Zügellos und unregierbar?

Von Günter Rohleder · 05.05.2012
Wut, Zorn, Empörung. Das Lodern und Blitzen der Augen, das brodelnde Blut, die bebenden Lippen, das Stöhnen, Brüllen und Stammeln - der Stoiker Seneca verabscheute die Wut als tugendlos, ja unmenschlich.
Für Aristoteles dagegen war der Zorn ein Affekt, der den tapferen Mann unterstützt. Den Kriegskünstler Achill etwa. Doch die Zornausbrüche tapferer Männer, Helden oder Götter mit ihren schrecklichen Folgen stehen nicht im Mittelpunkt dieser "Langen Nacht".

Im Mittelpunkt steht die Empörung von Menschen wie Sie und ich: Von Traudl Vorbrodt, seit Jahrzehnten engagiert für Menschen auf der Flucht. Von Alfons Kujat, Schauspieler, Schweijk und Rebell. Von Antje Borchardt, Filmemacherin und Aktivistin für demokratische Verhältnisse.

Von Menschen also, die nicht gelassen bleiben, wenn sie andere im Müll nach etwas Verwertbarem wühlen sehen. Menschen, die zornig werden, wenn sie erfahren, dass die EU ihre Außengrenze wieder "erfolgreich" gegen ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen verteidigt hat.

Menschen, die sich empören, wenn Volksvertreter eine marktkonforme Demokratie ausrufen.

Wo ist die Empathie der Zornlosen? - Eine "Lange Nacht" mit Geschichten vom Zorn, um ihn herum und über ihn hinaus.

Alfons Kujat
Du nicht!: Storys aus dem Leben von Alfons Kujat
Books on Demand GmbH;
Dezember 2004
Dem alltäglichen Zwang zur Anpassung mit der Lust an der Rebellion begegnen: Im Ostfriesland der späten 60er und 70er Jahre und im Berlin der 80er und 90er hat Alfons Kujat unter anderem als Boxer und Fabrikarbeiter, Soldat, Schauspieler, Koch, Hausbesetzer und Kopfschlachter gelebt und gearbeitet. In seinen kraftvollen und leidenschaftlichen biografischen Storys, aufgeschrieben von Albert Scharenberg, wird gezeigt, was passieren kann, wenn man es leid ist, sich von irgendwelchen Leuten rumkommandieren zu lassen - und wieso es Spaß macht, selbst auszuteilen. Albert Scharenberg, Redakteur und Autor, kennt Alfons Kujat aus Ostfriesland. Er veröffentlichte unter anderem Bücher über Malcolm X, über Berlin und zur Kritik der Globalisierung.

Alfons Kujat als Francois Villon (YouTube)



Auszug aus dem Manuskript:

In rotem Schwefel, gelbem Operment,
In siedend heißem Blei, das sie zerbeiße,
In ungelöschtem Kalk, der sie verbrennt,
In schwarzem Pech, gemixt mit stinkigem Schweiße,
In Laugen aus Urin und Wuchrerscheiße,
Im Spülicht, dick von Lepraeitersud,
Gut umgerührt, mit Gallensaft vergoren,
Von Füchsen, Dachsen, Wölfen, wild vor Wut
Muss man die Zungen der Verleumder schmoren.


François Villon, Zorndichter, anarchischer Rebell und Teilzeiträuber im Paris des 15. Jahrhunderts. Den Villon in dieser Langen Nacht macht uns der Schauspieler Alfons Kujat. Selbst Rebell und zornerfahren wird er uns in den kommenden drei Stunden neben Balladen und Versen aus der Lebensbeichte François Villons einiges aus seinem eigenen Leben preisgeben.
Seneca, Villon, Kujat. Und was machen wir mit all den Zorngeschichten der Götter und Helden, was mit dem schäumenden Achill?

