Zivilcourage

Wann wir uns für Mitmenschen einsetzen

07:03 Minuten
Die Silhouette einer Batman-Legofigur hebt sich dunkel vor einem unscharfen Bildhintergrund ab.
Wer einschreitet und Zivilcourage zeigt, erlebt die Situation als eine Verletzung von gesellschaftlichen Normen, sagen Psychologen. © Unsplash / Ali Kokab
Von Pia Masurczak · 16.09.2021
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"Zivilcourage" hat einen guten Ruf: Man setzt sich ein gegen Ungerechtigkeiten. Allerdings wagen laut Forschungen im Ernstfall nur wenige einzugreifen. Und jüngst reklamieren auch die sogenannten "Querdenker" für sich, "Zivilcourage" zu zeigen. Zu Recht?
"Wir machen das Experiment: Wie reagieren Umstehende, wenn sie Zeuge von Mobbing werden? – Lass meinen Beutel los!... – Unser Mobbingopfer wird gespielt von Sabine, die Mobber von Alex und Marco. Alle drei werden verkabelt, unser Drehteam versteckt diverse Kameras. Wir wollen testen: Wer zeigt Zivilcourage, wenn eine junge Frau von zwei Männern gemobbt wird?"

Mehr als "einfach helfen"

Anna Baumert erforscht als Psychologin, wann Menschen gegen Unrecht einschreiten und welche Faktoren ein solches Einschreiten eher fördern oder verhindern. Für Baumert ist klar: Wer einschreitet, erlebt die Situation als eine Verletzung von gesellschaftlichen Normen. Zivilcourage zeigt also nicht nur, wer einer bedrohten oder verletzten Person hilft, sondern auch wer sich gegen abstrakteres Unrecht wehrt.
"Damit ist dieses Phänomen noch einmal abgegrenzt von prosozialem Verhalten, wie Hilfeverhalten, wo nicht die Normverletzung im Vordergrund steht."
Aber welche Normen das sind, die verteidigt werden, steht keinesfalls immer fest. Vielmehr ist entscheidend, an welchen Werten der Einzelne sich orientiert. In Extremfällen können die zivilcouragiert verteidigten Werte gegen demokratische oder humanitäre Ideale verstoßen – und dem Einzelnen dennoch vollkommen legitim erscheinen.

Verschiedene Vorstellungen von "Unrecht"

Zwar benutzen wir den Begriff "Zivilcourage" üblicherweise für das Einschreiten für Dinge, die mehrheitlich positiv besetzt sind. Und aus gesellschaftlicher Perspektive sei das auch wünschenswert, so Anna Baumert.
Aber: "Aus psychologischer Perspektive ist das eigentlich eine offene Frage, weil es natürlich sein kann, dass Menschen, die gegen etwas protestieren, was eigentlich im demokratischen Sinne ist, da kann es trotzdem sein, dass die psychologischen Prozesse ganz ähnlich sind."
Wer gegen eine vermeintliche Impfdiktatur auf die Straße geht, handelt also – psychologisch betrachtet – aus einem ähnlichen Impuls heraus wie jemand, der sich für einen höheren Mindestlohn einsetzt.

Alltagserfahrung prägt Wertvorstellungen

Die Wahrnehmung einer Normverletzung beginnt dabei häufig im individuellen Alltag – das unterstreicht auch Harald Schmidt von der Polizeilichen Präventionsstelle.
"Zivilcourage ist es ja auch schon, eine aufmerksame Nachbarschaft zu leben. Und wenn der Nachbar in den Urlaub geht, für ihn den Briefkasten zu leeren. Und wenn man dann verdächtige Beobachtungen auf dem Grundstück macht, dann die Polizei zu verständigen."
Das Problem dabei: Was die einen als Nachbarschaftshilfe verstehen, klingt für andere nach Denunziantentum. Gegenüber verschiedenen, individuellen Normen können abstraktere, gesellschaftliche Zusammenhänge aus dem Blick geraten.

