Zuhaus in der zweiten Heimat

Von Wolfgang Brosche · 19.07.2013
Vor 250 Jahren rief Katharina die Große europäische Ausländer dazu auf, sich in Russland anzusiedeln. Dem Ruf der Zarin folgten viele Deutsche. In Russland gerieten sie in die Wirren der Geschichte – unter Stalin wurden Tausende deportiert. Und der Wunsch, in die alte Heimat zurückzukehren, wurde immer größer.
Maria Ens hat ein Lied geschrieben über ihre alte Heimat im Ural an der Grenze zwischen Europa und Asien. Wehmütig singt sie von russlanddeutschen Dorfgemeinschaften in Kasachstan, die es so nicht mehr gibt. Vor über zwanzig Jahren hat Maria Ens, die heute bei Herford lebt, Russland verlassen.

Maria Ens: "Wir sind mit meiner Familie und Schwiegereltern, wir waren 13 Personen, am 1. Dezember 1990 gekommen. Wir kamen nach Hannover, dann wurden wir nach Kiel befördert."

Für die meisten der 2,2 Millionen Russlanddeutschen, die zwischen 1985 und 2005 nach Deutschland kommen, ist ein sogenanntes Auffanglanger die erste Station.

"Uns hatte man immer erzählt, dass man unbedingt ein Lager durchgehen musste. Lager, das war für uns ein Begriff vom Zweiten Weltkrieg und das war mit Schrecken und Hungern verbunden. Aber ein Übergangslager ist ja ganz was anderes."

Die Versorgung mit Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs läuft zwar gut, aber die Unterbringung ist wegen der großen Anzahl an Aussiedlern sehr beengt. Maria Ens und ihre Angehörigen müssen provisorisch in einem von den Behörden angemieteten Hotelzimmer wohnen. Gleichwohl hat selbst diese Situation etwas Beruhigendes, denn was sie im Westen erwartet, das wissen viele Russlanddeutsche nicht.

Maria Ens: "Wir waren froh, dass wir ein Dach über dem Kopf hatten, wir waren erstaunt, dass das ganze Hotel voll mit unseren Landsleuten war, dass die alle am Tage drei Mal gespeist wurden und dass es nie alle wurde, man konnte sich was nachholen, man konnte sich was aussuchen. Wir brauchten uns um diese alltäglichen Sachen, die uns drüben immer viel Kummer gemacht haben, nicht zu kümmern."

Das ist in der damaligen UdSSR noch ganz anders gewesen:

"Wir waren Selbstversorger, wir lebten in einer geschlossenen Kolonie im Orenburger Gebiet. Insgesamt waren das 22 deutsche Dörfer. Das ist auf der Grenze zwischen Europa und Asien in Kasachstan."

Kasachstan ist für die Familie von Maria Ens die letzte Station einer mehr als zwei Jahrhunderte währenden nicht immer freiwilligen Wanderschaft durch viele Regionen Russlands.

Katharina die Große lädt Bauern aus Westeuropa ein
Die Geschichte der Russlanddeutschen beginnt mit einer politischen Entscheidung vor 250 Jahren:

"Wir, Catharina II., Kaiserin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zarin zu Kasan, Astrachan und Sibirien und mehr anderen Erbfrau und Beherrscherin, nahmen wahr, dass keine geringe Zahl der Länder unseres Reiches unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölkerung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden."

Mit einem kaiserlichen Manifest, erlassen am 22. Juli 1783 lädt Katharina die Große Bauern aus Westeuropa ein, nach Russland zu kommen. Ihr Riesenreich ist dünn besiedelt und wenig erschlossen. Die leibeigenen russischen Bauern haben weder Bildung noch Mittel, die Gebiete am Schwarzen Meer und an der Wolga, die die Zarin gerade von den Türken erobert hat, zu kolonisieren. Deshalb ruft die als preußische Prinzessin geborene Herrscherin vor allem Bauern aus den deutschen Kleinstaaten in ihr Reich. Die gelten als tüchtige Landwirte; Menschen aus Hessen, Schwaben, Bayern und Ostpreußen. Sie locken großzügige Versprechungen.

