Zukunft heute erkennen

Von Peter Kaiser · 28.06.2008
Einen kleinen Blick in die eigene Zukunft werfen - wer würde das nicht gerne? Schon immer suchten die Menschen nach Antworten, nach Halt in einer an Orientierungen armen Welt und wandten sich an Wahrsager oder befragten Orakel. Nicht selten endet das mit Enttäuschungen und möglicherweise einer neuen Sicht der heiligen Schrift.
Bangalore-Indien. Ort: Eine der rätselhaftesten Bibliotheken der Menschheit, eine Palmblattbibliothek.

Olaf Schreiber: "Wir wollten das überprüfen, sind selbst sehr interessiert an solchen Dingen, Akasha-Chroniken, Spiritualität, sind selbst Suchende."

Vor einigen Jahren suchte Olaf mit zwei Freunden in Bangalore Antworten auf die Frage, die jeder Mensch hat: Was wird aus mir in der Zukunft?

"Also wir kommen hin. Das ist ein verqualmtes Wartezimmer mit einem laufenden Fernseher. Und irgendwann bittet uns der Übersetzer des Palmblattlesers, der auf Alttamil die Palmblätter verlesen wird, in den Raum, und dann kommt der Palmblattleser, der etwas dicklich, aber irgendwie mit einer ganz beeindruckenden Aura versehen, und einen Stapel Palmblätter vor sich liegen hat, die er als sozusagen ersten Schwung prüft, ob unseres dabei ist. Nach Datum ausgewählt."

Vor etwa 5000 Jahren, heißt es, warf der hinduistische Prophet Bhirgu einen Blick in die magischen Himmelsarchive, die sogenannten "Akasha-Chroniken". Diese Chroniken, heißt es, bergen die Schicksale aller Menschen zu allen Zeitaltern. Der Prohet Birghu wählte die Schicksale von 80.000 Menschen aus, und schrieb sie auf getrocknete Palmblätter.

Olaf Schreiber: "Ungefähr so eineinhalb Bleistiftlängen könnte man sagen, dreißig Zentimeter lang, vielleicht vier Zentimeter hoch. Das ist ein relativ haltbares Material, was doch alle paar hundert Jahre erneuert werden muss, das heißt, die Palmblätter werden alle paar hundert Jahre neu abgeschrieben."

Ob die sagenhaften indischen Akasha-Chroniken, das Monumental-Heiligtum Stonehenge, die Maya- und Inka-Tempel, das legendäre Orakel in Delphi - zu allen Zeiten wagten Menschen den vermeintlichen Blick in die Zukunft. Trotz des eindeutigen Verbotes Gottes:

"Das nicht jemand unter dir gefunden werde, der Wahrsagerei, der Hellseherei, geheime Künste oder Zauberei treibt (…) denn wer das tut, der ist dem Herrn ein Greuel." (5. Buch Moses)

Friedman Eißler: "Das Orakel ist ja eine ganz grundlegende Methode, geradezu methodisch in ein Ritual gefasst, oft die Idee mit Gott in Kontakt zu kommen, in Kommunikation zu treten. Und das wurde zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedlich gehandhabt. Das gab es im alten Israel, wie es in alten Religionen selbstverständlich gab."

Friedman Eißler, wissenschaftlicher Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW, in Berlin:

"Im alten Orient zum Beispiel war die Schau des Eingeweides von Opfertieren sehr gängig, ja. Das Orakel von Delphi natürlich später auch, aber schon in alten Zeiten die Eingeweideschau oder der Vogelflug. Und diese Deutungen von natürlichen Vorgängen oder Zuständen im Blick auf Fragen, die die Zukunft bewegen, das hat die Leute natürlich auch bewegt, das hat Menschen auch immer bewegt. Man wollte Fragen stellen, und Antworten hat man gesucht auf die Fragen, die man nicht beantworten konnte."

