Zukunft der Erinnerung

Von Axel Doßmann · 18.07.2007
In diesem Monat vor 70 Jahren entstand auf dem Ettersberg bei Weimar das Konzentrationslager Buchenwald: Stätte des Leidens, des Sterbens aber auch stetiger Hoffnung in den Jahren des Nationalsozialismus und auch noch Jahre danach. An diesem Ort trafen sich vor einiger Zeit junge Europäer mit Menschen, die das KZ Buchenwald und andere Lager überlebt hatten.
Ausschnitt aus Chorproben zum "Buchenwaldlied"

Chorleiter: "I show what I mean" singt vor, macht es besser vor: "Wir wollen trotz, micht troooootz! Everybody: Wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen / denn einmal kommt der Tag, dann sind wir frei!" Ansage Chorleiter: Oh Buchenwald, wir jammern nicht und klagen."

40 junge Europäer üben das Buchenwaldlied mit dem Musiker Aaron Eckstaedt, eine Probe für eine Vorstellung vor ehemaligen Häftlingen. Sie gehören alle zum Geschichtsnetzwerk "Eustory". Als Schüler haben sie erfolgreich an nationalen Geschichtswettbewerben teilgenommen. Heute sind sie Anfang zwanzig, bereiten das Abitur vor oder studieren. Anne Rabbel aus den Niederlanden will Lehrerin werden.

Anne: "Ich hab den Zweiten Weltkrieg selber nicht mit gemacht, natürlich, ich bin 22. Aber irgendwie ist es immer noch in mir. Mein Opa hat ganz viele Geschichten, mein Opa hat in Bessarabien gewohnt, er war ein Russlanddeutscher und er wurde vertrieben und er hat ganz viele Geschichten zum Beispiel aus dem Konzentrationslager in Polen, wo er gesessen hat ich hab das nicht selber mit gemacht alles, aber ich fühle mich immer noch ein bisschen - ja, schuldig, würde ich sagen."

Anne und die anderen Schüler und Studenten haben sich vier Monate in einem moderierten Internet-Forum zum Thema "Zweiter Weltkrieg und Erinnerung" ausgetauscht.

Malina: "Vom Krieg wird immer in meiner väterlichen Familie gesprochen: ´Ja, die Männer sind alle im Krieg geblieben´. So: ´Im Krieg geblieben´ und ´wir waren arm´. Das sind eigentlich die beiden zentralen Begriffe, die ich überhaupt vom Krieg gehört habe."

Die Studentin Malina Emmerink aus Hamburg kennt Krieg nur vom Hörensagen. Ivan Nikolic lebt in Belgrad.

Ivan: "60 Jahre liegt der Zweite Weltkrieg schon zurück und wir kämpfen immer noch damit. Jüngste Kriege sind noch kaum verarbeitet. Ich habe keine Antwort darauf, wie diese Kriege in der Zukunft erinnert werden. Das ist noch so frisch."

Der Serbe, der wie sein Vater Arzt werden möchte, hat in den 1990er Jahren Krieg und ethnische Verfolgung hautnah erlebt.

Ivan: "”Gedenken setzt erst ein, wenn die Dinge beginnen zu verschwinden. Die Sache ist doch die: Wir sollten uns nicht der eigenen Geschichte schämen. Sondern uns klar in die Augen sehen und die Probleme offen angehen. Das ist der einzige Weg, uns zu befreien und vorwärts zu kommen. Geschichte behandelt nicht nur die Vergangenheit, sondern hat viel mit der Gegenwart zu tun und noch mehr mit der Zukunft.""

Oana: "Es ist ziemlich schwierig, die Erinnerung lebendig zu halten. Deswegen heißt unser Projekt ja auch "Die Zukunft der Erinnerung und die langen Schatten des Zweiten Weltkrieges". Das ist jetzt die dringende Aufgabe: Wege zu finden, damit die Zeugnisse für die nächste Generation nicht verloren gehen. Wir haben Bücher, Archive, viele Dokumente. Aber das alles scheint nicht zu reichen. Die Zeitzeugen sterben, der Abstand zur Vergangenheit nimmt zu. Das ist dramatisch für die alten Leute. Wir können nicht alle Informationen, nicht jeden einzelnen Fall behandeln. Aber wir werden es versuchen."

Oana-Mara aus Rumänien und die anderen werden eine Woche in Weimar sein, die Gedenkstätte Buchenwald besuchen, über die Zukunft der Erinnerung diskutieren. Der Höhepunkt für sie: eine Begegnung mit Überlebenden der Lager. Doch zunächst wird der historische Ort erkundet.

