Zeugnisse für eine spätere Generation

Von Karsten Deventer und Otto Langels · 31.01.2007
Willy Cohn, Historiker, Publizist und Pädagoge in Breslau, führt sein Leben lang akribisch Tagesbuch. Allein seine Aufzeichnungen aus den Jahren 1933 bis 1941 umfassen 4600 Seiten. Sie dokumentieren die Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die Nazis.
Reportage Fackelzug Berlin, 30.1.33: "”Wir sind nun herüber gegangen in das Zimmer, in dem sich der neue Reichskanzler Adolf Hitler befindet. Wir stehen am offenen Fenster. Wir können jetzt besonders gut hören, wie die Menge jubelt. Wir lassen noch einen Augenblick die Musik von draußen durchs Fenster hereinschallen.""

"30. Januar 1933. Montag. Am Nachmittag gelegen, ohne eigentlich schlafen zu können. Als ich aufwachte, die Nachricht, dass Hitler Reichskanzler ist. Trübe Zeiten, besonders für uns Juden! Aber man sitzt in der Mausefalle."

Der Breslauer Historiker, Publizist und Pädagoge Willy Cohn führte Zeit seines Lebens akribisch Tagebuch. Allein die Aufzeichnungen von 1933 bis 1941, bis zu seiner Deportation und Ermordung in Litauen, umfassen 4600 Manuskriptseiten in 59 Kladden. Der Studienrat an einem Gymnasium, der zahlreiche wissenschaftliche historische Studien veröffentlichte, notierte Politisches und Privates, staatliche Demütigungen und persönliche Enttäuschungen, Entrechtung der Breslauer Juden und familiäres Glück.

"31. Januar 1933, Breslau, Dienstag. Die Nazis benehmen sich wie die Sieger! Die Straßen sind voll von schwarzen und braunen Uniformen. Der Übergang ist böse. Der Boykott gegen alles Geistige und Jüdische wird immer stärker werden. Aber es heißt eben: die Zähne zusammenbeißen und durch diese Dinge hindurchkommen."

Conrads: "Die Tagebücher selbst hat er ja schon sehr früh zu schreiben begonnen. Im Grunde schon im Kindesalter das erste Mal, dann kontinuierlich ab dem Jahre 1907 bis zu seiner Deportation im Jahre 1941. Dabei sind 112 bedeutende Tagebuchhefte herausgekommen, die erhalten sind. Wenn man die Seitenzahlen hochrechnet, sind das insgesamt etwa 10.000 Seiten Tagebuch. Ich glaube, es gibt in Deutschland nur wenige Tagebuchschreiber mit dieser Ausdauer."

Berichtet der Stuttgarter Historiker Norbert Conrads. Er hat in zehnjähriger, mühevoller Arbeit die Tagebücher Willy Cohns entziffert, abgeschrieben und in zwei Bänden unter dem Titel "Kein Recht, Nirgends" herausgegeben.

Conrads: "Die Tagebücher, mit denen wir es hier zu tun haben, sind natürlich noch besonders dadurch hervorgehoben, dass es sich hier um die Tagebücher eines Breslauer Juden handelt, der als frommer Jude mitten in der Gemeinde hier lebte, mit der Gemeinde lebte und außerdem als Kommunalpolitiker, als Schulmann, als kulturell Interessierter in Breslau, in der Provinz und darüber hinaus sehr aktiv war.
Ich denke, dass man es authentischer sich nicht vorstellen kann. Willy Cohn schreibt spontan. Er schreibt täglich. Er wartet nicht ein großes Ereignis ab, über das er schreibt, sondern er schreibt einfach jeden Tag, was ihn bewegt hat."

"6. Februar 1933. Eine furchtbare Nachricht, mein früherer Schüler Steinfeld ist gestern von SA-Leuten ermordet worden. Ja, wir leben in herrlichen Zeiten in diesem Hitlerdeutschland. Und das ist erst der Anfang."

Louis Cohn: "Das ist eine der Erinnerungen, die ich genau habe: Er saß an seinem Schreibtisch und arbeitete entweder an seinen wissenschaftlichen Arbeiten, oder er schrieb in sein Tagebuch. Jeden Tag. Aber das durfte keiner lesen."