Als Prophetie bezeichnet man die Verkündigung von heil- oder unheilvollen zukünftigen Ereignissen. Ein Prophet, Seher oder auch Orakelempfänger wird dabei durch eine Gottheit inspiriert oder beauftragt, Zukünftiges mitzuteilen. Immer schon gab es Propheten und Orakel. In den fünf Büchern Mose etwa gilt Abraham, der Stammvater Israels, als Prophet.

Die Lichtenden und die Schlichtenden, Urim und Tumin, hießen die hebräischen Steine oder Stäbe, die die alt-israelischen Hohepriester für ihre Orakel benutzten.

Friedman Eißler: "Der hatte ein vornehmes Festgewand, das er tragen musste, wenn er im Dienst war. Und da gab es diesen Brustschild, zwölf Stämme Israels, zwölf Steine für die zwölf Stämme, und da waren diese Steine mit dabei. Mit denen Gott befragt werden konnte, je nachdem, ob das eine Ja- oder Nein-Antwort war durch diese zwei Steine, weiß man nicht genau, konnte das dann verwendet werden. Und fand auch Verwendung. Also ein positive Aufnahme von Orakeln."

Nimmt man sich eine Liste von Weissagungstechniken hervor, die es schon in Urzeiten gab, so staunt man über deren Vielfalt. Etwa die Ceromantie, die das Wahrsagen mit Wachsgebilden meint. Diese entstehen, wenn geschmolzenes Wachs in kaltes Wasser fällt.

Doch auch die Hippomantie gab es, das Wahrsagen durch die Gangart der Pferde. Und die Alphitomantie - das Wahrsagen durch Verzehren speziellen Gerstenbrotes. Bei der Axinomantie wurde ein Stein auf einer glühenden Axt balanciert. Die Ovomantie ist die Eierschau. Und die Tyromantie die Deutung aus geschmolzenem und wieder geronnenem Käse. Und mit Hilfe der Floromantie ließen sich aus der Beobachtung der Flora Deutungen ableiten. Und….

Die Liste der skurrilsten Zukunftsschauen lang, und wirkt wie ein pitturesker abergläubischer Reigen. Und doch: die häufigsten Deutungsarten waren die Traumdeutung, die Zahlendeutung und die Totenbeschwörung.

Friedman Eissler: "Oder auch im 1. Samuel, 28, mit der Geschichte, als der König Saul zu der Witwe ging und eine Totenbeschwörung im Grund veranlasst hat. Was natürlich frevelhaft war, das ist die negative Seite. Aber da wird erwähnt, dass Gott zu Saul nicht mehr sprach. Nämlich nicht mehr durch das Los, und nicht durch den Traum, und auch nicht durch die Prophetie. Das waren also offensichtlich legitime Formen der Rede Gottes."

Ob Chinesen, Assyrer, Ägypter, Israeliten, Griechen, Römer, Kelten und Germanen - sie alle bedienten sich vor allem dieser Techniken, um die Zukunft schon heute zu erfahren.

Im 10. Jahrhundert machte der heilige Malachias 111 Weissagungen, die im Deutschen als "Papstweissagungen des Malachias" bekannt sind. Nach diesen Weissagungen sollte nach Benedikt XVI. nur noch ein Papst kommen, der sich nach Simon Petrus, Petrus II., nennen würde, und "seine Herde durch manche Leiden führen, danach wird die Stadt der sieben Hügel zerstört werden, und der schreckliche Richter wird über die Menschen zu Gericht sitzen".

Und noch viel früher, etwa 150 Jahre vor Christus, wurden die Texte des Weisen Daniel verfasst. Klaus Beyer, Professor für Semitistik an der Universität Heidelberg übersetzt den Text, der in Qumram gefunden wurde, und apokalyptische Passagen enthält.