Vor uns liegt ein großes weitläufiges Gelände - das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Ein kahler Hang, über den oft kalter Wind hinweg zieht. Weiter unten steht eine Holzbaracke - die einzige. Historische Fotos zeigen, dass sich einst hier mehr als 80 große Baracken befanden. Nach der Befreiung wurden die KZ-Baracken noch einmal genutzt, für das Speziallager Nr. 2. Die sowjetische Besatzungsmacht internierte hier bis 1950 Nazis und Mitläufer, aber auch viele unschuldige Deutsche. Danach ist ein Teil der Baracken an Bauern und Kleinunternehmer verkauft worden. Gegen den Protest vieler ehemaliger Häftlinge wurde der Rest auf Beschluss des ZK der SED abgerissen. Eine einflussreiche Gruppe deutscher Kommunisten war der Meinung, dass mit den trostlosen Holzbauten der Terror der SS nicht vermittelt werden könne. Die Baracken passten nicht ins Erinnerungskonzept. In Buchenwald sollte vor allem erzählt werden, wie kommunistische KZ-Häftlinge durch Opfer und Kampf zum Sieg über den Hitler-Faschismus beigetragen haben.

Wir nähern uns der einzeln stehenden Baracke, Besucher der Gedenkstätte dürfen nur in Ausnahmefällen diesen Holzbau betreten.

Daniel Gaede: "”Wie würdest du mit dieser Baracke umgehen? Vielleicht Möbel reinstellen. Oder Puppen, die Häftlinge darstellen? Oder einfach leer lassen?""

Diese Baracke stammt nachweislich aus dem KZ Buchenwald, wurde über Jahrzehnte als Werkstatt in einem thüringischen Dorf genutzt und erst vor wenigen Jahren wieder in die Gedenkstätte überführt.

Jugendlicher: "Ein starker Staubgeruch hier, wie in einem alten Schiff. Schade, dass die anderen Baracken kaputt sind. Denn wenn du es anfassen und betrachten kannst, dann wird die Geschichte sehr eindruckvoll. Dann begreift man besser, was ein KZ war."


In den einzelnen Stuben der Baracke sind verschiedene Dinge lose zu großen Haufen sortiert: Porzellanscherben, Metallschrott: Reste von Essenkübeln vielleicht, ein Stück verrosteter Stacheldraht; Lederreste, vor allem Schuhsohlen. Und viele Knöpfe. Diese Gegenstände stammen aus der ehemaligen Müllgrube des Lagers - Archäologen haben sie geborgen, materielle Zeugnisse vom Alltag der Häftlinge und der SS.

Wir laufen den Hang wieder hoch, hin zum ehemaligen Lagertor. Neben mir Malina Emmerink, sie studiert Ethnologie und Geschichte in Hamburg.

Malina: "Also ich war sehr bewegt als ich in dieses Haus gekommen bin, in diese Baracke. Weil ich normalerweise immer ein bisschen Probleme damit hab in Museen zu gehen, wo die Dinge, die über geblieben sind von der Geschichte, so versteckt sind. Oder zumindest aus dem Kontakt der Menschen herausgezogen sind und hinter Glas liegen. Deswegen war ich, als ich in diesen Raum kam, mit den Schuhen, sehr sehr bewegt. Weil es so aussah, als ob die Schuhe und diese andern Sachen einfach weggeworfen wären. Als ob die Häftlinge gerade das Camp verlassen haben und diese Sache einfach über geblieben sind ohne dass sie jemand beachtet. Also ich würde die Dinge dort liegen lassen und sie eben nicht hinter Glas packen, sondern dass man eben auch Kontakt damit aufnehmen kann, dass man es eventuell anfassen kann, daran riechen kann und einfach sehen kann, dass es alles halt Menschen waren, die auch menschliche Dinge gehabt haben die wir auch zu Hause haben. Deshalb würde ich das auf jeden Fall in diesem Raum so lassen."


Viele empfinden offenbar ein starkes Bedürfnis, in irgendeiner Form mit der Vergangenheit direkt Kontakt aufzunehmen, sie wollen Überreste buchstäblich berühren. Sie suchen nach Authentischem, selbst wenn eigentlich klar ist, daß inzwischen alles überformt und verändert ist von nachträglicher Sinnstiftung, Rekonstruktion und Erinnerung.