Katharina Neufeld, Historikerin am Russlanddeutschen Museum in Detmold, zählt die Angebote der Zarin auf:

"Katharina hat versprochen Land zu geben. Hat sie gegeben - an der Wolga 35 Hektar Land, am Schwarzen Meer später sogar 7o Hektar Land. An Geld, Darlehen – wer wollte, der konnte das nehmen bis 150, 200 Rubel. Davon konnte man ein Haus bauen, das war auch möglich. Außerdem vom Wehrdienst befreit waren sie auch. Steuern bezahlen mussten sie nach zehn Jahren, später nach 30 Jahren. Die Wolgadeutschen konnten nach zehn Jahren keine Steuern bezahlen, deshalb wurde das auch verlängert. Also, Glaubensfreiheit war auch gegeben. Kann man sagen, es ist alles gegeben worden, was versprochen worden ist."

Maria Ens hat die Geschichte ihrer Familie bis in jene Zeit zurückverfolgt:

"Unsere Vorfahren, die kommen aus Westpreußen, aus der Danziger Region, Marienwerder. Die sind 1789, die ersten 222 Familien, losgetreckt nach Reval, Estland, nach der Ukraine."

Die Zarin versprach Glaubensfreiheit und Steuerbefreiung
Gewiss, die Versprechungen werden eingehalten, aber man hat den Kolonisten auch einiges verschwiegen: selbst wählen darf man sich seinen Flecken Erde nicht. Das Klima, die Wetterbedingungen sind selten optimal. Schädlinge und Seuchen setzen den Siedlern zu und nicht zuletzt Überfälle von Reiternomaden. Von den ersten rund 27.000 Einwanderern sterben im Laufe der ersten zehn Jahre 7000. Es dauert zwei Generationen bis sich um 1850 die Russlanddeutschen einen bescheidenen Wohlstand erarbeitet haben und ins Zarenreich integriert sind. Da sie weit verstreut leben, entwickeln sich sozial und kulturell unterschiedliche Gruppen. Katharina Neufeld legt Wert auf die Vielfalt der Russlanddeutschen:

"Sie teilen sich nach sozialem Stand, da ist der städtische, baltische und bäuerliche Teil. Außerdem sind die Kolonisten noch mal geteilt nach Konfessionsunterschieden: Katholiken, Mennoniten, Evangelische und Pietisten. Und dann sind sie noch regional ziemlich unterschiedlich. Also Wolgadeutsche, Kaukasusdeutsche, Schwarzmeerdeutsche - und da sind noch mehr Unterschiede: Odessadeutsche, Mennoniten und Krimdeutsche, Bessarabiendeutsche, Petersburger Deutsche – naja und unter diesen gibt´s dann auch noch mal die wohlhabenden, mittleren und die ärmeren Kolonisten."

Nicht alle nämlich haben es in den angestammten Gebieten geschafft – und wandern noch tiefer nach Russland hinein. Wie die Großeltern von Maria Ens :

"Mein Großvater, Johann Dietrich Rempel und meine Großmutter Susanne Abraham Weiher, die hatten drei kleine Kinder, und die hatten keine Aussicht auf die Beine zu kommen. Die haben Land gepachtet und haben Mais angebaut. Die Pachtpreise, die waren hochgestiegen, so dass sie keine Aussicht nicht hatten, irgendwann ihre Familien selbst versorgen zu können."

So entschließen sich Maria Ens' Großeltern nach Orenburg in Kasachstan zu ziehen – fast 1300 Kilometer südöstlich von Moskau entfernt.

Sie lebten in Erdhütten – die drei kleinen Kinder starben
"Sie sind am 25. März losgefahren und sind dann zwei Monate lang gereist bis sie erst mal dahin kamen. Und dann lag da noch Schnee. Es wurden Kolonien angelegt, Brunnen gegraben, ein Schulte wurde gewählt. Die erste Zeit haben die dann in Erdhütten gewohnt, bis sie erst mal ein bisschen was gebaut hatten.

Die ersten Jahre waren so schwer, also unsere Großeltern, die hatten drei kleine Kinder, die sind alle klein gestorben. Es war keine medizinische Versorgung, und es sind auch ganz viele Kinder an Masern und Windpocken und diesen Kinderkrankheiten gestorben."