Klaus Beyer: "Als Beispiel lese ich jetzt Daniel 22-24 in seiner Qumran-Gestalt (…) in der Aussprache von 164 vor Christus, in dem Jahr, in dem das Buch Daniel abgeschlossen wurde: Daniel hob an und sagte, der Name des großen Gottes sei gepriesen von Ewigkeit zu Ewigkeit. Denn die Weisheit und die Stärke ist sein Eigentum. Und er ändert die Zeitpunkte, setzt Könige ab, und setzt Könige ein, gibt die Weisheit Weisen und das Wissen Einsichtigen. Er enthüllt das Tiefe und das Verborgene und weiß, was in der Finsternis ist. Und das Licht wohnt bei ihm. "

Hinter dem altgriechischen Ausdruck "Propheteia" zu deutsch: "aussprechen", oder "für jemanden sprechen", steckt ursprünglich der Wille Gottes, durch ein Medium eine Botschaft zu verkünden.

"Wenn ein Prophet redet und es trifft nicht ein, so hat es der Herr nicht geredet."(5. Buch Mose, 18, 22)

So war auch Jesus ein Prophet. Am Palmsonntag etwa sagte er über die Stadt Jerusalem…

"Jerusalem, Jerusalem, du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesund sind."

Zu den alttestamentlichen Propheten wird die "Offenbarung des Johannes" als bedeutendes prophetisches Buch verstanden.

Johannes Aussagen über den Antichrist zum Beispiel, oder das jüngste Gericht und die falschen Propheten sind schon oft als unmittelbar bevorstehend zitiert worden.

Friedman Eißler: "Die Frage ist, wenn Fragen auftauchen im Leben, die ich nicht mehr beantworten kann, und ich nicht hinnehme, dass da, im Leben, was mir gewährt wird, von Gott gegeben ist und geordnet ist in einer Weise, die mir vielleicht auch Schwierigkeiten macht, wenn man darüber hinaus klären möchte, wie kommt es dazu, wie wird es weitergehen, wenn ich im Grunde aus dem Vertrauen, aus dem vertrauendem Empfangen des Lebens herausgehe und das selber in den Griff nehmen möchte, und sage, ich möchte erfahren, was eigentlich dahinter steckt, also noch einen Schritt darüber, das ist eine Form der Hybris.

Zu sagen, das ist dir Mensch nicht gegeben, die Hintergründe und in das Dir Gegebene weiter Einblick zu nehmen. Davon sollst Du Abstand nehmen."

Olaf Schreiber: "Also der Palmblattleser, der liest die Namen vor, der fragt, um das Palmblatt zu identifizieren, das persönliche Palmblatt, liest der die Namen vor. Des Vaters und der Mutter, und den eigenen Namen und Beruf, und sagt dann, so ist der Name deines Vaters Viktor, ist der Name deiner Mutter Maria, ist dein Name Stefan? Und das hat er gemacht, und der hat außergewöhnliche seltene deutsche Namen auf einmal schlagartig vorgelesen.

Und wir haben gedacht, jetzt ist wirklich was Großartiges gewesen. Jetzt hat er wirklich das Palmblatt, wo vor Tausenden von Jahren unser individueller Namen drauf geschrieben ist und unsere Geschichte und unser Schicksal. Das war ein unheimlich toller Moment."

Doch bei jedem Einholen einer Vision oder eines Orakels, egal wo und in welcher Form, wirkt auch etwas von einem Zeitvertreib mit, einem Spiel um die mögliche Zukunft. Damals wie heute. So kann Kartenlegen, wie das Tarot, durchaus auch gesellig sein. Und die Horoskope in den Illustrierten und Magazinen sind auch heute, im 21. Jahrhundert, noch immer gern gelesen.

Liebe, Beruf, Gesundheit. In diesen Sparten bewegen sich zumeist die Voraussagen in den Blättchen. Doch was so banal daherkommt, erfüllt ein wichtiges psychologisches Bedürfnis.

Barbara Lemko: "Also ich kann vielleicht einen Rat geben, ich kann vielleicht mit meiner Weisheit ein bisschen was vermitteln. Aber alles musst du dann selbst machen. Es ist nicht, du wirst das und das machen, und das und das wird passieren. Das hat mit Handlesen nichts zu tun."

Barbara Lemko liest aus der Hand. Die dunkelhaarige Frau mit den wachen Augen empfängt Fragende auf den großen Festen und Jahrmärkten.

