Zufälle in der Wissenschaft

Ups, was hab ich denn da entdeckt?

Illustration von zwei Forschern und einer Forscherin, die im Labor arbeiten
"Heureka!" - Forscher können ihrem eigenen Glück auf die Sprünge helfen. © imago/Ikon Images
Von Thomas Reintjes · 23.08.2018
Eigentlich hatten die Astronomen nach etwas anderem gesucht, fanden aber: zwölf neue Jupitermonde. Einer der jüngsten Fälle von Forscher-Glück. Der Zufall spielt bei Erfindungen nicht selten eine Rolle. Vor allem, wenn die Wissenschaftler selbst etwas dafür tun.
Haftnotizen, LSD, Röntgenstrahlung und Sekundenkleber – bei ihrer Entdeckung spielte der Zufall eine große Rolle. Und das sind nur ein paar Beispiele von vielen. Erst vor ein paar Wochen gab es den letzten großen Zufallsfund: Zwölf neue Jupitermonde hatten Astronomen entdeckt, obwohl sie eigentlich nach etwas ganz anderem gesucht hatten. Sie wollten viel weiter entfernte Objekte im All finden, Planeten und Zwergplaneten. Die Jupitermonde kamen eher zufällig vor die Linse des Teleskops. Wobei: Scott Sheppard, der Leiter des Astronomen-Teams, spielt die Rolle des Zufalls etwas herunter.
"Weil wir einen so großen Teil des Himmels abdecken, ist uns sehr bewusst, dass wir auch andere Dinge finden könnten. Wir haben schon einige Asteroiden gefunden, die der Erde nahekamen. Auch einige Kometen waren in unserem Beobachtungsfeld und eben die Jupitermonde. Unser Hauptziel ist, Dinge weit draußen zu finden, aber ja, wir haben auch auf dem Schirm, was sonst noch da draußen sein könnte."

Wie man dem Forscherglück auf die Sprünge hilft

Sie hätten das Beobachtungsfeld sogar extra so gelegt, dass Jupiter mit darin lag. Also, die Forscher um Scott Sheppard haben das Glück bewusst herausgefordert. Bei den Kometen, die er erwähnt hat, war das allerdings anders. Sie waren durch Kollisionen im Asteroidengürtel entstanden. Scott Sheppard gehörte mit zu den ersten, die entdeckt haben, dass einige Asteroiden dort einen sehr blassen Schweif aus Staub haben - weil sein Teleskop es zufällig eingefangen hatte, ganz unerwartet.
Trotzdem klingt es ziemlich abgeklärt, wie er davon erzählt. Das mag daran liegen, dass ein glücklicher Zufall in der Wissenschaft selten ein punktueller Glücksmoment ist wie etwa ein Lottogewinn.
"Ein Aspekt von Zufall ist, dass er retrospektiv ist. Wir blicken auf eine Begebenheit zurück und sagen, das war eine glückliche Fügung. Jetzt, wo ich den Wert dieser Ereigniskette kenne, weiß ich, dass diese Begebenheit wertvoll war und auch, dass es ziemlich weise von mir war, sie aufzugreifen und weiterzuverfolgen. Aber in dem Moment selbst ist es sehr selten dieses ‚Heureka!‘, wo man den Wert dessen, was man erlebt, direkt erkennt. "
Samantha Copeland ist Philosophin an der Technischen Universität Delft und hat sich viel mit der Rolle von Zufall in der Wissenschaft beschäftigt. Sie ist auch deshalb kein Fan des oft bemühten Heureka-Moments, weil dieses Narrativ das einsame Genie in den Vordergrund stellt, das in der Badewanne eine Eingebung hat.
Alexander Fleming, schottischer Mediziner und Bakteriologe, der 1945 als einer der Entdecker des Antibiotikums Penicillin den Nobelpreis erhielt
Alexander Fleming entdeckte das Penicillin per Zufall - und erhielt den Nobelpreis.© imago/ZUMA/Keystone
Für Samantha Copeland sind glückliche Fügungen in der Wissenschaft – wie im Leben – aber allgegenwärtig. Das illustriert auch ihre Lieblingsanekdote, die Geschichte der beiden Nobelpreisträger Arno Penzias und Robert Woodrow Wilson.
"Sie arbeiteten mit dem Bell Array, einem großen Radioteleskop, und wollten Radiowellen aus dem All isolieren. Aber sie hatten dieses Rauschen, das sie nicht abstellen konnten. Sie dachten es sei Guano, also Kacke von Fledermäusen. Alles Reinigen und Filtern half nicht, das Rauschen ging nicht weg. Einige Zeit später haben sie sich mit Physikern aus einem anderen Lab unterhalten und ihnen ihr Leid geklagt. Und die sagten: Oh Gott, das ist das Geräusch, nach dem wir die ganze Zeit gesucht haben, das ist die kosmische Hintergrundstrahlung vom Big Bang, das Summen des Universums.
Das ist für mich ein gutes Beispiel dafür, dass verschiedene Gruppen von Wissenschaftlern sich über ihre Interessen austauschen müssen und Wissen weitergeben müssen, damit es sich zu einer glücklichen Fügung entwickeln kann."

"Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist"

Louis Pasteur bemerkte einmal: "Der Zufall begünstigt den vorbereiteten Geist". Eine Zufallsentdeckung kann nur machen, wer zumindest eine Ahnung hat, was er vor sich hat. Deshalb ist der Austausch unter Wissenschaftlern eine gute Methode, um dem Zufall auf die Sprünge zu helfen. Scott Sheppard und andere Astronomen stellen auch deshalb alle Daten, die sie mit Teleskopen sammeln, anderen Wissenschaftlern zur Verfügung.
"Bis in die 1990er-Jahre wurden in der Astronomie meist Fotoplatten eingesetzt. Also, ein Astronom hat ein paar Aufnahmen mit einem Teleskop gemacht und niemand sonst bekam diese Fotos jemals zu sehen. Aber im Digitalzeitalter und mit Cloud-Speicher konnten wir praktisch alle Beobachtungen der letzten zehn Jahre speichern. Das ist ein gigantisches Daten-Archiv und viel Astronomie wird mit den Daten anderer Leute betrieben. Jemand schreibt ein Paper und erklärt, was er gemacht hat, und das weckt das Interesse von jemand anders, der in den Daten nach etwas anderem suchen will. Das bringt eine Menge Serendipity in die Astronomie."
Serendipity lässt sich kaum ins Deutsche übersetzen. Zufall, Glück und das Unerwartete schwingen in dem Wort mit, aber auch die Fähigkeit, aus der Fügung etwas zu machen und ihr Wert zu verleihen. Oft ist die Wissenschaft dafür erschreckend schlecht aufgestellt.

Freiheit und Neugier sind Voraussetzungen

Datenaustausch wie unter den Astronomen ist die Ausnahme. Forschungsgelder werden nur bewilligt, wenn bestimmte Ergebnisse zu erwarten sind. Wissenschaftler folgen Erwartungsmustern, um möglichst effizient Ergebnisse zu liefern. Wenn etwas Unerwartetes passiert, wird es schnell verworfen. Die Zufallsforscherin Samantha Copeland hat es selbst erlebt.
"Als jemand, der gerade seinen Post Doc hinter sich hat, kenne ich den Drang, an einem guten Lebenslauf zu arbeiten, man muss dies tun und das tun und alle diese Dinge und die Leute sind überarbeitet und erschöpft und haben oft gar nicht die Flexibilität, die nötig ist, solche unerwarteten Ansätze weiterzuverfolgen oder dieses möglicherweise wertvolle Wissen an jemand abzugeben, der es weiterverfolgen kann. Diese Freiheit hat man einfach nicht, aber genau diese Art Freiheit würde zu mehr Serendipität beitragen."
Komplette Freiheit und nur von Neugier getriebene Forschung sei aber auch nicht sinnvoll. Zielgerichtete Wissenschaft, die offen ist für Überraschungen, bringe mehr.

Nicht immer die gleichen Sachen machen

Scott Sheppard scheint die goldene Mitte getroffen zu haben. Er muss seinem Arbeitgeber, der Carnegie Institution in Washington, zwar Arbeitsnachweise liefern, aber hat gleichzeitig die Möglichkeit, Jupitermonde zu finden. Denn nachdem sie erstmals auf den Teleskop-Aufnahmen aufgetaucht waren, dauerte es ein Jahr, bis die Forscher bestätigen konnten, dass es sich tatsächlich um Jupitermonde handelt.
"Mein Arbeitgeber will, dass wir an Projekten arbeiten, die Jahre dauern. Sie wollen, dass wir Individuen bleiben. Wir wollen bewusst nicht viel Geld von außerhalb, sondern finanzieren uns mit Stiftungsvermögen. Deshalb haben wir nicht den Druck, immer die gleichen alten Sachen zu machen. Sondern wir können diesen Zufallsfunden nachgehen und sehen, was da draußen so ist."
Welchen Wert der Zufall wirklich für die Forschung hat, ist schwer zu beziffern. Ob das Penicillin trotzdem entdeckt worden wäre? Sicher wären die Jupitermonde auch irgendwann jemand anderem aufgefallen. Haftnotizen, LSD, Röntgenstrahlung und Sekundenkleber. Ob wir sie auch ohne glückliche Fügungen in Forschungslaboren und bei Treffen an der Kaffeemaschine hätten, können wir nicht wissen. Aber die faszinierenden Geschichten über diese Entdeckungen, die hätten wir ohne Serendipität nicht.
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