Willy Cohns Sohn Wolfgang, genannt Wölfl. Wolfgang war 1933 18 Jahre alt und stammte, wie sein damals 14-jähriger Bruder Ernst, aus der ersten Ehe des Vaters. Willy Cohn hatte, als Hitler an die Macht kam, außerdem mit seiner zweiten Frau Gertrud, genannt Trudi, zwei Töchter: die achtjährige Ruth und die gerade geborene Susanne. 1938 kam die dritte Tochter Tamara zur Welt.
Direkt nach dem Abitur floh der älteste Sohn allein nach Paris, weil er um sein Leben fürchten musste. Der heute 91-jährige Wolfgang Louis Cohn lebt heute noch in Frankreich.

Louis Cohn: "Ich habe einen Kameraden angezeigt, der SA-Mann war und in die Schule kommen wollte in SA-Uniform, und das hab ich angezeigt, tja, der wollte mich töten. Das war zur ersten Zeit der Nazis 33. In den ersten Monaten töteten die SA-Leute, wie sie wollten. Ein guter Freund von mir wurde am Sonntagmorgen auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz einfach erschossen. Deshalb habe ich sofort Deutschland nach dem Abiturium verlassen."

"18. April 1933. Wölfl ist nun fort. Es war ein sehr schwerer Abschied, aber man möchte nicht aufschreiben und ausdrücken, wie einem Vater in diesem Augenblick zumute ist. Aber man muss jetzt hart sein und sehen, wie man sich durchbeißen kann.
4. Mai 1933. Auf dem Wege las ich an der Anschlagsäule das Plakat über die Verbrennung jüdischer und marxistischer Bücher, die am 10. Mai vor sich gehen soll! Das ist also das nächste Volksfest. Von der Verbrennung der Autoren ist noch nichts gesagt. Von Wölfl kam heute eine ausführliche Karte. Natürlich ist mir sehr bange nach ihm, aber ich bin doch sehr froh, dass er draußen ist. "

Louis Cohn: ""Als Vater war er sehr gut, sehr verständig, sehr einfühlend auch, obwohl ich manchmal große Schwierigkeiten mit ihm hatte. Was ja naturgegeben war, mit 14, 15 Jahren hat man mit seinen Eltern immer Schwierigkeiten. Trotz der vielen Arbeit hat er sich sehr um die Kinder gekümmert. Er wollte wissen, was wir machen, was wir denken, welche Freunde wir haben, usw. Und diese – wie soll ich sagen – wahnsinnige Besessenheit, immer zu arbeiten, und immer neue Bücher schreiben, Untersuchungen machen usw. Das war sicher das Wichtigste für ihn."

"31. August 1933. Die Entlassung vom Ministerium. Wenn man auch damit gerechnet hat, so ist es doch schwarz auf weiß ein Schock.
22. September 1933. Ich sehe doch immer wieder, wie sehr ich mit Deutschland verwurzelt bin und dass ich für dauernd am liebsten hier bleiben möchte, und ich glaube ja auch, dass es in der Praxis darauf hinauslaufen wird, dass man sich darauf einrichtet, hier von seiner Pension zu leben."

Ruth Cohn: "Er konnte ein bisschen dazu verdienen, dass er Vorträge gehalten hat und in den Zeitungen geschrieben hat. Das war schon nicht mehr dasselbe Niveau von Leben wie vorher. Das ganze Leben war nicht so einfach dann mehr."

Erinnert sich Willy Cohns Tochter Ruth. Die 81-Jährige lebt heute in Israel.

"25. Oktober 1933. Wenn ich den Bart mir zwei Tage habe stehen lassen, dann sehe ich schon immer ganz grau aus! Würde ich mir den Bart lang wachsen lassen, dann wäre ich ein alter müder Jude."

Conrads: "Er ging jeden zweiten Tag zum Frisör oder besser zum Barbier, denn er rasierte sich nicht selbst, er ließ sich rasieren. Beim Barbier hatte er im Übrigen die Tageszeitungen. Und mit dem Barbier, mit dem er ein freundschaftliches Verhältnis pflegte, obwohl er ein ‚Arier’ war, mit dem konnte er über alles offen reden."

