Zum 100. Geburtstag von Paul Celan

Die Todesfuge in Tönen

54:50 Minuten
Das undatierte s/w-Porträt aus den 1960er Jahren zeigt den Lyriker Paul Celan (1920-1970). Der deutschsprachige Künstler aus Rumänien wurde bekannt durch die 1952 erschienene Gedichtesammlung "Mohn und Gedächtnis".
Sehr viele Komponisten verschiedener Generationen vertonten Werke Paul Celans © picture alliance / Richard Koll
Von Albrecht Dümling · 20.11.2020
Paul Celan gehörte zu den zum meistvertonten Lyrikern des 20. Jahrhunderts. Komponisten wie Aribert Reimann und György Kurtag ließen sich von Celans bildstarken Texten zu Vertonungen anregen.
Als Paul Antschel war der Dichter Paul Celan am 23. November 1920 in Czernowitz zur Welt gekommen. Diese heute in der Ukraine gelegene Hauptstadt der Bukowina, in der fast die Hälfte der 100.000 Einwohner Juden waren, galt ihnen damals als "Klein-Wien". Bis zum 1. Weltkrieg hatte die Stadt zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie gehört. Nach dem Krieg kam die Bukowina zu Rumänien.

Dennoch sprach man in der jüdischen Familie Antschel weiterhin Deutsch. Ihr Sohn Paul absolvierte in Czernowitz sein Abitur, bis die Region 1940 infolge des Hitler-Stalin-Pakts an die Sowjetunion fiel.
Verwitterte Grabsteine auf dem jüdischen Friedhof  in Czernowitz, Polen.
Der jüdische Friedhof in Czernowitz - nur wenige jüdische Einwohner der Region entkamen der Verfolgung und Ermordung durch die Deutschen und ihre Verbündeten.© Deutschlandradio / Sabine Adler
Ein Jahr später marschierten Truppen der deutschen Wehrmacht ein und begannen, die Juden zuerst in ein Ghetto zu treiben, um sie dann zu deportieren und zu ermorden.
Zu den Opfern gehörten 1942 auch die Eltern des Dichters. Ihr Sohn kam in ein rumänisches Arbeitslager, aus dem er im Februar 1944 entlassen wurde. Im Juli 1944 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Majdanek bei Lublin im heutigen Polen und ließ danach Details über die deutschen Verbrechen veröffentlichen. Dabei erfuhr Paul Antschel auch, dass in diesem Lager Musikkapellen aufspielen mussten.

Neue Lebensstationen und die "Todesfuge"

Nach der Entlassung aus dem Arbeitslager war Paul Antschel nach Czernowitz zurückgekehrt. Hier begann er die schockierenden Nachrichten, die Verbindung von Folterung und Mord mit Musik, in einem Gedicht zu verarbeiten. Als er im April 1945 nach Bukarest zog, stellte er hier diese Dichtung fertig. Im Mai 1947 erschien sie in einer rumänischen Zeitschrift unter dem Titel "Tangoul Mortii" - "Todestango".
Bei der Veröffentlichung dieses Gedichts 1947 in Bukarest verwendete der Autor zum ersten Mal den Künstlernamen Paul Celan. Noch im gleichen Jahr übersiedelte er nach Wien und wenige Monate später nach Paris, wo er an der Sorbonne Germanistik und Linguistik studierte. Hier stellte er seine erste Gedichtsammlung zusammen, die unter dem Titel "Der Sand aus den Urnen" 1948 in kleiner Auflage in Wien herauskam. Den Abschluss bildete der "Todestango", jetzt mit der Überschrift "Todesfuge".

