverändert – und über 100 Jahre im Besitz derselben Familie. Einer der Eigentümer führt uns die Treppen hoch.
"Der zweite Stock, in dem die Familie Benjamin gewohnt hat, das ist übers ganze Geschoss vermutlich die Wohnung gewesen, das sind ca. 270 qm. Die haben auch eine hohe Decke mit 3,80 gehabt, große Berliner Doppeltüren zwischen den Räumen."
Damals waren die Wände mit dunklem Stoff bespannt, teilweise auch die Türen. Heute sind die Räume licht, Türen und Wände weiß. Doch der edle Parkettboden ist geblieben, genau wie der Stuck an den Decken und die Türen. Auch an der Aufteilung der Räume hat sich nichts geändert.
"Damals wurde sehr opulent gebaut, das heißt, wir haben hier Fluchten von drei großen, mit Tafelparkett ausgelegten Räumen, auch große Erker und Balkone. Nach hinten sind dann die Bereiche, wo auch der Dienstboten-Aufgang war."
Da die Räume fast vier Meter hoch waren, gab es unter der Decke von Bad und Küche etwa 1 Meter 50 hohe Boxen, wo die Bediensteten hausten.
"Ich kenn Dienstbotenkammern, die sehr schmal sind, wie Toiletten auch, einen Meter 40 breit und vier Meter tief oder so. Aber dass man die auf die Hängeböden geschoben hat, die Dienstboten, das find ich allerhand, hab ich noch nicht gesehen. Er beschreibt das auch, Benjamin, dass er zu einer Gesellschaftsschicht gehörte, als Kind selbstverständlich, wo die armen Leute ‚Bettler‘ sind."
"Die Armen – für die reichen Kinder meines Alters gab es sie nur als ‚Bettler‘. (…) Und es war ein großer Fortschritt der Erkenntnis, als mir zum ersten Mal die Armut in der Schmach der schlecht bezahlten Arbeit dämmerte."

Begegnungen mit Bloch und Adorno

Im Studium beschäftigt sich Benjamin mit Geschichte und Sprache, Religion, Ästhetik und Kunstgeschichte – Themen, über die er auch schreibt. Der Plan, eine Zeitschrift für "freie Geister" zu gründen, scheitert, genau wie der einer akademischen Karriere. Benjamin wird freier Autor und schreibt vor allem für die Presse. Er trifft Denker, die dem Marxismus nahestehen, wie Ernst Bloch und Theodor W. Adorno.
"Und dann kommt halt dazu, dass er sich in eine Kommunistin verliebt, Asja Lacis, die er dann auch in Moskau besucht, und die Situation sich eben polarisiert."
Der Benjamin-Biograf Lorenz Jäger.
"Er geht nicht in die Kommunistische Partei, aber er ist im Grunde doch ein treuer, wenn auch manchmal unorthodoxer Parteigänger der Kommunisten und bleibt es auch sehr lange."
1928 erscheint Benjamins Buch "Einbahnstraße". Er fragt: Wie verändert sich das Leben in der Moderne in Großstädten? Und wie das Schreiben? Er plädiert für Flugblätter oder Plakate, die Meinungen verbreiten – nur damit könne man das Bewusstsein der Masse ändern:
"Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirklich gewachsen. Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muss."
"Benjamin verliert einen großen Teil seines Vermögens durch die Weltwirtschaftskrise. Da bekommt er die Chance, für den Rundfunk zu arbeiten – und weiter gesellschaftliche Themen anzusprechen."
"Dem folgte dann eine sehr intensive Arbeitsphase von 1929 bis etwa 1932/33, wo er sowohl im Südwestdeutschen Rundfunk als auch in der Berliner Funkstunde regelmäßig Beiträge sowohl produziert als auch selbst gesprochen hat."
Die Germanistin Anja Nowak hat einen Band mit den Hörfunktexten Benjamins mit herausgegeben.
"Er stand in der Zeit 80 Mal mindestens vorm Mikrofon und hat unzählige Sendungen selbst produziert. Er hat Literaturvorträge gemacht, Gespräche, Hörspiele und Sendungen für Kinder."
Leider ist keine Aufnahme seiner Stimme erhalten. – In der "Berliner Jugendstunde" spricht er über soziale Themen – in einer neuen, unkonventionellen Art, etwa über die sprichwörtliche "Berliner Schnauze":
"Jeder von euch kennt natürlich eine Menge Geschichten, wo diese Schnauze so weit aufgerissen wird, dass das Brandenburger Tor darin Platz hätte ..."
"Er bindet die Kinder in die Vorträge ein, bezieht sich auf ihren Kenntnisstand. Er spricht zum Beispiel von den Mietskasernen, von denen er denkt, er müsse ihnen wahrscheinlich nichts davon erzählen – weil, leider wissen sie ja, wie die aussehen … Er fordert sie auf, raus zu gehen in die Stadt und selber zu erkunden und aktiv zu werden."