"31. Dezember 1933. Uns älteren deutschen Juden hat dieses Jahr die Heimat genommen, für die wir gekämpft haben, und wo wir uns nicht als Gäste gefühlt haben! Man wird dieses Jahr 1933 nicht vergessen. Wir werden auch heute Abend an keiner Sylvesterfeier teilnehmen.
11. September 1934. Die Feiertage sind nun zu Ende. Wir haben sie in gewohnter Weise verlebt! Ich war bei allen vier Gottesdiensten in der Synagoge und habe im Gebet Aufrichtung und Trost gefunden."

Conrads: "Willy Cohn war ein ganz überzeugter Jude. Es gab eine liberale, assimilatorische Gemeinde, und es gab eine orthodoxe Gemeinde. Und Willy Cohn gehörte natürlich zur orthodoxen, ja wenn man so will, zur zionistischen Richtung der orthodoxen, und war ein ganz frommer Jude, der alle Rituale und alle Feste genau einhielt."

"9. November 1934. Wir haben vom Verein Jüdische Jugendhilfe die Nachricht bekommen, dass Ernsts Gruppe voraussichtlich im Dezember abreisen wird. Wenn auch der Trennungsschmerz kommt, so weiß ich doch, dass der Junge in Freiheit kommt und eine Zukunft vor sich hat, und man darf als Vater in keiner Weise egoistisch sein."

Ernst, der jüngere Sohn Willy Cohns, bricht im März 1935 nach Palästina auf, wo der 16-Jährige in einem Kibbuz Zuflucht findet.

"14. Mai 1935. Heute Vormittag kam mit der Morgenpost zu meiner Freude ein Brief von Ernst, in dem er ganz erfüllt von seiner Arbeit berichtet. Ich bin glücklich, dass der Junge nun schon mit Leib und Seele in Erez Israel wurzelt."
Ruth Cohn: "Er hat eine Schizophrenia gehabt zwischen dem Judentum und zwischen dem Deutschland. Das ist sehr schwer zu erklären. Er hat allen Leuten gesagt, sie müssen gehen, nur nicht sich selbst. Und er hat zu meiner Mutter gesagt: Nimm die Kinder und geh alleine. Aber sie hat es nicht gemacht. Er hat das mehr als einmal gesagt."

"14. September 1935. Ruth erzählt jetzt häufig, wie sie auf dem Wege zum Sportplatz angepöbelt wird. Das sind die Volksgenossen, unter denen sie aufwachsen muss. Wenn ich es könnte, würde ich das Kind jetzt schon zur weiteren Erziehung nach Erez Israel schicken.
16. September 1935. Inzwischen habe ich die neuen Gesetze gelesen; es sind im wesentlichen Dinge, die man schon vorher gewusst hat: Verbot der Mischehe, kein arisches Dienstmädchen unter 45 Jahren. Reichsbürgerrecht. Juden bloß Staatsangehörige. Wenn man die nationalsozialistische Bewegung mit Aufmerksamkeit verfolgt hat, so musste man diese Dinge kommen sehen.
14. März 1937. Paris. Um dreiviertel sieben sind wir nach angenehmer Fahrt gut am Nordbahnhof angekommen und haben Wölfl gesund und vergnügt am Ausgang stehen sehen. Ein solches Glücksgefühl kann man schwer beschreiben."

Im Frühjahr 1937 besuchen Willy Cohn und seine Ehefrau Gertrud ihre beiden Söhne Wölfl und Ernst in Paris beziehungsweise Palästina. Die Reise dient auch dazu, Möglichkeiten der eigenen Auswanderung zu erkunden.

Conrads: "Willy Cohn hätte zu bestimmten Zeiten sicher emigrieren können. Aber zunächst einmal gab es ein Handicap für Ihn: Wenn er emigrieren wollte, dann bitte schön nur nach Palästina. Etwas anderes kam für ihn nicht in Frage. Das wäre Verrat an der jüdischen Sache gewesen. Und deswegen reist er ja auch 1937 nach Palästina und besucht dort seinen Sohn Ernst, der bereits seit zwei Jahren in Palästina lebt. Und als er dort hinkommt, gehen ihm die Augen auf. Er ist zutiefst emotional aufgewühlt, zu Tränen gerührt. Die ganze Fahrt über ist er schon in heißer Erwartung auf Israel. Er habe das Jerusalem seines Herzens gefunden, schreibt er an einer Stelle. Und dann taucht die Frage auf: Ja, wo kann ich denn hier Fuß fassen."