Den Zorn singe, Göttin, des Peleussohns Achilles,
den unheilbringenden Zorn, der tausend Leid den
Achäern schuf und viele stattliche Seelen zum Hades hinabstieß


Der todbringende Zorn des Achilles eröffnet und beherrscht die Kriegsgeschichte um Troja, Homers Ilias.
"Am Anfang war das Wort 'Zorn'", schreibt - von der Lektüre inspiriert - Peter Sloterdijk in seinem Essay 'Zorn und Zeit'. "Und das Wort war erfolgreich", setzt er hinzu. - Was für eine Erfolgsgeschichte will uns Sloterdijk erzählen?
Doch zurück zu Homer: Wenn es der Grieche Achilles nun nicht dabei bewenden lässt, den Trojaner Hektor zu töten, sondern dessen Leichnam an seinen Streitwagen bindet und tagelang um Troja schleift, wird uns das auch als Trauerakt vorgestellt: Als Achills Trauer um seinen Freund Patroklos, den Hektor zuvor getötet hatte. Das befremdet. Schleift jemand trauernd eine Leiche? Ist das nicht reiner Racherausch?
'Dumpfen Zorn aus falscher Männlichkeit', nennt das der Publizist und Theaterphilosoph Ivan Nagel. Sinn finde sich nicht in den Zornestaten der Götter und falschen Helden, sondern im Zorn des Antihelden:

Ivan Nagel: "Das heißt Empörung dagegen, dass in der Welt Brutalität, Bestialität, falsches Heldentum, Herrschaft der Menschen über andere Menschen herrschen, vorherrschen und dadurch unser Leben, unser gemeinsames Leben als Menschen kaputtmachen. Ich meine auch, dass man diese Wendung, diese absolute Wendung um 180 Grad vollziehen muss, um Zorn als positiven Antrieb zu begreifen. Zorn nicht der zornigen Götter, die die Menschen strafen, weil sie sich anmaßen als Menschen zu denken und zu handeln, sondern Zorn gegen die Götter, die diese Tyrannenherrschaft über die Welt errichten. Nicht in der Wirklichkeit, sondern in unserer dummen und autoritätshörigen Vorstellung."

Heldentum? Nein. Mut? Durchaus.
Traudl Vorbrodt hat welchen. Seit über dreißig Jahren streitet sie für die Rechte von Menschen ohne legalen Status in Deutschland.

Traudl Vorbrodt: "Da kann ich mich austoben. Da kann ich mich austoben mit meiner Wut, mit meiner Ablehnung, mit meiner Empörung. Und - das ist wieder das Positive - es ist ja nu nicht ne blinde Wut, sondern meistens zielgerichtet oder n blinder Zorn, sondern zielgerichtet: Ich habe eben auch erfahren in all diesen Jahrzehnten, die ich nun schon lebe, dass man hier in unserem Land auch einiges ändern kann, aber man muss sich einmischen. - Nix als gegeben hinnehmen."

Zorn als produktive Kraft: Der sehende, der gerichtete, nicht der blinde Zorn soll uns hier in Atem halten. Denn es gibt sie doch, die Empörung gegen Ungerechtigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung. Die Empörung aus Empathie.
Was wenn Empörung, Zorn, Widerstand einfach ausbleiben und Menschen sich nur noch in ihren Routinen einrichten? Wenn sie, resigniert und abstumpft, das, was ihnen und um sie herum geschieht, hinnehmen wie den Wolkenzug?


Traudl Vorbrodt

Die Rede Traudl Vorbrodts anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am 25.2.2009

Montagsinterview Flüchtlingsratssprecherin Traudl Vorbrodt ("taz")



Auszug aus dem Manuskript

Im Hirnbrei eines Katers der kaum mehr noch Zähne hat,
Um eine Maus zu beißen
Im Geifer eines alten Köters, der so toll, das alles möcht zerreißen
Im Schaum der Eselin, die man musst schleisen
Weil sie vom Hengst zu lösen nicht gelang
Im Pfützendreck voll Fäulnis und Gestank
Draus Frösche, Kröten, ungeschoren Giftschlangen
Ratten wagen einen Trank
Muss man die Zungen der Verleumder schmoren


Da ist Dampf drin, sagt Alfons Kujat. Ihn könne man umbringen, habe Villon geschrieben, nicht aber seine Worte.

Alfons Kujat: "Und das ist ja wahr geworden. Die Worte sind bis heute in der Welt, und solange ich meinen Kadaver noch auf eine Bühne schwingen kann, werde diese Worte auch weiterverteilen , weil, ich halt sie schon fast für Religion, obwohl ich nicht religiös bin." (Lacht)

Sehr stark hassen, was die Menschen unterdrückt, sagt Sartre, sagt Ziegler.

Eine Welt, wo alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, ist intolerabel für jeden von uns.