Für Malina und all die anderen steht am nächsten Tag ein aufregender Moment bevor: die Zeitzeugen kommen nach Weimar. Sie sind vor mehr als 60 Jahren von den Nazis und ihren Verbündeten in Lager verschleppt worden: als Juden, als Widerstandskämpfer. Nachdem sie das Lager überlebt hatten, sind sie Lehrerinnen geworden, Historiker, Künstler, Diplomaten. Trotz ihres Alters sind sie sehr lebendig und aufmerksam. Bei ihrer Befreiung waren sie jünger als diejenigen, die ihnen heute Fragen stellen.

Anne: "Wir holen jetzt die Gäste, die Geschichts-Zeugen ab aus dem Elefant-Hotel und dann gehen wir ins Reithaus um einander auf eine informelle Manier kennenzulernen."

Im Saal werden die Gäste von den Jugendlichen umringt. Man muss nah zusammenrücken, um alle Worte gut zu verstehen. Die Worte von Orna Birnbach zum Beispiel. Sie ist Jüdin, stammt aus Polen und ist mit 14 Jahren im KZ Bergen-Belsen befreit worden. Zuvor war sie in Auschwitz-Birkenau und anderen Lagern. Marius Drasovean, ein Geschichtsstudent aus Rumänien, gelingt es, seine Frage zu stellen:

"Wann haben Sie das erste Mal von ihren Erlebnissen im Lager erzählt?"

Orna Birnbach: "Ich wollte sofort sprechen. Weil, ich hatte mir geschworen: Wenn ich Auschwitz überlebe, werde ich Rache nehmen and davon berichten. Ich wollte die Stimme sein für die Toten, für sechs Millionen wundervolle Menschen, die vergast wurden. Sofort wollte ich davon erzählen. Aber niemand war bereit, mir zuzuhören. Weder in Israel noch in Europa. Es war zu früh, die Wunde blutete noch. Wenn die Leute in Israel meine tätowierte Häftlingsnummer am Unterarm sahen, machten sie mir Platz, meinten "Setzen Sie sich, nehmen Sie Platz!" Aber niemand wollte mit mir sprechen. Sie haben nicht gefragt: Wo waren Sie gewesen? Was haben sie durchgemacht? Das war sehr schmerzhaft für uns, die Überlebenden. Erst nach dem Eichmann-Prozess 1961 fragten sie. In dem Prozess traten 120 Zeugen auf und die Medien berichteten das erste Mal ausführlich. Dann wurde ich selbst eingeladen als Zeugin in Prozessen: drei mal in Hannover, einmal in Bochum und einmal in Wien. Dann öffnete ich mich und begann zu sprechen."

Jugendlicher: "A little bit provocative question?”"

Orna Birnbach: "”Yes”"

Jugendlicher: "”Darf ich eine provozierende Frage stellen? Was hat sie gerettet? Das Schicksal, ihr Lebenswille oder das Glück?"

Orna Birnbach: "Nein, es war Zufall! Einen Tag länger und ich wäre in Bergen-Belsen gestorben. Ich wog noch 32 Kilo! Einen Tag länger und ich würde nicht hier sitzen. Nur der Zufall hat mich gerettet, nicht Gott. Warum sollte der ausgerechnet mich retten? Was macht mich wertvoller gegenüber all den anderen anderthalb Millionen wundervollen Kindern, die umgebracht wurden?"

Der Mann neben ihr nickt, es ist der Ehemann von Orna Birnbach. Er stammt aus Leipzig, floh aber schon Mitte der 30er Jahre nach Palästina. Nach dem Krieg haben sie sich kennengelernt.

Orna Birnbach: "Die jungen Leute, die fragen so gute und persönliche Fragen, es ist kaum zu glauben! Ein deutsches Mädchen fragte mich: Wie können Sie mit einem Mann zusammenleben, der nicht die Shoah überlebte? Was haben sie gemeinsam? - Ich war überrascht über diese Frage. Aber mein Mann ist einbezogen...”"

Rolf Perez Birnbach: "”Ich bin immer dabei: an sieben Tagen die Woche, 24 Stunden am Tag. Meine Frau ist damit die ganze Zeit beschäftigt.”"

Orna Birnbach: "”Ich habe dieses Thema nicht freiwillig gewählt, das Thema hat mich ausgewählt."

Marius: "Was erwarten Sie von uns?"

Orna Birnbach: "Dass ihr euch erinnert! Mit mir leben Hunderte von Leuten, die schon tot sind. Solange ich lebe, sind sie hier mit mir. Ich spreche von ihnen, ich erinnere mich an sie jeden Tag."