"28. April 1937. Haifa. Der letzte Tag in Erez Israel hebt an. Es ist ein wehmütiges Gefühl für einen Menschen, der gern hier bleiben möchte. Aber das hilft nun nichts. Ich bin dankbar für die Wochen, die ich hier verleben durfte. Sie gehören zu den erlebnisreichsten meines Lebens."

Conrads: "Er hat eine Art Sicherheitsdenken, er möchte kein Risiko eingehen. Also bitte, wenn er hier sich schon niederlässt, dann sollte wenigstens Deutschland seine Pension nach Israel oder nach Palästina überweisen, damit er etwas hat, wovon er leben kann. Und vielleicht könnte er in der Schule arbeiten. Aber überall sitzen schon die anderen Lehrer, die vor ihm nach Palästina gegangen sind."

"5. September 1937. Heute geht das Jahr 5697 zu Ende und das Jahr 5698 beginnt, dessen hebräische Bezeichnung nach der Abkürzung ‚Mord’ bedeutet, eine schlimme Bedeutung."

Im Frühjahr 1938 reist Willy Cohn in Begleitung der sechsjährigen Tochter Susanne in die Schweiz, um seinen Sohn Wolfgang zu treffen. Vater und Sohn sehen sich ein letztes Mal.

Louis Cohn: "Zweimal habe ich ihn in der Schweiz getroffen, das letzte Mal 1938 kurz nach dem Anschluss von Österreich, und das hat mich außerordentlich frappiert, damals gingen wir spazieren, und bei jedem Schritt drehte er den Kopf, um nachzusehen, ob ihm niemand folgte. So schlimm war das schon."

"10. November 1938. Heute weiß man nicht, wo zuerst mit dem Aufschreiben anfangen. In der Nacht ist es zu schweren Ausschreitungen gekommen! Der Milchhändler sagte früh meiner Frau, dass die Neue Synagoge angezündet worden sei und die Geschäfte demoliert worden sind. Falls ich auch verhaftet werde, so habe ich Trudi die Sorge für die Kinder und für die Arbeiten ans Herz gelegt. Man möchte wünschen, dass sie wenigstens durch diese Zeiten kommen. Ich selbst habe ja mein Leben gelebt! Ruth tut mir auch sehr leid, sie erlebt das alles mit Bewusstsein mit.
11. November 1938. Heute ist Ruth 14 Jahre alt; wir wollten ihr einen schöneren Geburtstag bereiten; nun ist das nicht möglich; sie hat uns wirklich in diesen 14 Jahren stets Freude bereitet und ist uns immer eine Stütze gewesen. Die Kinder müssen heute viel Trauriges in sich aufnehmen, was sie ihr Leben lang quälen wird. Das Schicksal ist stärker als die Liebe der Eltern!"

Ruth Cohn: "Das war nicht einfach zuhause in den letzten Jahren. Deshalb wollte ich weg. Ich konnte das nicht aushalten, diese Gespräche, das Gestreit. Wenn meine Mutter nach Berlin gefahren ist, das hat er überhaupt nicht gern gehabt."

"11. Dezember 1938. Ich bin mit Ruth auf dem Friedhof Lohestraße gewesen, wo sie noch niemals war, damit sie einmal wenigstens an der Stelle gewesen ist, wo ihre Ahnen liegen. Ich erzählte ihr von der Wiederkehr in unserem Judenschicksal. Unterwegs sagte ich ihr, dass sie dem Geiste unseres Hauses immer treu bleiben und an sich arbeiten solle. Nun habe ich schon zum dritten Male in dieser Weise mit einem Kinde gesprochen, das im Begriff ist, sich aus unserm Kreise loszulösen. Sehr schwer ist das alles.
16. September 1939. In einer Viertelstunde geht Ruths Zug. Trudi ist mit Susannchen auf die Bahn mitgegangen; ich bin zu Hause geblieben, auch um die Kleine nicht allein zu lassen. In einem solchen Augenblick kann man schwer sagen, was man empfindet; es ist, als ob alles in einem erstarrt wäre."

