Das muss man 2016 gehört haben (4)

Die schönsten Alben, die niemand kennt

Gitarre lehnt gegen eine rote Wand
© imago / Westend61
Von Christoph Möller · 15.12.2016
Nicht alle Alben, die in diesem Jahr auf den Markt kamen, hatten durchschlagenden Erfolg. Unser Musikredakteur Christoph Möller rettet drei Alben vor dem Vergessen: Elektro-Pop von Olga Bell, Country von William Tyler und R’n’B von Jamila Woods.
Der Ort, den Jamila Woods verlassen will? Amerika im Jahr 2016. Ein Land, in dem unschuldige Menschen auf offener Straße erschossen werden. In dem alles, was von der Norm abweicht, suspekt ist. "Meine Brüder gehen in den Himmel – die Polizisten? Tja, die gehen in die …" – Hölle, so müsste es weitergehen, aber Woods hadert mit sich selbst, der Satz bricht einfach ab. Wünsche ich wirklich alle Polizisten in die Hölle?
Jamila Woods kommt aus Chicago. Wenn sie nicht singt, bringt sie Jugendlichen Schreiben bei. "Young Chicago Authors" heißt ihre Organisation. Jungen Menschen eine Stimme geben, darum gehe es ihr. Denn, so singt sie: Vor nichts hat die Regierung mehr Angst – als vor jungen Schwarzen Mädchen.
"HEAVN” ist eine zärtliche Reflexion über das widersprüchliche und ungerechte Leben einer Schwarzen Frau in den USA. Obwohl Woods das Album kostenlos ins Netz gestellt hat – dieser Mikrokosmos scheint in Europa nicht sonderlich interessant zu sein. Trotz guter Kritiken: Bei Jamila Woods zucken viele die Schultern. Dabei ist ihr Sound experimentell. Und ihre Message – universell: Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist schon auf dem Weg. An einem leisen Tag kann man sie atmen hören …

Von Bach zum Bass

Von Bach zum Bass – das ist die kurze Geschichte von Olga Bell – Keyboarderin bei der Indie-Band Dirty Projectors. Bell ist geboren in Russland, aufgewachsen in Alaska – und: klassisch ausgebildete Pianistin.

Auf "Tempo”, Olga Bells Debütalbum, ist ihre klassische Ausbildung höchstens in der klaren Struktur zu erahnen. Jeder Ton an seinem Ort. Ansonsten ist "Tempo" eine Studie in elektronischer Tanzmusik. Die Rhythmik – unterkühlt. Der Gesang – roboterhaft entfremdet.
Ein Spiel aus Raum und Zeit: Architektonisch klimpern kleine perkussive Elemente über aufquellende Bass-Melodien – Olga Bell baut ein Gerüst aus Sound, das man wie eine Kunstausstellung staunend betrachten kann.
Was das Album auszeichnet, ist auch der Grund, warum es eher wenig Aufmerksamkeit bekommen hat: "Tempo” ist eine fast schon wissenschaftliche Betrachtung von elektronischer Tanzmusik. Die Stücke sind viel abstrakter als gängige House- oder Techno-Tracks. Es braucht Zeit, Bells elaborierte Kompositionen zu durchdringen.

Ein Liebesbrief an die verlorene USA

Deutlich zugänglicher: "Modern Country" – das programmatische Album des Gitarristen William Tyler. Tyler hat bei Lambchop, dieser großen Alternative-Country Band aus Nashville gespielt – mittlerweile hat er Band und Stadt verlassen. In einem Video zur Platte sagt Tyler: "Modern Country" ist ein Liebesbrief an das, was wir gerade in Amerika verlieren – was wir längst verloren haben. Sicherheit, kulturelle Vielfalt, das Gefühl, in einem offenen freien Land zu leben.
Das klingt pathetisch. In der Musik wird dieses nostalgische Jammern aber zum Glück nicht zu einer retrohaften Kopie vermeintlich besserer Zeiten, als Country irgendwie wahrhaftiger war. William Tyler inszeniert seine eigene Angst. Etwas lauert in der Musik – die manchmal klingt als würde Minimal-Komponist Steve Reich Country machen.
Man kann sich leicht verlieren in diesen hypnotischen, langsam gespielten Stücken, die – obwohl sie rein instrumental sind – eine Geschichte erzählen: von einem modernen Amerika, das droht unterzugehen.

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