Zerlöchertes Raum-Zeit-Gefühl

Vorgestellt von Maike Albath · 27.04.2005
Die deutsche Austauschstudentin Celeste hat einen Trick: Jedes Mal, wenn ihr die Dinge über den Kopf wachsen und sie den Überblick zu verlieren droht, bildet sie innerlich eine Zahlenfolge aus fünfzehn Ziffern. Dabei darf sie weder von eins bis fünfzehn zählen, noch eine Zahl doppelt nennen. Ähnlich kompliziert wie diese Beruhigungsmethode gestaltet sich die Geschichte, in die sie sich verwickelt.
Celestes Stipendium für die USA ist fast abgelaufen, als sie von San Francisco aus gemeinsam mit ihrem Nachbarn Christopher eine Reise in die Wüste unternimmt. An einer heißen Quelle werden sie von mysteriösen Insekten angegriffen. Christopher bricht zusammen, Celeste rennt davon und fällt in Ohnmacht. Wenig später beugt sich ihr Begleiter über sie und führt sie zurück zum Auto. Auf der Rückfahrt spürt Celeste eine starke Anziehung: "Es war ein Gefühl, als hätte sich Christopher von einem bestimmten Moment an um mich gelegt".

Aber Christopher geht ihr in den nächsten Tagen aus dem Weg, und plötzlich ist er verschwunden. Beunruhigt sucht Celeste seine Wohnung auf, findet die Tür unverschlossen und übernachtet dort. Nun überstürzen sich die Ereignisse: ein Mann ruft an, gibt sich als Christophers Bruder aus und bittet um ihre Hilfe bei einem undurchsichtigen Vorhaben, aus ihrem Apartment werden alle persönlichen Besitztümer entfernt, in ihrem Kühlschrank stößt sie auf ein Gehirn, der Verwalter des Gebäudes hat angeblich einen Sohn, der in Christophers Gesellschaft geraten ist und seitdem eine merkwürdige Verwandlung durchgemacht hat.

Als Celeste wieder das Bewusstsein verliert, hilft ihr eine Frau, die Ähnlichkeit mit ihrer deutschen Schwester hat und in Gesellschaft eines kleinen Mädchens ist. Schließlich beginnt Celeste, dubiose Medikamente einzunehmen, erfährt von Christophers Krankheit und gerät in immer rätselhaftere Situationen. Der Roman endet mit zwei Briefen, die beide mit "Deine Schwester" unterschrieben sind und von vergeblichen Nachforschungen, einer ergebnislosen Reise nach San Francisco und einer Schwangerschaft berichten.

Leander Scholz hat einen biotechnologischen Thriller geschrieben und gibt der Frage nach der Ethik unseres Menschenbildes eine kuriose Wendung. Der 1969 in Aachen geborene Schriftsteller installiert Celeste als Ich-Erzählerin, wodurch er den Leser in die Erfahrung der totalen Verunsicherung mit einbezieht. Die junge Frau bemüht sich, den Begebenheiten Kohärenz zu verleihen, führt uns mit ihren Erklärungen aber immer wieder auf die falsche Fährte.

Was ist das für eine Wirklichkeit, in der sie sich befindet? Wo liegt die Grenze zwischen Wahrnehmung und Projektion? Sind ihre Erklärungen vielleicht nur hilflose Rationalisierungen? Inwieweit ist sie längst Opfer des Experiments geworden? Könnte sie sich der Manipulation entziehen? Was passiert mit ihrem Gehirn?

Durch die Zerlöcherung der Koordinaten von Raum und Zeit und den progressiven Verlust einer nachvollziehbaren Wahrnehmung stellt Leander Scholz die Definition dessen, was ein Mensch ist, zur Debatte. Freie Willensentscheidungen scheint es schon längst nicht mehr zu geben, die Wirklichkeit ist eine Chimäre, und die Körpergrenzen sind für die futuristisch anmutenden medizinischen Manipulationsverfahren unwesentlich.

Der Autor sondiert thematisch ein neues Terrain. Das ist einerseits sehr mutig, andererseits aber ein Wagnis. So interessant sich der Versuch ausnimmt und so spannend sich die eingewobenen Fragestellungen darstellen, so wenig ist der Roman geglückt.

Während im ersten Drittel der Thriller-Effekt anhält, ein klassisches Polanski-Gefühl nach dem Muster von Frantic den Leser bei der Stange hält und die sachliche Sprache eine abkühlende Wirkung bewahrt, nutzt sich das Prinzip der fortwährenden Übersteigerung spätestens nach der sechsten unerklärlichen Begebenheit immer mehr ab. Man wird der fremdbestimmten Heldin überdrüssig, die Psyche eines willenlosen Spielballs hat nur begrenzte Faszinationskraft, und die Zeugenschaft verliert an Brisanz.

Gar zu gern hätte man Näheres über die Motivation der Täter erfahren oder sich in die Gesellschaft eines fest umrissenen Bösewichts begeben. Ich denke nicht, also bin ich nicht – irgendwie waren die Ich-verhafteten Helden doch interessanter.

Leander Scholz: Fünfzehn falsche Sekunden
Roman. Hanser Verlag
264 Seiten. 19,90 €