Ein von uns zu verantwortendes Hungern und Sterben, sagt Jean Ziegler, eine menschengemachte, keine Naturkatastrophe. Ziegler unterscheidet zwischen dem pathologischen Hass eines um sich bombenden Attentäters und dem rationalen Hass, der sich gegen die geistigen wie materiellen Strukturen der Unterdrückung richtet. In seinem Buch 'Der Hass auf den Westen' schreibt Ziegler:

Die westliche Weltordnung beruht auf struktureller Gewalt. Der Westen geriert sich als Träger universeller Werte, einer Moral, einer Kultur, von Normen, kraft deren alle Völker der Welt aufgerufen sind, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen.

Doch dieser jahrhundertealte Anspruch des Westens wird heute von der überwältigenden Mehrheit der südlichen Völker radikal infrage gestellt. Sie sehen darin einen unerträglichen Beweis für Anmaßung, eine Vergewaltigung ihrer Identität, eine Verleugnung ihrer Besonderheit und ihrer Erinnerung.


Eine Quelle dieses Hasses der Länder des Südens, so Ziegler, sei die verdrängte Erinnerung an jahrhundertelange Demütigungen durch Sklavenhandel und Kolonialismus. Eine zweite sei die kannibalische Weltwirtschaftsordnung im Zusammenspiel mit der erdrückenden Machtkonzentration in den westlichen Ländern.

Hassen, was die Menschen unterdrückt. - Entfaltet ein vernunftgeleiteter, gegen die Strukturen der Gewalt gerichteter Zorn tatsächlich weniger Widerstandskraft als ein vernunftgeleiteter Hass? - Ob hassend oder zürnend, es wird uns nicht immer leichtfallen, den akuten Affekt auf Vernunftkurs zu halten.

Stellen Sie sich vor, Sie lernen einen Menschen kennen, der aufgrund seiner Herkunft hier nicht bleiben darf, aber bleiben will und muss, weil er sonst aus dem Leben fällt. Sie haben sich also in ihn und sein Lage hineingedacht und eingefühlt, wie Traudl Vorbrodt das alle Tage tut, und kommen zu dem Schluss, dass es hier einen Weg für diesen Menschen geben muss. Und jetzt sitzen Sie einem Beamten der Ausländerbehörde gegenüber, der keinerlei böse Absicht hegt, sondern Ihnen lediglich in leisen wohlgeformten Sätzen darlegt, warum dieser Mensch, für den Sie kämpfen, nach dem Willen des Gesetzes ganz und gar nicht bleiben darf. In einer solchen Situation kann es passieren, dass das große Unterdrückungswas und Ihr Zorn darauf sich derart stark in diesem Beamten und seinen wohlgeformten Sätzen zu verdichten scheinen, dass Sie den Kurs verlieren und sich ihre ganze Wut statt auf das weite Was auf eben diesen Kerl und seine kalte Rede richtet.

Eigentlich sei sie ein friedlicher Mensch, sagt Traudl Vorbrodt. Aber in bestimmten Momenten komme Mordlust auf:

Traudl Vorbrodt: "Wenn ich am Ende bin, wenn mir keine Argumente mehr einfallen. Wenn ich sage, warum kann mein Gesprächspartner, ich meine auch immer Partnerin, nicht endlich einsehen, dass meine Argumente, mein Anliegen wirklich ernst gemeint ist und gefälligst auch umgesetzt werden sollte.

Und wenn dann wieder eine Ablehnung kommt, dann kann ich die irgendwann nicht mehr nachvollziehen und denk: aaäähhh."

Jean Ziegler
Der Hass auf den Westen
Wie sich die armen Völker gegen den wirtschaftlichen Weltkrieg wehren.
Mit e. Vorw. d. Autors. Aus d. Französ. v. Hainer Kober .
2011 Goldmann
Ausgezeichnet mit dem Literaturpreis für Menschenrechte 2008
Auf dem Nährboden gegenseitigen Unverständnisses und in dem Bewusstsein jahrhundertelanger Verachtung und Unterdrückung wächst der Hass der Armen und Entrechteten auf den Westen mit weitreichenden Folgen für die globale Friedenspolitik. Auf seiner Suche nach Antworten nimmt Jean Ziegler seine Leser mit auf eine lange Reise, die von den internationalen Konferenzsälen in New York und Genf bis in die entlegensten Dörfer Nigerias und Boliviens führt. Präzise und engagiert formuliert der Bestsellerautor unbequeme Wahrheiten, denen die reichen westlichen Länder sich stellen müssen zum Wohle aller.