Ruth Cohn: "Mein Vater hat mich nicht zur Eisenbahn begleitet. Er sagt, er kann das nicht. Nur meine Mutter mit der größeren Tochter, sie haben mich begleitet. Es hatte keiner denken können, dass man sich nie mehr wieder sehen würde."

"16. September 1939. Während ich diese Zeile schreibe, wird sie nun schon im Zuge sitzen, der in einer Minute Breslau verlässt; dann ist ihre Jugend in ihrer Heimat abgeschlossen. Aber ich denke, dass sie an ihre Jugendzeit eine schöne Erinnerung ins Leben mitnehmen wird. Wir haben ja immer für die Kinder gelebt."

Ruth ist noch nicht 15 Jahre alt, als die Eltern sie im September 1939 nach Dänemark schicken. Unter schwierigen Umständen gelangt sie ein Jahr später über Schweden, Finnland, Russland, das schwarze Meer und die Türkei schließlich nach Palästina.
Eine Woche nach Ruths Abreise muss Willy Cohn schon wieder Abschied nehmen. Seine Mutter stirbt im Alter von 79 Jahren. Eine Beerdigung in würdigem Rahmen ist nicht mehr möglich.

"25. September 1939. Als Jude muss man jetzt seine Toten fast heimlich heraustragen! Aufsehen darf nicht gemacht werden."

Conrads: "Willy Cohn ging es gesundheitlich nicht gut. Er konnte dem Sarg persönlich nicht folgen. Er hat daher versucht, mit der Taxe dem Leichenwagen hinterherfahren zu dürfen. Es ist ihm von der Behörde verboten worden. Juden durften kein Taxi mehr benutzen. Also hat er schwer darunter getragen, dass er nicht mal seine Mutter auf ihrem letzten Weg begleiten durfte. Er hat sie wohl hier dann am Friedhof erwartet und hat sie dann hier zur Ruhe geleitet."

"Oktober 1939. Ich bin mit Susannchen am Bahndamm entlang gegangen, durch die neuen Anlagen. Susannchen hat immer Angst, dass auf einer Bank steht, für Juden verboten. Ich bemühe mich immer, ihr den Komplex auszureden."

Conrads: "Es gab eine Ruhebank im Grab, dass man dort verweilen konnte, gerade wenn man die Gebete sprach, Kaddisch sprach. Und Willy Cohn hat hier oft gesessen, und er hat dann mit Verbitterung registriert, das sei wohl beinahe die letzte Bank in Breslau, auf der nicht die Inschrift eingepresst ist: Für Juden verboten. Als er 1938 aus Sorge, er könnte verhaftet werden, weite Spaziergänge unternimmt, kann er sich nirgendwo hinsetzen, und ist also total erschöpft und verausgabt, weil überall auf den Bänken steht: Für Juden verboten!

""10. September 1939. Am gestrigen Nachmittag mit Trudi spazieren. Aber es war kein reiner Genuss. Die Stimmung ist eine sehr antisemitische geworden. Ein Weib rief uns nach ‚Judenpack’. Ich rechne sehr mit einem weiteren Ansteigen der antisemitischen Stimmung in dem Maße, wie die Kriegsnot das Volk treffen wird und die Verluste zunehmen. Für diesen Krieg macht man das Judentum durchaus verantwortlich. Man wird sich auf allerhand gefasst machen müssen. Wir Juden haben übrigens von heute Abend 20 Uhr Ausgehverbot.
21. Januar 1940. Ich hatte dann wieder mit Trudi eine sehr schwere Aussprache, die mich auf das Furchtbarste mitgenommen hat. An solchen Tagen wünschte ich mir, wie so oft, nicht mehr aufwachen zu müssen. Diese furchtbaren Aussprachen wiederholen sich jetzt in immer kleineren Abständen und nehmen mir den letzten Rest von Lebenskraft.