Ein Besuch in Paris

Der wohl erste Komponist, den Celans Lyrik zum musikalischen Schaffen anregte, war Aribert Reimann. 1936 in Berlin geboren, hatte er im Krieg seinen einzigen Bruder verloren. Nach dem Abitur begann er 1955 mit dem Studium an der Hochschule für Musik im Westteil Berlins. Zu seinen Lehrern gehörten neben Boris Blacher und Ernst Pepping auch der Komponist Heinz Friedrich Hartig, der im Krieg schwer verwundet worden war. Ab 1956 wurde Reimann regelmäßiger Klavierpartner so bekannter Sänger wie Ernst Haefliger. Für ihn schrieb Reimann seine ersten Celan-Lieder.
Der Komponist, Pianist und Musikwissenschaftler Aribert Reimann in seiner Wohnung in Berlin-Charlottenburg (fotografiert am 26.02.2016).
Der Komponist Aribert Reimann erinnert sich noch sehr gut an seine Begegnung mit Paul Celan.© picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Im Frühjahr 1957 zur ersten Begegnung des Dichters mit ihm als damals 21-jährigem deutschen Musiker sagt Reimann: "Das war wirklich sehr, sehr schön. Da war gerade sein Sohn geboren, Eric; ich glaube, der war damals zwei Jahre alt. Und Gisèle Celan-Lestrange, die Malerin, war dabei und eben Edith. Dann haben wir gesprochen, und dann, am Ende dieses Gesprächs, kam Paul Celan zu mir und gab mir ein Gedicht: 'Tenebrae'. Und das hatte er gerade gedichtet, das war noch auf einem DIN-A4-Blatt, noch gar nicht veröffentlicht. Und er hat mich gebeten, das zu komponieren."
Der Lyriker Paul Celan mit seiner Frau, der Grafikerin Gisèle Lestrange. Um 1960.
Die Grafikerin Gisèle Lestrange begleitete ihren Ehemann Paul Celan bei manchen seiner Treffen mit Komponisten.© picture alliance / IMAGNO / Votava
Seine Celan-Vertonung "Tenebrae" schuf Reimann dann im November 1959 in kürzester Zeit. Wenig später ergänzte er den Zyklus um vier weitere Gedichte.

Heimlich weitergereicht

Im August 1966 berichtete der DDR-Komponist Tilo Müller-Medek dem Dichter, dass er dessen "Todesfuge" für Sopran und 16-stimmigen Chor komponiert habe. Dadurch wolle er dazu beitragen, das in der DDR noch ganz unbekannte Gedicht zu verbreiten. Wenige Monate später informierte Medek den Dichter über weitere Vertonungen von dessen Lyrik, die im zweiten deutschen Staat in Abschriften kursierte.
Celan hat sich über diesen Brief und die heimliche Verbreitung seiner Lyrik sehr gefreut. Ein halbes Jahr später erfuhr er von Müller-Medek, dass dessen "Todesfuge" im September 1967 beim Holland-Festival uraufgeführt worden war. Obwohl das Werk beim Internationalen Kompositionswettbewerb der Stiftung Gaudeamus einen Preis erhalten hatte, durfte ihr Urheber zu dem Konzert nicht anreisen.

Karg und rätselhaft

Aribert Reimann und Tilo Medek waren nicht die einzigen Komponisten, auf welche Celans Lyrik eine geheimnisvolle Anziehungskraft ausübte. Auch ihre Kollegen Luciano Berio, Harrison Birtwistle, Hans-Jürgen von Bose, Paul-Heinz Dittrich, Erhard Grosskopf, Heinz Holliger, Nicolaus A. Huber, György Kurtag, René Leibo-witz, Wolfgang Rihm, Peter Ruzicka, Christfried Schmidt und Jacques Wildberger fühlten sich zu diesen Texten hingezogen. Neben der kargen, rätselhaften Sprache, neben den musikalischen und literarischen Anspielungen in seinen fragmentarisch wirkenden Gedichten war es vor allem Celans Grundthema, das sie anzog.
Aribert Reimann: "Also, erst einmal war es die ganze Welt, die dahinter steht mit dem Holocaust und alles das. Das ist etwas, was man nicht begreifen kann, das kann keiner begreifen. Das hatte mich verfolgt seit meiner Pubertät, seit meiner Kindheit, alles, was so durchsickerte, was man erfuhr. Und diese Auseinandersetzung, die war bei keinem Dichter so explizit, aber poetisch verformt und auch abstrahiert wie bei Celan."
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