Anerkannte Normen können widersprüchlich sein

"Es ist richtig, dass es schwierig ist, Zivilcourage von anderen Phänomenen abzugrenzen, sowohl konzeptuell als auch empirisch."
Zum anderen widersprechen sich gesellschaftliche Normen oftmals auch, wie Baumert betont: Auch wer in Einbrüchen eine Regelverletzung sieht, kann gleichzeitig davon überzeugt sein, dass diese nachbarschaftliche Aufmerksamkeit eher eine Form der Überwachung ist. Angst vor gesellschaftlich sanktioniertem Fehlverhalten spielt also ebenfalls eine Rolle bei der Frage: Wer greift ein?
"Ich hasse sowas einfach. Das ist unterste Gürtellinie, wenn man jemand runtermachen tut. – Insgesamt wurden in Phase 1 19 Personen Zeuge des Mobbings. Nur fünf von ihnen zeigten Zivilcourage und halfen."

Unterschiedliche Persönlichkeiten

Psychologisch lässt sich nur schwer untersuchen, wer in welcher Situation eingreift. Für Versuche gelten ethische Richtlinien, nach denen – anders als in Fernseh-Experimenten – die Teilnehmenden wissen müssen, dass ihr Verhalten beobachtet wird. Anna Baumert nähert sich einer Antwort deshalb mit unterschiedlichen Methoden. Dazu gehört auch der Vergleich von Persönlichkeitsmerkmalen zwischen Menschen, die für ihr beherztes Einschreiten ausgezeichnet wurden und solchen, die von sich selbst sagen, sie hätten noch nie eine Zivilcourage-Situation erlebt.
"Ein Befund, der sich mittlerweile recht klar herauskristallisiert, ist, dass Ärger als emotionale Reaktion eine große Rolle zu spielen scheint. Also, Menschen, die auf wahrgenommene Normverletzungen mit Ärger reagieren, sind mit einer höheren Wahrscheinlichkeit die Personen, die eingreifen."
Sich schnell zu ärgern – das ist in unserer Gesellschaft keine positiv besetzte Eigenschaft. Vor allem bei Frauen nicht. Anna Baumert untersucht deshalb aktuell auch, ob die Fähigkeit zur Zivilcourage eventuell von einer bestimmten Sozialisation abhängt. Die Psychologin hält das zumindest für denkbar:
"Gleichzeitig ist noch ein weiteres Level, dass Ärger Frauen oft angekreidet wird. Also, die wütende Feministin, das wird ja oft als Vorwurf formuliert."

Unrecht sehen führt nicht automatisch zum Einschreiten

Der Impuls, sich zu ärgern, hilft allein aber noch wenig. Um sich auch wirklich in einer gefährlichen Situation angemessen zu verhalten ist es wichtig, diese erste emotionale Reaktion in produktive Bahnen lenken zu können, sagt Anna Baumert:
"Wie ist es möglich, dass jemand, die sich ärgert oder der sich ärgert, dann eingreift in einer Art und Weise, die nicht die Situation eskaliert?"
Für Harald Schmidt lautet die wichtigste Regel deshalb: "Hilf, aber bring dich nicht in Gefahr. Das ist etwas, was man ein Stück weit von jeder und jedem verlangen kann. Und dann, im Zeitalter des Handys, die Polizei unter 110 zu verständigen, das ist wirklich auch immer möglich."

Positive Erfahrungen mit Autoritäten fördern Zivilcourage

Und noch etwas wirkt sich positiv auf die Wahrscheinlichkeit aus, dass Menschen sich einmischen: Wer sich darauf verlassen kann, dass ein Einschreiten vom Gesetz gedeckt ist und im Zweifelsfall auch vor Gericht anerkannt wird, traut sich eher.
"Wenn die Grundüberzeugung ist, wir leben in einem Rechtsstaat und dementsprechend würde das auch behandelt, wie ich mich verhalte, dann spielt das eine Rolle im Vergleich zu Kontexten in denen klar ist, zivilcouragiertes Eingreifen ist unerwünscht und wird geahndet."
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