Auszug aus dem Manuskript:

Empörung? Zorn? Es gehe nicht um den psychologischen Zustand, das Wohlbefinden oder Nichtwohlbefinden des Kleinbürgers aus Genf, sagt Jean Ziegler und meint sich selbst.

Jean Ziegler: "Wir sind im Dienste von Menschen, die umgebracht, die unterdrückt, die ausgehungert werden. Und das sind die Mehrheit [der 6,7 Milliarden] Menschen, die wir sind auf dieser Welt. 4,8 Milliarden leben in einem der 122 sogenannten Entwicklungsländer, also in der südlichen Hemisphäre. Um das geht es: Bin ich effizient dort, wo ich bin, als Schriftsteller, als Autor, als Interviewpartner, wenn Sie so wollen, wenn Sie mir schon die Gelegenheit geben, als UNO-Mandatsträger, bin ich effizient oder nicht, nütz ich den Menschen oder nicht . Das ist das Kriterium und nicht: Ist der zornig, schläft der gut. Das kümmert die Opfer überhaupt gar nicht und sie haben recht."

Wieso heißen die Industrie- und Handelsverbände in Mediendeutsch stets "die Wirtschaft" fragt Ivan Nagel im Falschwörterbuch, und deren gesammelte Interessen "der Markt"? "Die Wirtschaft schlägt vor", "der Markt weigert sich" zitiert Nagel die Medien, und wir, so klagt er an, schlucken es Tag für Tag.

Ivan Nagel spricht von Redeweisen 'neoliberaler Gleichschaltung'.

Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 hat den Glauben an neoliberale Dogmen erschüttert, aber das hat die Regierenden nicht daran gehindert, die 'marktkonforme Demokratie' auszurufen. Unverdrossen unterwirft sich die Politik den vermeintlichen Sachzwängen der herrschenden Ökonomie.

Er habe da ein zwiespältiges Gefühl, sagt der Politikwissenschaftler Ekkehart Krippendorff: "Einerseits tut mir die politische Klasse leid und ich bin froh, dass ich keine Politik zu betreiben habe. Denn wenn ich ernsthaft bin: Die Probleme sind so enorm, mit denen wir's zu tun haben, dass es einem eigentlich schwindlig wird davon. Andererseits ist meine Empörung die, dass ich dieses Schwindligwerden vor den Problemen bei praktisch niemandem, der in der politischen Klasse tätig ist, spüre."

Politik machen sei eine ernste Angelegenheit, sagt Ekkehart Krippendorff, Platon habe das so formuliert:

Was kann ich vom Politiker erwarten und was ich muss von ihm erwarten: Bescheidenheit, Demut und Orientierung an ethischen Grundsätzen.

Was geschähe, wenn die Politiker öffentlich ins Zweifeln gerieten und im ganzen Land Fantasiebildungsversammlungen einberufen würden?

Wenn sie zugäben, dass sie für brennende soziale und ökologische und damit ökonomische Probleme keine Lösungen wissen? Wenn sie sich, statt internationale Verantwortung zu übernehmen, auf zivile Konfliktlösungsstrategien verpflichten würden?

Von Parteien und Organisationen halten wir uns fern, sagt die Aktivistin Antje Borchardt, das sei einer der wenigen Grundsätze der 'Demokratie-Jetzt'-Bewegung. Abstand zu Organisationen also. Menschen, die auf Augenhöhe diskutieren wollen, seien willkommen.

Antje Borchardt: " Es geht uns nicht darum, Menschen nicht zu akzeptieren oder nicht zuzulassen, aber wir wollen von Parteien und Organisationen nicht vereinnahmt werden. Da gibt es reichlich Versuche. Dem widersetzen wir uns dauernd und ständig.--Die machen natürlich letztlich alle bei diesem System mit. Und die sind selber strukturiert, wie das System solche Sachen strukturiert, und wer in der Partei ist, der will da drin irgendwas werden. Und so sind wir eben an sich nicht. "

Antje Borchardt, Retsina-Film

Ekkehart Krippendorff (Wikipedia)