Barbara Lemko: "Ja, das mit dem Wissen ist so eine Sache. Jeder möchte natürlich irgendwas wissen, und wenn ich das wissen würde, würde ich wahrscheinlich nicht auf dem Fest sitzen. Dann wäre ich vielleicht in der Regierung oder ich wäre Präsident von Amerika, wenn ich alles wissen würde.

Meistens ist es so, dass sie erst mit großen Erwartungen kommen, dass ich die Zukunft sagen werde. Die Zukunft sage ich nicht, weil die musst du selbst in die Hand nehmen. Aber meistens sind die Leute dann trotzdem irgendwie dabei beglückt. Sie haben einfach eine andere Person kennengelernt, die vielleicht etwas mit Zauber sagt, rüberbringt, und eine Beziehung aufnimmt."

Ob es das in Wahrheit ist? Dass jemand - damals wie heute - eine Beziehung beim Wahrsagen zu einem aufnimmt?

Friedman Eißler: "Es wurde immer wieder, auch im Zusammenhang mit der Postmoderne, von der Wiederkehr des Religiösen gesprochen. Man hat lange Zeit gemeint, ja, die Säkularisierung schreitet voran, die Religion ist eine zeitlich befristete Geschichte, die irgendwann sich totgelaufen hat. Denn wir erobern die Welt."


Barbara Lemko: "Hier ist der Wille, ne, wie setzt man was um? Das ist der Venusberg. Die beiden Seiten, das ist unterschiedlich in Ihrer Hand."

Friedman Eißler: "Wir erobern die Welt nicht, das hat der Mensch inzwischen, denke ich, doch auch ein Stück gelernt, ein Stück weit gesehen. Dass sind Momente jedenfalls, die mit dazu beitragen, dass Menschen sehr stark, oder stärker als bisher (...) Deutungen ihres Lebens, ihrer Biographie suchen."

Barbara Lemko: "Hier ist die Erfolgslinie. Die geht hier schön mit der Lebenslinie zusammen. Sie sind jetzt also irgendwo an einer Sache dran, die Sie doch weiterverfolgen sollten, denke ich mir so. Sie haben die Hände sehr weit geöffnet, Sie haben also eigentlich ein sehr aufmerksames Gemüt, man sagt dann so: 'Open Mind.'"

Friedman Eißler: ""Dass also Antworten gesucht werden, in Bereichen, die man bisher vielleicht vernachlässigt hatte. Transzendenz, Spiritualität, Frömmigkeit."

Es ist die Suche nach Halt in einer an Orientierungen armen Welt, die heute wieder in einem neuen Blick auf die Heilige Schrift mündet. Die in ihr enthaltenden Prophezeihungen regen nicht selten zu einer neuen Sicht auf das eigenen Leben an. Zumal oft andere spirituelle Möglichkeiten versagen.

So auch bei Olaf und seinen Freunden, die während eines Indien-Aufenthaltes aus den himmlischen Akasha-Chroniken ihr weiteres Leben erfahren wollten.

Olaf Schreiber: "Der Sinn ist für verschiedene Besucher der Palmblattbibliotheken immer ein anderer. Es ist immer natürlich, sich selbst zu finden, auf einen spirituellen Weg zu kommen, weiterzukommen, ganz banal zu sehen, ob man schlimme Krankheiten hat, (…) ob man irgendwann Geld haben wird.

Dann war es so, dass wir dem eine Weile zugehört haben, und irgendwie schlich sich Zweifel ein. Es wurden ein paar Aussagen über unserer Zukunft getroffen. Dass alles toll werden würde. Wir würden 80 Jahre alt werden, und unser Schicksal würde sich erfüllen, und soweiter. Und dann haben wir schließlich rekonstruiert, wie die Fakten zustande gekommen sind. Das Erlernen der Namen, das Erschließen der einzelnen Wortgruppen, Buchstaben, usw. Und dann war die Enttäuschung da. Aber den Moment, den haben wir trotzdem sehr intensiv erlebt."