1933 geht Benjamin nach Paris

Als Jude und Kommunist geht Benjamin 1933 ins Pariser Exil. Dort schreibt er am "Passagen-Werk" weiter, zu dem er tausende Notizen hinterlässt.
"Seit Ende der 20er-Jahre verfolgt er im Grunde mehrere Linien, sich Paris zu nähern. Als Übersetzer von Proust und vorher schon von Baudelaire. Und dann mit dem Projekt dieser, ich weiß gar nicht, wie man´s nennen soll, Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Baugeschichte, Revolutionsgeschichte der Stadt Paris im 19. Jahrhundert."
Doch er schreibt in Paris auch "Berliner Kindheit um 1900": Erinnerungen an Rätsel, Ängste und den Zauber einer Kindheit – etwa Besuche bei der Großtante, sie wohnte Steglitzer/Ecke Genthiner Straße.
"In jede Kindheit ragten damals noch die Tanten, die ihr Haus nicht mehr verließen, die immer, wenn wir mit der Mutter zu Besuch erschienen, auf uns gewartet hatten, immer unter dem gleichen schwarzen Häubchen und im gleichen Seidenkleide, aus dem gleichen Lehnstuhl, vom gleichen Erkerfenster uns willkommen hießen."
"Wir stehen in einer Straße, die es nicht mehr gibt, vor einem Haus, das es nicht mehr gibt. An der Genthiner Straße endete früher die Steglitzer Straße, die heute Pohlstraße heißt. An dieser Stelle steht jetzt Möbel Hübner, bitte keine Schleichwerbung, und die ganze großbürgerliche Gegend, die hier mal war, ist in der Genthiner Straße kaum noch zu erkennen."
Doch in Benjamins Buch ist sie aufgehoben. 1940 marschieren die Deutschen in Paris ein. Benjamin versucht illegal über die französisch-spanische Grenze zu kommen, und dann über Portugal in die USA. Vergeblich. In der Nacht vom 26. auf 27. September nimmt er sich das Leben.
"Das Merkwürdige ist, dass er ja schon 1913/14 ein kleines Stück schreibt, das heißt ‚Metaphysik der Jugend‘, da finden wir den Satz: ‚Der also Leidende entsann sich seiner Kindheit. Damals war noch Zeit ohne Flucht und Ich ohne Sterben.‘ Und jetzt ist die Zeit der Flucht da und die Zeit des Sterbens. Das ist ja wie eine erfüllte Prophezeiung, furchtbar erfüllte Prophezeiung, die er sich da gestellt hat."
Walter Benjamins Philosophie hat vor allem die "kritische Theorie" um 1968 beeinflusst. Doch das Interesse an seinem Werk ist bis heute geblieben. Um seinen Nachlass kümmert sich das Benjamin-Archiv der Berliner Akademie der Künste.
"Es gibt vom Studenten, der Studentin über Doktoranden bis hin zu Professorinnen und Professoren Leute, die hierher kommen und sich mit Benjamins Schriften beschäftigen. Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die herkommen und die Manuskripte anschauen wollen oder die Scans, um daraus was zu machen. Also ganz unterschiedliche Projekte, die hier entstehen, oder ein Teil davon entsteht hier."
… erklärt die wissenschaftliche Mitarbeiterin Nadine Werner.
"Dann ist natürlich auch das Benjamin-Archiv selbst mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Teil der Benjamin-Forschung. Im Moment wird hier an der neuen Benjamin-Ausgabe mitgearbeitet, Werk und Nachlass."
Derzeit entsteht auch eine kommentierte Ausgabe der "Berliner Kindheit".
"Was Benjamin sehr gut trifft mit diesen Texten ist eine bestimmte Art kindlicher Wahrnehmung. Dinge, die man vergessen hat aus seiner Kindheit, und wofür er einen ziemlich guten Blick hat. Wie so ein Kind die Welt wahrnimmt, wofür es sich interessiert und was sich später verliert mit dem Erwachsenwerden."
"Es war ein dunkles, unbekanntes Berlin, das sich im Gaslicht um mich ausbreitete. Wir blieben im Bereich des alten Westens (…). In den Fassaden aber war Licht zu sehen, das auf ganz eigene Weise seinen Weg in die Fenster nahm. Es hatte es nur mit sich selbst zu tun und legte sich, verführerisch doch schüchtern, in die Fenster. Es zog mich an und stimmte mich nachdenklich …"
Literaturhinweise:
Bücher von Walter Benjamin:
- "Berliner Kindheit um 1900", Suhrkamp Verlag
- "Einbahnstraße", Suhrkamp Verlag
- "Über Städte und Architekturen", Hrsg. von Detlev Schöttker. Verlag DOM Publishers
- "Hörfunkarbeiten", Hrsg. von Thomas Küpper und Anja Nowak, Suhrkamp Verlag
Über Benjamin: - Lorenz Jäger: "Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten", Rowohlt Verlag
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