Orna Birnbach: "”Wir müssen die Geschichten von einer Generation zur nächsten weiter erzählen. Einmal fragte man mich, wer sich an mich erinnern wird, wenn ich einmal sterbe. Und ich sage: ihr, ja ihr, die jungen Leute. Sie werden sich an die Geschichten der letzten Überlebenden erinnern. Und erzählt sie euren Kindern weiter. Weil uns gibt es dann nicht mehr. Das wird eure Aufgabe sein.""

Am nächsten Tag finden Gespräche in kleinen Gruppen statt. Michou aus den Niederlanden und Marius aus Rumänien sind gespannt, was Robert Büchler erzählen wird. Der slowakische Jude möchte auf Deutsch antworten. Kerstin Otto wird beim Übersetzen helfen. Noch kennen sie nur die nüchternen Daten: Robert Büchler ist 1930 geboren, mit 14 Jahren deportiert worden nach Auschwitz, befreit in Buchenwald, 1949 ausgewandert nach Israel, Mitbegründer der Friedensbewegung "Peace Now!".
Kerstin Otto: "Wir haben einige Fragen gestern vorbereitet."

Robert Büchler: "Ja ja, ich hab nur eine Bitte, ich hab Schwierigkeiten mit Hören, langsam sprechen. Und deutlich.”"

Michou: "”Ok, sollen wir anfangen? Well, we start with some question about your childhood. Do you have some brothers or sisters?"

Büchler: "Ich hatte nur eine Schwester gehabt, sie wurde in Auschwitz vergast. Über meine Kindheit jetzt. Ich bin geboren am 1. Januar 1930 in eine Kreisstadt Topolcani in der Tschechoslowakei. Wenn die Tschechoslowakei zerschlagen wurde 1939 unsere Stadt war in die Slowakei. Ich war etwa acht Jahre alt. Also seit dann hab ich gespürt, dass ich ein Jude bin. Die neue Regierung hat sich die deutsche antijüdische Maßnahmen adaptiert, das war ein Satellitenstaat von Hitler."

Marius: "”What was the first thing what you saw in the camp?”"

Robert Buchler: "”What I saw in the Camp? Da waren Viehwaggonen, mit einem kleinen Fenster. Jeder hat geguckt durch den Fenster. Ich bin auf einen Koffer geladen, hab ich dort geguckt hab ich dort gesehen einen Schornstein, mit die Flammen schlagen raus aus dem Schornstein. Und ich hab gefragt, was ist das da? Und jemand hat mir gesagt: wir sind gekommen in eine Industriegebiet, wo hohe Öfen arbeiten, so hat man uns gesagt. Das war das erste, was ich gesehen habe dort. Und das waren die Krematorien.""

Marius: "”How did you deal with the possibility of death?”"
Kerstin Otto: "Die Möglichkeit des Todes, also dass man sterben, dass Sie sterben können. Wie sind Sie damit umgegangen?"

Büchler: "Ja. Wir haben die Tragödie, die sich vor unseren Augen abgespielt hat, nicht ganz begriffen Wir haben darüber niemals gesprochen, dass man uns kaputt macht, dass man uns ins Gas verschickt. Trotzdem, dass in unserem Kinderblock im Zigeunerlager war jede zwei Wochen eine Selektion. Die Mehrzahl der Kinder wurde ins Gas geschickt."

Robert Büchler erzählt weiter, wie er später nach Buchenwald deportiert wurde, in den Kinderblock des Kleinen Lagers. Hier waren die Bedingungen kaum besser, aber es gab doch wieder neue Hoffnung. Sogar kleine Kulturabende wurden in der Baracke organisiert.

Büchler: "Wir hatten einen kleinen Chor gehabt aus der Tschechoslowakei, ich erinnere mich genau, ich hab auch gesungen, diese Lieder die wir gesungen haben, bis heute (...)."

Michou: "Could you sing?"

Büchler: "Ja, ich kann es heute auch singen, (...) I can sing."

Büchler: "Singt Lied ... Das war ein Lied gegen Hitler von 38. Damals sollte ein Krieg ausbrechen zwischen Tschechoslowakei und Deutschland, und das war gegen Hitler und das haben wir dort gesungen: "Bei unsere Kaserne steht eine Wache, kannst du warten, Hitler, du bekommst uns nicht so leicht" und so weiter und so weiter."