Mit zähem Durchhaltevermögen bauen die Russlanddeutschen in vielen Regionen Musterbetriebe auf. Dort arbeiten zahlreiche russische Bauern, nachdem die Leibeigenschaft aufgehoben wird. Eine Landreform hat es nicht gegeben, und die jetzt freien Bauern haben keine eigenen Ländereien. Dieses soziale Missverhältnis führt verständlicherweise zu Neid und Missgunst.

Ausgerechnet in dem Gründungsjahr des deutschen Reiches – 1871 – werden die Privilegien der Siedler wie Steuerfreiheit oder Selbstverwaltung abgeschafft.Sie fürchten nun russifiziert zu werden, wie man das damals nennt. Nun müssen auch die Russlanddeutschen Wehrdienst ableisten und Russisch wird zur Amtssprache. Die konservative Presse facht zusätzlich den Nationalismus und eine antideutsche Stimmung an. All diese Umstände bewegen fast 300.000 Russlanddeutsche nach Nord- und Südamerika auszuwandern. Rund 700.000 aber bleiben und schotten sich oft ab in ihren Kolonien am Schwarzen Meer und im Wolgagebiet oder ziehen sogar weiter und gründen Tochterkolonien in Sibirien.

Die antideutsche Stimmung gipfelt in drakonischen Maßnahmen zu Beginn des Ersten Weltkrieges, als sich Russland und Deutschland als Feinde gegenüberstehen. Verboten wird es, deutsch in der Öffentlichkeit zu sprechen, verboten werden Zeitungen und Verlage. Die Deutschen werden als potentielle Verräter und Spione verdächtigt; es kommt zu Enteignungen und Vertreibungen.

Ein sowjetisches Gulag, mehr als 8000 Kilometer östlich von Moskau in Sibirien, 1954.
Ein sowjetisches Gulag im Jahr 1954, mehr als 8000 Kilometer östlich von Moskau in Sibirien© AP Archiv
Die gute Zeit endet mit dem Ersten Weltkrieg
Der Ausbruch der Russischen Revolution verhindert zunächst Schlimmeres. Aber da die meisten Russlanddeutschen Grundbesitz haben, werden sie bald als Kapitalisten bekämpft und enteignet. Die Misswirtschaft der frühen Sowjetjahre führt zu noch drastischeren Maßnahmen, berichtet Katherina Neufeld:

"Alle, die einen Überschuss an Brot und Korn hatten, nicht nur die Deutschen, die mussten das abliefern. Besonders in der Wolgarepublik, damals Arbeitskommune - Wolgadeutschen wurde bis zum Saatgut alles rausgefegt, die hatten nichts mehr. Und 1921 als dann die Dürre kam, ist da ein riesengroßer künstlicher Hunger, den die Bolschewiken veranlasst haben."

Eine zweite Hungersnot Anfang der 30er-Jahre fordert 11 Millionen Tote, darunter 350.000 Russlanddeutsche. In dieser Zeit beginnt der stalinistische Terror gegen die eigene Bevölkerung. Die Russlanddeutschen stehen seit Beginn der Naziherrschaft in Deutschland unter Generalverdacht als Verräter und Spione. Kaum eine Familie, die verschont bleibt.

Der Sprachlehrer Peter Wiens aus Bielefeld wurde 1967 in Sibirien geboren. Seine Eltern haben ihm erzählt, dass die russische Geheimpolizei sich genauso unberechenbar und grausam verhielt wie die Gestapo in Deutschland:

Peter Wiens: "Da gab´s immer dieses berühmte schwarze Auto, das dann irgendwann in der Nacht vorbei kam und jemanden abholt. Und davor hatte man Angst, dass das eines Tages auch vor dem eigenen Haus steht."

Mit dem "schwarzen Auto" werden beide Großväter von Peter Wiens abgeholt und zur Hinrichtung gefahren. Ebenso ergeht es dem Großvater von Maria Ens - die Gründe sind willkürlich.

Maria Ens: "Der Großvater, der wurde 1942, da war der 72 Jahre – da haben sie den politisch genommen und er wurde beschuldigt, dass er mit dem japanischen Geheimdienst in Verbindung stand. Obwohl der Großvater … - ich weiß nicht, ob der je einen Japaner gesehen hat. Er war krank und er konnte selber nicht mal sein Bündelchen mit Essen und Wäsche tragen und das wurde ihm hinterher getragen. Sein Sohn, mein Vater, der musste das ansehen und konnte seinen Vater nicht schützen. Er hat bitter geweint, dass der Vater genommen wurde und er hat auch gewusst, was mit ihm passiert."