Conrads: ""Es ist am Ende eine ganz tragische Situation, bei der beide miteinander sprachlos werden, das muss man sagen. Sicherlich sieht es um die Ehe am Ende auch nicht mehr gut aus, weil dieser zermürbende Kampf um die bestmögliche Auswanderung, und um dem Unheil zu entkommen, das immer mehr sich hier ereignet, weil sie einfach alle Verhältnisse hier zerstörte.
Und er glaubt, er würde es vielleicht körperlich auch nicht mehr durchstehen. Er sagt dann: Ja, dann soll doch meine Frau die Kinder nehmen und auswandern, und ich bleibe dann hier bei meinen Ahnen. Aber das will die Frau natürlich nicht. Seine Frau sagt: Ohne dich gehe ich nicht. Und so blockieren sie sich alle gegenseitig. Es ist eine Patt-Situation, die ganz tragisch ist und so in diese Katastrophe führt."

Ruth Cohn: "Allen hat er gesagt, sie sollen rausgehen, und meine Mutter hat sich die Beine ausgerissen für die Zertifikate und ist nach Berlin gefahren. Er sagt, man muss gehen, aber er ist nicht gegangen – wegen den Büchern. Die Bücher waren das wichtigste in seinem Leben, fast das wichtigste. Er hat eine riesige Bibliothek gehabt, und als die Leute ausgewandert sind, haben sie ihm mehr Bücher gebracht. Das war sehr wichtig für ihn."

Louis Cohn: "Eine Chance gab es sicher, denn bis 1941 haben Juden ja noch ausreisen können. Aber er hat ja auch kein Geld gehabt, außer der Pension. Das war auch klar. Und wenn man kein Geld hatte, war man verloren."

Conrads: "Es ist wirklich unbegreiflich, dass er so vielen Leuten Hilfestellung leistet, sie berät, wie sie Breslau verlassen können, vor allem Richtung Palästina, und selbst den günstigen Moment verpasst, bis zu dem es möglich gewesen wäre. Willy Cohn hatte wohl die Hoffnung, dass man das vielleicht aussitzen kann. Irgendwann wird sich das zu Tode laufen, und dann wird man es überlebt haben, und dann kommen wieder andere Zeiten. Ich glaube, diese Hoffnungen hatte er auch. Und dann war es seine - fatale, muss man beinahe sagen - Liebe zu Deutschland, auch Liebe zu Schlesien. Die Liebe zur deutschen Literatur. Es gibt da ganz erschütternde Wendungen in seinen Tagebüchern, wie nahe ihm die deutsche Literatur ist, wie nahe ihm Goethe ist, wie nahe ihm Heine, und Herder sind, dass er ohne sie gar nicht leben könnte. Und all das zu verlassen, in eine andere Gegend zu gehen und möglicherweise in einer anderen Sprache weiterleben zu müssen, das wäre für ihn ganz unvorstellbar gewesen."

"13. Juli 1941. Gegen Abend kam dann noch Fräulein Silberstein mit einer so genannten Gräuelnachricht. Beim Gauleiter sollen die Pläne zur Evakuierung der Breslauer Juden nach dem Generalgouvernement fertig liegen. Man kann natürlich nicht wissen, was an diesen Dingen wahr ist. Es ist eben eine katastrophale Zeit und es war immer zu erwarten, dass in dem Maße, wie die Deutschen Schläge erleiden, sie dies an uns auslassen würden.
21. August 1941. Zwischendurch kam ein Herr mit dem goldenen Parteiabzeichen, um sich die Wohnung anzusehen; es war ein ordentlicher Mann und er wird sie nicht nehmen. Aber wenn eben einmal ein anderer kommt, dann bin ich die Wohnung los."

Am 19. September wird das Tragen des Gelben Sterns für alle Juden zur Pflicht.

"20. September 1941. Im Schmuck des Judensterns in die Storch-Synagoge gegangen; ich wollte an diesem Tage unbedingt gehen, um mir nicht nachsagen zu lassen, dass ich wegen Feigheit gefehlt hätte; ich bin den ganzen Weg gelaufen, und das Publikum hat sich durchaus tadellos benommen; ich bin in keiner Weise belästigt worden; man hatte eher den Eindruck, dass es den Leuten peinlich ist."

