Zeruya Shalev: "Schicksal"

Wunden, die sich immer wieder neu entzünden

06:31 Minuten
Buchcover "Schicksal" von Zeruya Shalev
In "Schicksal" erzählt Zeruya Shalev von den dunklen Seiten der israelischen Geschichte. © Deutschlandradio / Berlin Verlag
Von Carsten Hueck · 03.06.2021
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Zeruya Shalev hat mit "Schicksal" einen desillusionierenden und schmerzensreichen Roman geschrieben. Mit Israel und seiner Geschichte geht sie darin so hart ins Gericht wie nie zuvor: ein Versuch, rückwärts schauend die Zukunft zu wagen.
Von Kierkegaard stammt die Feststellung, das Leben sei nur in der Rückschau zu verstehen, aber vorwärts zu leben. Das heißt, Gegenwart ist immer ein Wagnis, etwas Unbekanntes. Ein Vorangehen ohne Klarheit, oft genug ohne Verständnis für das, was einem zustößt oder was man tut.
Stellt man den Satz des Rabbi Nachman von Bratzlaw dazu, den Zeruya Shalev in ihrem neuen Roman zitiert, "Die Enden sind immer in unserer Hand. Lösen müssen wir die Dinge selbst", wird schnell klar, vor welchem Dilemma ihre Figuren stehen: Sie müssen, wenn sie leben wollen, handeln, doch können sie die Folgen ihres Tuns nicht verstehen.
"Schicksal", der deutsche Titel des Romans, der in Israel noch nicht erschienen ist, verweist auf die tragische Dimension, in der die Autorin hier zwei Leben miteinander verknüpft: Das der 90-jährigen Rachel, die 1944 als 15-Jährige ihr Elternhaus verlassen hatte, um Anschläge auf britische Soldaten im damaligen Mandatsgebiet Palästina zu verüben. Und das von Atara, einer knapp 50-jährigen Architektin, die sich im Israel der Gegenwart auf die Rekonstruktion alter Gebäude spezialisiert hat.

Gereiztheit, Missgunst, Enttäuschung

Rekonstruieren will Atara auch die Geschichte ihres verstorbenen Vaters. Er war Kampfgefährte und erster Ehemann Rachels. Nie hatte er von seiner Zeit im Untergrund erzählt, nie von seiner großen Liebe Rachel, die er ganz plötzlich verließ, nachdem er zufällig – oder schicksalhaft? – am Tod einer anderen jungen Frau schuldig geworden war.
Zeruya Shalev spannt über die Geschichten ihrer Protagonistinnen einen Bogen vom vorstaatlichen Israel bis heute. Gab es damals eine Vision, Mut, Ideale und Kraft, um den Staat zu errichten, so scheint er heute von Rissen durchzogen, disparat und desorientiert. Hektik prägt den Alltag, Gereiztheit, Missgunst, Enttäuschung - Narben des Schweigens und sich immer neu entzündende Wunden machen den Menschen das Leben schwer.
Am heftigsten offenbart sich der Stress in den Familien. In den Häusern von Jaffa oder Haifa, in den Siedlungen hinter Jerusalem rumoren die ungelösten Konflikte zwischen Generationen, Eltern und Kindern, Ehepartnern.

Glaube als Zuflucht

Mit schmerzhafter Klarheit artikulieren sich in diesem Roman die Stimmen derer, die bei aller Unterschiedlichkeit als Schicksalsgemeinschaft verbunden sind. Dialoge, Selbstgespräche, Klagegesänge – Shalev gestaltet sie mit hohem Ton und tiefem Verständnis für seelische Abgründe, eindringlich und suggestiv.
Die Schriftstellerin Zeruya Shalev im Studio von Deutschlandfunk Kultur
Die Schriftstellerin Zeruya Shalev © Deutschlandradio / Matthias Dreier
Dieser Roman ist desillusionierend und schmerzensreich. Stärker als in ihren vorherigen Büchern geht die Autorin mit Israel und seiner Geschichte ins Gericht. Doch es gibt auch zärtliche Momente, sinnliche Freude an der Haut des anderen, einem Blick, dem Licht, das in ein Zimmer fällt. Und es gibt den Glauben: Sanftheit und Gelassenheit derjenigen, die in Gott Zuflucht vor den Zumutungen des Lebens gefunden haben.

Demontierte Mutterbilder

Acht Jahre lang hat Zeruya Shalev Bibelwissenschaften studiert. Immer schon hat sie verstanden, aus dem reichen Quell religiöser Schriften für ihre ganz heutige Literatur zu schöpfen. In "Schicksal" geschieht das stärker noch als zuvor. Es bereichert die Sprache des Romans, feinfühlig und kenntnisreich von Anne Birkenhauer ins Deutsche übertragen, und erzeugt in der Verbindung von Poesie, Spiritualität und Psychoanalyse einen unwiderstehlichen Sog.
Shalevs Romane sind keine Gerichtsverhandlungen. Alle ihre Figuren kommen zu ihrem Recht. Dass hier aber Mutterbilder demontiert werden, die vorstaatliche jüdische Terrororganisation Lechi rehabilitiert wird und zwei Männer, einer als ehemaliger Elitesoldat, zum Glauben der Väter zurückfinden, ist bemerkenswert. Und vielleicht der Versuch, rückwärts schauend, Zukunft zu wagen.

Zeruya Shalev: "Schicksal"
Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
Berlin Verlag, Berlin 2021
413 Seiten, 24 Euro

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