Unter Stalin werden die Deutschen deportiert
Im Spätsommer 1941 werden alle Russlanddeutschen aus den europäischen Teilen der Sowjetunion nach Sibirien, Kasachstan und an den Ural deportiert. Stalin fürchtet, sie könnten mit der deutschen Armee auf ihren Eroberungsfeldzug kollaborieren.

Die Eltern von Peter Wiens sind Jugendliche als sie aus ihrer Heimat fortmüssen:

"Mein Vater ist in der Ukraine geboren und meine Mutter war in einem Dorf in Georgien, und die hatten dort Wein angebaut. Die sind dann mit der großen Deportation nach Sibirien geschickt worden, beide unabhängig voneinander, und haben sich dann irgendwo zwischen Omsk und Tomsk kennengelernt."

Die junge Liebe ist ständig bedroht:

"Während und nach der Vertreibung ging es eigentlich nur ums Überleben. Viele starben ja auch während der langen Fahrt. Man wurde in Viehwaggons gesteckt und hatte keine Möglichkeit zu essen oder aufs Klo zu gehen und das war furchtbar. Die Viehwaggons waren komplett voller Menschen und viele starben schon unterwegs. Und man kam dann irgendwo an, wo man dann unter schwersten Bedingungen arbeiten musste, irgendwo Fabriken aufbauen musste oder irgendwelche Ländereien, wo man Pipelines bauen musste oder Holz hacken musste - alle möglichen Arbeiten unter schwersten Bedingungen, wobei viele, viele starben. Da dachte man nicht an Gründung von Familien – ein neues Leben aufbauen war kein Thema. Überleben war das Thema, irgendwie überleben und irgendwie nach Möglichkeit einige aus der Familie wieder sehen und wiedertreffen, irgendwo ausfindig machen."

Wie viele Menschen durch Zwangsarbeit und in den Arbeitslagern umkommen, ist ungeklärt, denn die entsprechenden Archive sind bis heute verschlossen. Man schätzt die Zahl auf 700.000. Die Verfolgung, die Repressalien, enden nicht mit dem Krieg. Wer das Lager überlebt hat, wird in spezielle Siedlungen gesteckt.

Die Überlebenden müssen in Sondersiedlungen leben
Bis 1955 werden die Russlanddeutschen streng überwacht: Es gibt Meldepflicht und Ausgangsbeschränkungen. Deutsch zu sprechen ist verboten. Erst als nach Stalins Tod mit Nikita Chrustschow politisches Tauwetter einsetzt, dürfen die Deutschen ihre Sondersiedlungen verlassen, aber nicht in ihre ehemalige Heimat zurückkehren. Sie bleiben, wieder einmal als Pioniere in Sibirien und Kasachstan. Es dauert noch einmal zehn Jahre, berichtet Katharina Neufeld, bis sich die Situation etwas verbessert:

"1964 wurden die Russlanddeutschen rehabilitiert. Es wurde gesagt: die Deutschen sind nicht schuld, die haben nicht Kollaboration mit Hitler begangen. Aber diese Demütigung, die nicht gerechte Behandlung der Russlanddeutschen, die waren ja noch immer die Fremden, die Faschisten. Das wurde nicht vollständig rehabilitiert."

Immer wieder neu anfangen, abgesondert leben zu müssen, als Mensch zweiter Klasse, das können viele nicht mehr ertragen und wollen in die Bundesrepublik ausreisen. Aber auch das ist mit enormen Schwierigkeiten und Diffamierungen verbunden.

Katharina Neufeld: "Einen Antrag zu stellen, um in die BRD zu fahren, das bedeutet: Du verrätst die sozialistischen Ideale und gehst in ein kapitalistisches Land, du bist ein Verräter."

Es kostet nicht nur Mut, den Antrag zu stellen, man kann sogar seine Arbeit verlieren, man muss Bestechungsgelder zahlen oder gar in andere Regionen umziehen. Peter Wiens Familie ist es so ergangen.