Robert Büchler wurde auf einen Todesmarsch geschickt und konnte im letzten Moment fliehen. Später ging er zunächst zurück in die Slowakei, er wollte endlich wieder etwas lernen und besuchte ab Herbst 1945 wieder die Schule.
Robert Büchler: "Das war am 24. September. Und plötzlich hat jemand hat jemand geschrieen: "Man schlägt die Juden!" Was? Man schlägt die Juden? Hab ich gesagt, was ist passiert? Und sie haben gesagt: Weißt du was? Ein Pogrom ist ausgebrochen!"

Die jungen Europäer staunen und schweigen - von antisemitischen Pogromen in der Nachkriegszeit hatten sie bislang nichts gewusst.

Robert Büchler: "Ein Pogrom? Ja! Ich konnte nicht glauben, das dort ein Pogrom, ein antijüdisches Progrom! Dort war niemals ein Pogrom, auch während die Nazis war kein Pogrom! Ich sag: Warum? Weil die Juden haben verlangt ihr Vermögen zurück. Und jetzt hat man die Juden geschlagen. Am Abend: 57 Juden waren schwer verletzt, einige Häuser wurden ausgeraubt usw. usw. Das war die Nachkriegszeit."

Ein paar Jahre später verließ Robert Büchler wie viele andere Juden auch seine slowakische Heimat. Er gründete in der Nähe von Jerusalem einen Kibbutz und setzt sich als Israeli bis heute sehr für ein friedliches Zusammenleben mit den Palästinensern ein.

Auch die anderen Jugendlichen sprechen mit Zeitzeugen, eine einzige Frage provoziert mitunter halbstündige Antworten. Manchmal hat der vorbereitete Fragekatalog das Gespräch etwas steif gemacht - aufmerksam zuhören, die Übersetzung verstehen und dann noch schnell reagieren - das ist keine leichte Sache vor solchen eindrucksvollen Menschen. Borislav Valchev aus Bulgarien hat mit Felicija Karay gesprochen. Sie war in einem Arbeitslager bei Dresden gefangen. Als junge Zionistin ist sie 1950 aus Polen nach Israel ausgewandert, hat dort als Lehrerin gearbeitet und seit 20 Jahren erforscht sie die Geschichte der lange vergessenen Außenlager der großen KZs.

Borislav: "Frau Felicija Karay. Sie sieht wie ein normale alte Frau aus und sie hat solche unglaubliche Dinge erlebt! Also ihre Persönlichkeit jetzt, das hat mir sehr viel bewegt. Sie ist so alt, und sie ist so energetisch! Sie ist so lebendig, sie hat sehr große Lust auf Leben. Vielleicht ist es für sie wichtig, die schlechten Dinge nicht so gut zu erinnern, damit sie ihre Sinne nicht zu verlieren. Aber sie erinnert sich an so viele, so zu sagen, gute Dinge aus dem Konz-Lager-Leben.Sie ist - ein kleines Wunder!"

Malina: "Wir haben vier Menschen, vier Männer interviewt, die alle Künstler sind. Und wir haben mit 16 Leuten in einem Raum gesessen, an einem Tisch, vier Zeitzeugen, zwei Dolmetscher. Und es war wirklich anstrengend. Und es war so, dass es ausgeartet ist in einen Streit, also angefangen von sich über Kunst streiten bis hin zu Kommentaren wie: Er ist ja zurück in sein Land gegangen, er hatte ja immer noch sein Haus. Aber ich bin in eine neue Stadt gekommen, ich hatte niemanden mehr. Er hatte ja noch sein Familie, aber ich nicht. Also so ein Konkurrenzkampf richtig. Also das war echt schwierig. Und ich hab mich halt die ganze Zeit gefragt: Wie kann es sein, dass Menschen, die so was Schlimmes erlebt haben, die zusammen total am Boden waren, die das Schlimmste erlebt haben was es vielleicht gibt für Menschen, dass die dann an einem Tisch sitzen, in einer Gedenkwoche, und sich darüber streiten, wer mehr gelitten hat!"

Am Nachmittag werden die Gespräche mit den Zeitzeugen fortgesetzt. Jetzt geht es den jungen Leuten weniger um biographische Details, sondern um die großen Fragen. Marius Drasovean aus Rumänien fragt, ob Robert Büchler die Deutschen heute noch hasst.

Büchler: "Ich fühle keine Rache und keinen Hass. Für diese Generation, für die Nazis: Sie können sich vorstellen, was für ein Gefühl habe ich. Es sind einige Leute, sie wollen die Verantwortung auch auf die nächste Generation übertragen. Ich nicht! Ich hab gesagt: Ihr tragt keine Schuld. Ich wollte nur sagen, dass unsere Tragödie euer Erbe ist."