Conrads: "Es ist ja so – und man hält es ja nicht für möglich – dass die Deportationen nach einem ganz geregelten bürokratischen Prozess verliefen. Die zur Deportation Vorgesehenen bekamen 14 Tage vorher per Post eine Mitteilung, dass sie am soundsovielten ihre Wohnung zu verlassen hätten."

"15. November 1941. Die Post brachte für uns keine schöne Nachricht. Wir müssen voraussichtlich am 30.11. die Wohnung räumen und werden voraussichtlich verschickt werden. Wohin und so weiter weiß man noch nicht. In dieser Jahreszeit, wo eine böse Kälte eingesetzt hat, ist das doppelt grausam. Aber das muss nun alles bewältigt werden, und man muss versuchen, im Interesse der Kinder durchzuhalten. Goebbels soll eine Rundfunkrede gehalten haben, wer mit einem Juden spricht, wird als Jude behandelt. Wie müssen die Dinge in Wirklichkeit stehen!"

Conrads: "Er hatte nicht nur schon seit einem dreiviertel Jahr einen Packen Koffer stehen für die Deportation, falls sie überraschend käme, sondern er hatte gerade drei Wochen zuvor Verwandtenbesuch aus Berlin gehabt. Also hat Willy Cohn mit diesen Herrschaften verabredet, dass er ihr im Falle eines Falles seine Tagebücher und was er sonst bewahrenswert erachtete zusenden dürfe. Ob es ein Paket war oder zwei – ich weiß es nicht. Ob es auf den Postweg ging oder er es zunächst Verwandten in die Hand drückte, auch das weiß ich nicht. Auf jeden Fall sind die Pakete mit den Tagebüchern und noch manche Bruchstücke anderer Manuskripte nach Berlin verschickt worden. und haben dort allen Katastrophen zum Trotz, trotz der Zerstörung des Hauses dort, auch dort den Krieg glücklich überdauert."
Am 21. November 1941, morgens zwischen 5 und 6 Uhr, holt die Gestapo in Breslau über 1000 Juden aus ihren Betten, darunter auch die Cohns. Sie werden auf Lastwagen verfrachtet und zu einer Sammelstelle gebracht. Vier Tage später verlässt ihr Zug Breslau in Richtung Kaunas, Litauen. Dort werden Willy Cohn, seine Frau und die zwei kleinen Mädchen, zusammen mit allen anderen Juden, in der Hinrichtungsstätte Fort IX von einem Polizeibataillon mit Maschinengewehren niedergemäht.
Willy Cohn ist 53 Jahre alt, seine Frau Trudi 41, die Töchter Susanne und Tamara neun und drei Jahre.
Sein ältester Sohn Wolfgang Louis Cohn dient zu der Zeit in der französischen Fremdenlegion und ist in einem Lager in der algerischen Sahara stationiert.

Louis Cohn: "Ich hab auch an Vater gedacht, sehr viel an Vater gedacht. Einmal, soweit ich mich erinnern kann, ja das war 41, da bin ich eine Nacht aufgeschreckt, und der Vater hatte mich gerufen. Da hatte ich geträumt, und das war die Nacht, wo der Vater erschossen wurde. Das weiß ich jetzt. Wahrscheinlich.
Dadurch dass ich das Tagebuch jetzt wieder lese, kommt mir das alles noch näher, noch näher. Aber es ist gut, dass es erhalten ist, gut, dass es der Welt überliefert ist."

"Wenn dieses Buch die Zeiten überdauern sollte, wird es vielleicht einmal späteren Generationen sagen, was ein jüdischer Mensch in dieser Zeit gelebt und gelitten hat. Alles in Aufruhr!"

Louis Cohn: "Mich bewegt das immer noch furchtbar. Und jetzt, wo ich das Tagebuch des Vaters wieder lese, und zum ersten Male lese schwarz auf weiß gedruckt, da kommt einen das Grausen. Ich bin jetzt gerade im Tagebuch Oktober 1941, also einen Monat vor der Deportation – das ist schwer zu lesen."


Die Tagebuchzitate stammen aus:
Willy Cohn: Kein Recht, nirgends
Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933 - 1941
Hrsg. von Norbert Conrads
Böhlau Verlag Köln/Weimar/Wien 2006
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