Peter Wiens: "Und dann gab´s bei einigen in Sibirien die Überlegung, ins Baltikum zu gehen. Und man sagte, dass es leichter sei von dort auszureisen. Also ist mein Vater mit seinem Bruder auch dahin gezogen. Ich war zwei Jahre – ich bin in der Nähe vom Omsk geboren, und mit zwei sind wir dann eben nach Estland und fünf Jahre haben wird da gelebt. Und dann hat´s ja auch geklappt nach dem zigsten Antrag von meinem Onkel und von meinem Vater konnten wir dann 1975 ausreisen."

1991: Die ersten deutschstämmigen Aussiedler aus der Sowjetunion, Polen und Rumänien sind im neu eingerichteten Landesdurchgangslager Peitz eingetroffen.
Deutschstämmige Aussiedler aus der Sowjetunion, Polen und Rumänien im Durchgangslager Peitz, 1991© picture alliance / dpa / Rainer Weisflog
Ab 1985 reisen viele in die BRD aus – oft mit weltfremden Erwartungen
Erst zu Zeiten von Michael Gorbatschows Perestroika- und Glasnostpolitik enden die Schikanen, und ab 1985 wandern die meisten der Russlanddeutschen aus, manchmal sehr blauäugig wie Maria Ens schmunzelnd eingesteht:

"Von unseren Eltern wurde uns immer gesagt, dass hier alle Menschen sehr ehrlich sind, dass hier nicht gestohlen wird, dass hier nicht gelogen wird und dass man Sachen liegen lassen kann. Wir dachten, dass hier ist ein christliches Land, ein christliches Land."

Für viele ist die Übersiedlung ein Kulturschock. Peter Wiens, der mit sieben Jahren nach Deutschland kommt, wächst als Kind leichter in die neue Welt als seine Eltern.

Peter Wiens: "Meine Familie kommt aus einer Mennoniten-Sozialisation, relativ fromm, konservativ und da war das offene Deutschland die böse Welt. Es gab eine große ungeschriebene Tabuliste – zum Beispiel nicht ins Kino gehen, nicht tanzen, kein Alkohol, Frauen keine Hosen. Also eine lange Liste von Dingen, die nicht drin waren aus der Prägung von früher. Und hier liefen sie alle anders rum, und das gab dann natürlich auch bei den Jugendlichen immer wieder Stress und Reibungspunkte und Trennungen von den Gemeinschaften."

Der Kulturschock, Sprachschwierigkeiten, Probleme bei der Eingliederung ins Berufsleben - manche Familien zerbrechen daran, andere entschließen sich wieder zurückzugehen. Aber auch die ehemaligen traditionellen Dorfgemeinschaften haben sich im nachkommunistischen Russland gewandelt. Die abermaligen Rückwanderer fühlen sich oft entwurzelt. Über zwei Millionen Menschen sind jedoch geblieben. Für ihre Kinder ist die Geschichte der Vorfahren oft eben bloß nur noch "Geschichte".

Peter Wiens: "Bei meinen beiden Söhnen Lukas und Jan ist das nicht Fall, dass sie sich als Russlanddeutsche sehen. Also dadurch, dass ich so mit dem Thema beschäftigt bin, kriegen sie über ihre Familiengeschichte einiges mit, aber die sind komplett hier aufgewachsen, haben Freunde aus der Schule und das ist dann selten ein Thema. Das ist dann eben zu Ende bei dieser Generation, die haben einen Vater, der das Thema mag, das war´s dann auch."

Wer als Erwachsener nach Deutschland gekommen ist, der pflegt allerdings den Kontakt mit der einstigen Heimat. Man engagiert sich in Verbänden und Vereinen, organisiert Kulturtage oder Reisen nach Russland. Die Menschen der jüngeren Generation aber sehen sich nicht mehr als Russlanddeutsche, sondern als Deutsche.

Wehmut und Hoffnung, Erinnerung und Zukunft ist für ihre Eltern- und Großeltern untrennbar miteinander verbunden. Heimat ist teils sentimental, da wo das Herz ist und dann auch wieder ganz pragmatisch da, wo´s einem gut geht. Maria Ens hat vor einiger Zeit auf einer Reise nach Kasachstan bemerkt:

"Komisch, wenn du in Deutschland bist, dann sagst du, bei uns zuhause und meinst das Land – und jetzt, wo wir in Russland sind, da sagst du bei uns zuhause und du meinst Deutschland."