Zentralgestirn der klassischen Moderne in Deutschland

Vorgestellt von Tillmann Krause · 09.04.2006
Im Berliner Max-Liebermann-Haus ist derzeit eine Ausstellung über Paul Cassirer zu sehen. Die Ausstellung zeigt, wie der Kunsthändler und Verleger als leidenschaftlicher Kämpfer für die Moderne das kulturelle Berlin im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts prägte. Zu dieser Ausstellung erschien auch der Sammelband "Ein Fest der Künste".
Paul Cassirer hat, wie sonst nur noch Harry Graf Kessler am Kunstmuseum Weimar und Hugo von Tschudi an der Nationalgalerie zu Berlin, dafür gesorgt, dass die moderne Malerei, will sagen vor allem die französischen Impressionisten, in Deutschland heimisch wurden.

Er hat die Berliner Sezessionisten unterstützt und gefördert wie kein anderer. Er war international vernetzt – und das in einer Zeit, die national, ja nationalistisch dachte. Aber er war von einem geradezu rührenden Idealismus in Sachen Kunst erfüllt und hielt den bornierten Chauvinisten um 1910 entgegen:

"Ein Menzel steht Millet nicht im Wege. Courbet bekämpft keineswegs Marées. Wahre Künstler sind nie Feinde."

Seine Zeitgenossen wussten noch, was er für die Kunst und die Künstler getan hat. Und so wurde seine Bestattung auf dem Friedhof Heerstraße, wo er im Januar 1926 in ein Prunkgrab von Georg Kolbe gelegt wurde, zu einem staatsaktähnlichen Ereignis:

"Die würdig-einfache Feier erhielt ihren Auftakt durch das ergreifende Spiel des Lambinon-Quartetts. Sodann trat Max Liebermann an den Sarg. In wundervoller Rede formte der nunmehr 79-jährige Meister ein Bild Cassirers, des merkwürdigen, an Erfolgen und Widersprüchen seltsam reichen Lebens dieses immer Vorwärtsstürmenden, immer Unbefriedigten, das ein Kampf mit dem Schicksal gewesen sei, wie es die alte Tragödie als Kern birgt, und darum auch habe enden müssen wie diese Schicksalsdramen, mit der Katharsis eines zugleich furchtbaren und verklärenden Ausgangs."

So stand es in der "Vossischen Zeitung". Was nicht in diesem Blatt stand, waren die Umstände von Cassirers Tod. Seine Frau, die legendäre Schauspielerin Tilla Durieux, hatte die Scheidung eingereicht, weil sie die vielen Affären und den unbezähmbaren Alkoholkonsum ihres Gatten nicht mehr aushielt. Als die beiden bei ihrem Anwalt die Scheidungsurkunde unterzeichnen wollten, murmelte Cassirer plötzlich eine Entschuldigung und verzog sich ins Nebenzimmer. Kurz darauf ertönte ein Schuss. Cassirer hatte den Revolver auf sein Herz gerichtet. "Nun bleibst du aber bei mir!", konnte er noch sagen – und verschied.

Bei ihm blieb die Diva nicht. Aber in ihren Erinnerungen "Meine ersten neunzig Jahre", die 1970 ein Bestseller wurden, hat sie ein liebevolles Bild ihres exzentrischen Gatten gezeichnet, der sie in die Welt der Künste einführte und dafür sorgte, dass die großen Maler der Epoche sie porträtierten. Lovis Corinth malte sie als spanische Tänzerin. Franz von Stuck als geheimnisvolle Circe. Max Oppenheimer als modern Zerrissene. Und Auguste Renoir als heiter-gelassene Grande Dame. Als das Paar nach seiner Heirat am 24. Juni 1910 eine elegante Wohnung in der Margarethenstraße, Ecke Matthäikirchplatz, auf dem Gelände des heutigen Kulturforums, bezog, sah es dort, den Memoiren Tilla Durieux’s zufolge so aus:

"Alte, hohe, dunkle Mahagonistühle aus Holland, ein großer, runder Tisch, auf dem Barlachs Plastik 'Die singenden Frauen’ stand, bildeten mit dem Steinway-Flügel die Einrichtung. Das Speisezimmer mit lichtgrünen Wänden wurde mit den herrlichsten Bildern der Impressionisten geschmückt: 'Der Reiter und die Reiterin’ von Manet. 'Die rote Frau und der Mann mit dem schiefen Hut’ von Cézanne, das große Bild 'Mole mit Leuchtturm’ von Manet, 'Zwei Kinder am Klavier’ von Renoir hoben sich prächtig von dem hellen Grün ab. Mein Zimmer mit der großen Bibliothek, die bis zur halben Höhe die Wände bekleidete, enthielt unter anderem die Kunstbücher, die Paul Cassirer als Nachschlagewerke brauchte, und war über den Bücherregalen mit einer feurig-blauen Tapete beklebt."

Merkwürdigerweise vergisst die Durieux, die Bücher zu erwähnen, die Cassirer selbst verlegt hatte und mit denen er ebenfalls nicht nur ein sicheres Qualitätsbewusstsein an den Tag legte, sondern auch demonstrierte, wie sehr er allem Neuen den Boden zu bereiten geneigt war. Cassirer produzierte beispielsweise die erste Werkausgabe der Dichterin Else Lasker-Schüler, die er für die größte lyrische Begabung des 20. Jahrhunderts hielt. Aber er druckte auch die Sozialisten Karl Kautsky und Gustav Landauer. Er entdeckte den Marxisten Georg Lukács und gab dem Philosophen Ernst Bloch eine erste Chance.

Diese verlegerische Tätigkeit steht im Mittelpunkt einer Ausstellung mit rund 300 ungemein reizvollen Exponaten, die gegenwärtig noch bis zum 21. Mai im Berliner Max-Liebermann-Haus am Pariser Platz zu sehen ist. Die ganze Bandbreite von Cassirers Interessen kann dort nachvollzogen werden. Zu dieser Ausstellung erschien auch der Sammelband "Ein Fest der Künste", der, in Ermangelung einer Gesamtdarstellung von Leben und Werk Paul Cassirers, einstweilen das Beste, Informativste und Umfangreichste ist, was man gegenwärtig über dieses Zentralgestirn der klassischen Moderne in Deutschland sagen kann. Die Beiträger widmen nahezu jedem Künstler, mit dem Cassirer Berührung hatte, ein eigenes Kapitel, das die Beziehung zwischen so unterschiedlichen Gestalten wie Max Liebermann und Max Slevogt, Ernst Barlach und Max Beckmann, Rudolf Großmann und Oskar Kokoschka, Max Kolbe und August Gaul zu ihrem Galeristen unter die Lupe nimmt. Auf diese Weise nähern sich die Autoren strahlenförmig und kaleidoskopartig einer der faszinierendsten Figuren des alten Berlin, von deren Nimbus die Stadt heute noch zehrt, auch wenn sie selbst vielleicht gar nicht richtig einzuschätzen weiß, was sie ihm alles verdankt.

Rahel E. Feilchenfeldt / Thomas Raff: Paul Cassierer – Ein Fest der Künste - Der Kunsthändler als Verleger
C.H. Beck, München 2006