Marius: "”What did you learn from this experiences?”"

Kerstin Otto: "Was haben sie gelernt?"
Büchler: "Erste Lehre ist Toleranz. Zweite Lehre: Kein Krieg. Weil ohne Krieg wäre kein Holocaust. Frieden, Toleranz, gegenseitige Verständigung, Menschenrechte: Das sind meine Lehren aus dem Lager. Wenn ihr wird diese Werte akzeptieren, dann wird es besser sein, dann können solche Sachen nicht passieren."

Malina: "Also ich glaube nicht wirklich, dass Menschen gut sind, also dass es das nicht mehr geben wird, weil es so furchtbar war und weil wir so gut sind. Sondern ich glaube, wir müssen immer daran erinnert bleiben was schon angerichtet wurde vor uns. Dass wir einfach sehen, wozu Dinge führen können und wozu Menschen fähig sind. Und nicht nur einfach darauf vertrauen, dass die Menschen das alles richten werden, weil das ist eben nicht so und da muss jeder für sich aufpassen, einfach."

Nach diesen Tagen in Weimar-Buchenwald sind alle erschöpft. Die ehemaligen KZ-Häftlinge waren angenehm überrascht, denn nicht immer erleben sie so viele aufmerksame, respektvolle und neugierige Zuhörer. Die Schüler und Studenten haben von den Zeugen ein Aufgabe erhalten: sich auch künftig zu erinnern, so konkret wie möglich. Das setzt Wissen voraus: ohne historische Kenntnisse ist Erinnern haltlos und beliebig. Manche schreckliche Geschichte zog ihnen den Boden unter den Füßen weg, anderes war verblüffend heiter und entspannt.

Es hat irritiert, wenn sich die ehemaligen Häftlinge streiten über die Interpretation ihrer Geschichte. Buchenwald ist nicht gleich Buchenwald, es gibt mehr als eine Erfahrung und eine Wahrheit. Mit den widersprüchlichen Perspektiven konnte man auch lieb gewonnen Klischees verabschieden. In zehn Jahren wird so eine direkte Begegnung nicht mehr möglich sein - aber immerhin wird die Aufzeichnung der Gespräche existieren. Und das eigene Gedächtnis. Neue Fragen werden auf andere Weise beantwortet werden müssen.

Für Petra Novotna aus der Tschechischen Republik hat die Begegnung mit den Opfern vor allem die Frage aufgeworfen, wie solche Verbrechen überhaupt entstehen können. Dabei erinnert sie sich auch der Opfer kommunistischer Regime in Osteuropa.

Nicht allein die Täter hält Petra für schuldig, sondern auch all jene Menschen, die durch Wegsehen und Gleichgültigkeit die Verbrechen mit ermöglicht haben.

Petra: "”Selbst wenn du nichts tust, heißt das, dass du zustimmst. Ich kann das wirklich nicht verstehen. Wenn sie, die Passiven, Widerstand geleistet hätten, dann wäre vielleicht… Nun, ich bin nicht sicher, es ist eine Hypothese. Aber ich denke, ich selbst würde Widerstand leisten, selbst wenn es mein Leben kostet. Heute wissen wir, welche Konsequenzen die Gleichgültigkeit hatte. Das ist die wichtige Botschaft für uns. Wir müssen irgendetwas tun. Wir können nicht einfach da stehen und sagen: ´das wird sich schon alles fügen oder zum Guten wenden´. Das ist keine angemessene Antwort, für mich jedenfalls nicht.""

Am Ende sind die jungen Leute wieder zu Hause in ihren Ländern und allein mit sich und mit dem, wo die große Geschichte sehr persönlich wird: die eigene Familiengeschichte, etwa die von Malina Emmerink aus Hamburg:

Malina: "In Weimar bei dem Theaterstück ham wir eine Szene gehabt, wo wir an den Tischen saßen und in ganz verschiedenen Sprachen gegenseitig uns gefragt: "Wenn Dein Opa im Krieg Verbrechen begangen hätte, würdest du das wissen wollen?" Und da ham, glaube ich, ich meine mich zu erinnern, das alle durch die Bank weg gesagt: "Ja, ich würde es gerne wissen." Und ich hab auch ja gesagt. Und hab immer noch nicht gefragt! Ich schieb das immer noch erfolgreich von mir weg im Moment."