Zukunftsaussichten junger Tunesier

Lieber Schleuser als Fischer

Aus dem Hafen von El Kraten auf den tunesischen Kerkennah-Inseln legen auch Schleuserboote ab.
Aus dem Hafen von El Kraten auf den tunesischen Kerkennah-Inseln legen auch Schleuserboote ab. © Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Von Anne Françoise Weber  · 27.06.2018
Weil die Industrie das Meer verschmutzt, fangen sie immer weniger Fische. Also träumen die tunesischen Fischer der Kerkennah-Inseln den Traum von Europa. Oder sie verdienen an den Träumen der anderen – auch wenn sie um die tödliche Gefahr wissen.
Im Hafen von El Kraten auf Kerkennah sitzt der Fischer Neji Khidr mit seinen Kollegen im Café und deutet nach Nordosten – nur 120 km entfernt von hier liegt Lampedusa, für manche das gelobte Land:
"Es gibt viele Probleme. Die Leute haben so viel gelitten. Wir haben keine Energie mehr. Sie haben uns das Meer zerstört. Deswegen sitzen wir hier und beschweren uns."
Der tunesische Fischer Neji fängt immer weniger in seinen Netzen vor den Kerkennah-Inseln.
Der tunesische Fischer Neji fängt immer weniger in seinen Netzen vor den Kerkennah-Inseln.© Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Die Fischer klagen über immer weniger Ertrag – weil manche hier illegal mit Trawlern fischen, weil die Fangquoten nicht respektiert werden und weil die benachbarte Erdölindustrie das Meer verschmutzt und die Fische sterben lässt. Nejis Freund Selim Al-Cheikh kann gut verstehen, wenn manche da lieber Menschen nach Europa bringen:
"Einer von hier ist zweimal aus Italien zurückgekommen. Denn er hat 5000 Dinar, also rund 1600 Euro verdient als Kapitän einer Überfahrt. Er bringt die Leute hin, geht zur tunesischen Botschaft und lässt sich abschieben. Dann verbringt er 14 Tage im Gefängnis, muss zahlen, was das Tunesien gekostet hat, kommt dann frei und lebt sein Leben weiter."

Bootskatastrophe im Juni 2018 mit vielen Toten

Selim hat auch großes Verständnis für alle, die sich auf den Weg machen – zu ungerecht seien die Verhältnisse.
"Ein Tunesier hat nichts, keine Arbeit, kein Geld. Er träumt von Europa und denkt, zu Recht oder zu Unrecht, dass es dort alles gibt. Was soll er tun? Europa lässt ihn nicht rein. Also geht er an Bord eines Bootes. Er weiß: Die Chancen sind 10 Prozent, dass er überlebt und 90 Prozent, dass er ertrinkt. Und trotzdem geht er. Es gibt Mütter, die verkaufen ihren Goldschmuck, ihr Land und was noch alles, um ihrem Sohn das Ticket für so ein Unglücksboot zu kaufen. Er geht an Bord und kommt um."
Seit der Bootskatastrophe von Anfang Juni wurden die Kontrollen beim Zugang auf die Insel verschärft, Polizisten entlassen sowie ein angeblicher Drahtzieher festgenommen. Die Schleuser und ihre Klientel haben sich nach Sfax zurückgezogen, der Stadt auf dem Festland gegenüber den Kerkennah-Inseln. Anis Basteuri, ein junger Mann aus Sfax, kennt viele, die die Überfahrt versuchen wollen oder schon versucht haben. Ihn selbst hat ein Konferenzbesuch in Deutschland davon überzeugt, dass die Flucht ohne Papiere keine gute Idee ist – zu elend schien ihm das Leben der Flüchtlinge dort. Aber er weiß, wie die Sache funktioniert:
"Jeder, der auf eine Fähre nach Kerkennah geht, wird kontrolliert. Auf dem Unglücksboot waren fast 20 Ausländer. Normalerweise werden solche Leute aus dem Irak oder dem südlichen Afrika angehalten. Auch bei der Ankunft auf Kerkennah gibt es eine Kontrolle. Sie sind also zweimal durch eine Polizeikontrolle gekommen. Und normalerweise fahren nicht alle mit einem Boot, um kein Aufsehen zu erregen. Hier sind 120 oder 140 auf einem Boot unterwegs gewesen. Das war organisiert von der Polizei, den Schleusern und den Flüchtlingen. Es gibt viel Korruption. Jetzt wollen sie auf Kerkennah vier neue Polizeistationen einrichten – aber sie könnten auch 20 einrichten, das löst das Problem nicht. Es gibt immer noch Korruption, auf Kerkennah ebenso wie in Sfax."

Viele werden trotzdem die Überfahrt wagen

Und diese Netzwerke werden auch weiter Kunden finden – das bestätigt auch ein junger Mann in Sfax, der sich lieber nur Fulan nennen lassen will. Er war schon in der Türkei, in Syrien, Italien und Österreich. Und ist sich sicher, dass noch sehr viele Tunesier die Überfahrt versuchen werden:
"Für eine grundsätzliche Lösung müssten die unterentwickelten Staaten fortschrittlich werden. Das ist eine internationale Frage. Heute ist Kerkennah die erste Adresse für die Überfahrt. Wenn sie da jetzt die Sicherheitskräfte verstärken, um die Migration zu stoppen, dann wird es Mehdia werden. Wenn sie dort eine Lösung finden, dann wird es Sousse, dann Gabès, dann irgendeine andere Küstenstadt. Weil es keine grundsätzliche Lösung gibt."
Der junge Atef sagt, er könne nicht mehr in Tunesien leben. 
Der junge Atef sagt, er könne nicht mehr in Tunesien leben. © Deutschlandradio / Anne Françoise Weber
Genauso sieht es auch Atef Miladi. Er hat vor einem Jahr von den Kerkennah-Inseln abgelegt, zusammen mit sieben Freunden. Nach drei schlimmen Tagen auf dem Meer war er eine Woche ohne Papiere in Italien, dann wurde er erwischt, in ein geschlossenes Flüchtlingszentrum gebracht und nach sechs Monaten schließlich abgeschoben. Aber in Tunesien wisse er nicht einmal, wo er wohnen soll, erklärt der 25-Jährige. Es sei nicht auszuhalten in diesem Land. Alle würden ihn zum Auswandern ermutigen. An seinem Entschluss, es irgendwann noch einmal übers Meer zu versuchen, ändert auch das letzte Unglück mit den vielen Toten nichts.
"Andere sind angekommen. Viele. So was gehört dazu, das ist Schicksal."
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